Leseprobe
Inhalt
1. EINLEITUNG
2. SCHULD UND UNSCHULD IN FRANZ KAFKAS NOVELLE “DAS URTEIL“
2.1 DIE VERHANDLUNG - ZUR VATER-SOHN-BEZIEHUNG
2.2 DIE VERURTEILUNG - ZUR VATER-SOHN-BEZIEHUNG
2.3 DER VOLLZUG - ZUM SELBSTMORD GEORGS
3. FAZIT
LITERATURVERZEICHNIS
1. Einleitung
Wenn es um Franz Kafka und seine Texte geht, dann spricht Peter von Matt (1999) von einer„Bibel des 20. Jahrhundert“1 und betont, dass „kein anderes Werk in der westlichen Welt mitsolchem Ernst, solcher Hingebung gelesen [wird].“2 Vor allem erweist sich die Novelle „ Das Urteil “ als ein Gegenstand zahlreicher literarischer Untersuchungen, da sie zunächst von einemFamilien- und Generationenkonflikt zwischen dem Protagonisten Georg Bendemann undseinem Vater erzählt, im Grunde aber in metaphorisch überhöhter, zeichenhafter Sprachediverse andere Sujets zusammenbringt.3 So ist dieses Werk vor allem auch Paradigma fürKafkas prominente Auseinandersetzungen mit dem Themenkomplex, der um dieSchlüsselbegriffe Richter, Recht/ Unrecht, Urteil und schließlich Schuld kreist.4
Bezogen auf den Konflikt zwischen Vater und Sohn drängt sich die Frage nach der Schuld auf,da diese im allgemeinen Verständnis die Verletzung oder Nichteinhaltung eines Gesetzes ist,und auf Grundlage dessen es nur zur Vollstreckung eines Urteils kommen kann.Dazu kam die Frage die auf: Wer ist eigentlich der Unschuldige und wer trägt die Schuld?Aufgrund der Tatsache, dass der Unschuldige beziehungsweise der Schuldige nicht transparentin der Erzählung erscheint, bedarf es den Fokus auf die Zeichenhaftigkeit der Handlung, derRedeführung, dem Erscheinungsbild sowie dem Habitus der Figuren zu legen.
Im Folgenden wird die Uneindeutigkeit der Schuld in diesem Werk Kafkas zur Grundlage genommen, mit dem Ziel zu beantworten, warum es einerseits zum eilfertigen Vollzug, andererseits zum Urteilspruch kommt, den der Vater nach einer wortgewandten Auseinandersetzung über seinen Sohn fällt.
2. Schuld und Unschuld in Franz Kafkas Novelle “Das Urteil“
Die Erzählung „ Das Urteil “ provoziert zunächst nur als Vater-Sohn-Konflikt gelesen zu werden, jedoch offenbart die Handlung tiefergehend einen weitaus größeren Themenkomplex, der sich nur in der Wirklichkeit eines Familien- und Generationskonflikts abspielt. Auch Jahraus (2006) fasst für sich zusammen:
Deutlich wird aber, dass Kafka hier eine Geschichte erzählt, die nicht mehr auf der realistischen Oberfläche als ein kommunikativer Vater-Sohn-Konflikt gelesen werden kann, sondern […] eine geradezu modellhafte Szene eines innerfamiliären Machtkampfes auf Leben und Tod abbildet.5
Indem der Vater das Gespräch mit den Worten ‚Ich verurteile dich jetzt zum Tode desErtrinkens‘6 beendet, spricht er ein zweifelsohne drastisches Urteil aus, welches sein SohnGeorg Bendemann anschließend vollzieht: „Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn zumWasser trieb es ihn […] Er schwang sich über […] und ließ sich hinabfallen.“7 Die Handlungwird damit - symbolisch gesehen - zu einem vermutlichen gerichtlichen Prozess, in welchemsich der Protagonist Georg Bendemann als Angeklagter und sein Vater als Kläger gegenüberstehen. Die Konversation der beiden Figuren endet in der Verurteilung des Vaters und demVollzug seines Sohnes. Es erweckt demnach den Eindruck einer Gerichtsverhandlung.
2.1 Die Verhandlung - Zur Vater-Sohn-Beziehung
In der Exposition der Erzählung wird der Protagonist Georg Bendemann als „jungerKaufmann“8 dargestellt, der in seinem Privatzimmer an „einen sich im Ausland befindendenJugendfreund“9 einen Brief schreibt, um diesen von seiner Verlobung mit Fräulein FriedaBrandenfeld in Kenntnis zu setzen und ihn zur bevorstehenden Hochzeit einzuladen. Der Briefexponiert den Protagonisten darin auf dem Höhepunkt seiner gesellschaftlichen, privaten sowieberuflichen Karriere, währenddessen der Freund in Petersburg als krank, erfolglos und sozial isoliert beschrieben wird10 und durchgängig als Antithese zur Erfolgsgeschichte desProtagonisten erscheint. Die Exposition sowie auch die sich anschließende Introspektive „Erdachte darüber nach“11 erwecken den Eindruck einer „Nullfokalisierung“ (Quelle nochhinzufügen), unterstehen aber einer latenten Wahrnehmungsperspektive, sodassGedankenberichte, indirekte und direkte Rede sowie der Gebrauch einer „internenFokalisierung“ (Quelle noch hinzufügen) einen Wirklichkeitseffekt erzeugen, die nur denAnschein von Objektivität haben sollen. Folglich entsteht für den Leser ein zeichenhaftkomprimiertes Bild einer Wirklichkeit, die der individuellen Wahrnehmung des ProtagonistenGeorg Bendemann entspricht. Dadurch wird es dem Leser ermöglicht, daraus eigeneSchlussfolgerungen über diesen zuziehen. Dieser Subtext offenbart somit wichtigeAnhaltspunkte, um nicht nur die Funktion des Freundes und das zunächst harmlos beginnende,letztlich aber eskalierende Gespräch zwischen Vater und Sohn zu erklären, sondern auch diegrundlegende Vater-Sohn-Beziehung. Mit dem Brief an seinen Freund in Petersburg betrittGeorg das zum Hinterhof gelegene Zimmer, „[…] in dem er schon seit Monaten nicht gewesenwar“12, wozu aber, so heißt es nachgeschoben, „auch sonst keine Nötigung“13 besteht, da sichbeide „ständig im Geschäft“14 begegnen, in welchem Georg nach dem Todesfall seiner Mutterdie Geschäftsführerposition seines Vaters eingenommen hatte. Das berufliche sowie privateVerhältnis zwischen Vater und Sohn erscheint gewohnheitsmäßig organisiert und auch indemsie sich „nach Belieben“15 zu Mittag oder Abend miteinander essen ausgeglichen zu sein. Dasich Georg aufgrund der Tatsache seiner Verlobung mit Frieda Brandenfeld und dem rentablenGeschäft, das sich „ganz unerwartet entwickelt“16 hatte, privat und beruflich gefestigt glaubt,betritt er das väterliche Zimmer mit einer gewissen Selbstsicherheit, sodass - zumindest aus derPerspektive der erstellten Wirklichkeit des Protagonisten - für eine Auseinandersetzung keinAnlass besteht. Dass aber der Brief, mit welchem Georg nur die Zustimmung seines Vatersdafür einholen will, seinen Freund zu seiner Hochzeit einzuladen, diese Situation derart aus derOrdnung bringen kann, exponiert ein anscheinend diametral entgegengesetztes Bild des Verhältnisses zwischen Vater und Sohn. Ritzer (2010) sieht in der Vater-Sohn-Beziehung „einespannungsgeladene Verschränkung von Anerkennungsbedürfnis und Demonstrationsgestus“17,worin die Grundlage für die nun eskalierende Konversation gegeben ist. An derZeichenhaftigkeit des Habitus und an der Redeführung ist anscheinend die Oberflächlichkeitder Vater-Sohn-Beziehung demonstriert. Das wird dadurch deutlich, dass Georg seinen Vaterganz anders wahrnimmt. Er ist erstaunt über dessen physisches Erscheinungsbild (,mein Vaterist noch immer ein Riese‘18 ) sowie über dessen Lebensverhältnisse, die er als bedrückend und„unerträglich dunkel“19 empfindet. Wohlmöglich deshalb lässt sich am Protagonisten nun eineVeränderung beobachten. Seine mitgebrachte Selbstsicherheit, die ihn noch zu Beginn derHandlung auf dem Höhepunkt seiner beruflichen wie gesellschaftlichen Existenz auszeichnen,entfallen in dem für ihn undurchdringlichen Privatraum seines Vaters und kehren sich inUnsicherheit um. Auf Grundlage dessen kann der Vater anscheinend nach und nach wieder anStärke gewinnen. Eine Tatsache, die beweist, dass es in dem sich anbahnenden Konfliktzunehmend um psychische und physische Macht- und Stärkedemonstration geht. NachMeinung von Binder kann aus solch einem Konflikt nur eine Machtfigur hervorgehen, waszudem bedeutet, dass entweder die zunehmende stärkere Position des Vaters eine Schwächung desSohnes zur Folge hat oder auch umgekehrt.20 Mit der zunehmenden Schwächung der PersönlichkeitGeorgs, kann sich der alte Bendemann nicht nur psychisch, sondern auch physisch erheben. An derZeichenhaftigkeit seines physischen Erscheinungsbildes, indem sich der zunächst alsgebrechlicher, alter Mann beschriebene Vater21 zum „Schreckbild“22 geradezu aufrichtet, wirddemonstriert, dass Georg dadurch weiterhin verunsichert und einschüchtert wirkt. Zuletztverliert er seine Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit, die er insbesondere aus dem Gegenbildzu seinem Freund in Petersburg schöpfte. Erstmals stellt sich die Frage nach einer SchuldGeorgs gegenüber seinem Vater. Dass es zu dieser zunehmenden Inbesitznahme des Vaterskommen kann, liegt vermutlich an unbewussten, offenbar bisher verdrängten Schuldgefühlender Hauptfigur. Nach dem Anblick des Vaters und der ungewohnten Umgebung sind Schuldgefühle und Selbstvorwürfe in Georg erweckt, die er bis dahin offenbar verdrängt hatte.Aufgrund seines angegriffenen Selbstwertgefühls und der daraus resultierenden Unsicherheitist Georg der unerbittlichen Verhör- und Verhandlungstaktik des Vaters beinahe widerstandslosausgesetzt und hält scheinbar in einem Zustand der Geistesabwesenheit inne, sodass es zu derunerwarteten Wendung in dem Gespräch zwischen Vater und Sohn kommt. Allerdings nurmutmaßlich, da die perspektivische Erzählsituation zeichenhaft ausschließlich die innereWeltanschauung des Protagonisten und dessen Verhältnis zur Vaterfigur widerspiegelt.Deshalb führt der Text anscheinend auch nur aus, dass der Vater „seit dem Tode der Mutter,trotzdem er noch immer im Geschäft arbeitete, zurückhaltender geworden“23 sei und es fürGeorg offenbar zwingend nötig wurde, seinen Vater in dessen Geschäftsführerposition zuersetzen. Demnach kann dem Protagonisten nicht mit letzter Sicherheit die Absichtlichkeitunterstellt werden, den Freund belogen und den Vater verdrängt zu haben. Ebenso wenig aberkann von „glückliche[n] Zufälle[n]“24 gesprochen werden. Weiterhin ist das Handeln Georgsnach Schuld oder Unschuld nur schwierig zu bewerten, da sich vermeintliche Schuldgefühlevordergründig kaum andeuten; nur einmal als Georg, während er seinem Vater beim Ausziehenhelfen muss, dessen „nicht besonders reine Wäsche“25 bemerkt, heißt es, „[…] machte er sichVorwürfe, den Vater vernachlässigt zu haben.“26 Das schlechte Gewissen seines Sohnes,Freund und Familie vernachlässigt zu haben, sowie die sich bereits andeutende gewisseHandlungsunfähigkeit nutzt der Vater nun aus. So wird er seinem Sohn dessen ökonomische,soziale und sexuelle Lebensverhältnisse vorwerfen, welche er „durch die Fixierung auf dasväterliche Vorbild und die so bedingte Ausrichtung des Blicks auf die eigenen Interessenverfehlt hatte.“27 Gewissermaßen entwickelt sich daraus eine einer Gerichtsverhandlungähnliche Situation, in der der Vater den Ankläger und Georg den Angeklagten darstellt. Dabeischeint sich das ganze Geschehen - Verhör, Verhandlung, Verurteilung und Vollzug - scheinbaraußerhalb des Bewusstseins des Protagonisten abzuspielen, der zunehmend in den Zustand derGeistesabwesenheit verfällt. Insgesamt also ist für psychisch und physisch die Grundlage fürden Vater geschaffen und der „unerwartete Umschlagpunkt“28
[...]
1 Jahraus, Oliver: Das Urteil. In: Kafkas »Urteil« und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen Hrsg. von Oliver Jahraus u. Stefan Neuhaus. Stuttgart: Reclam 2002. S. 28.
2 Matt, Peter von: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. 4. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verl. 1999. S. 305.
3 Vgl. Dietz, Ludwig: Franz Kafka. Sammlung Metzler. 2. Aufl. Bd. 136. Stuttgart: Metzler 1990. S. 60.
4 Vgl. Sokel, Walter: Schuldig oder Subversiv? Zur Schuldproblematik bei Kafka. In: Das Schuldproblem bei Franz Kafka. Hrsg. von Wolfgang Kraus u. Norbert Winkler. Bd. 6. Wien: Böhlau 1995. S. 1
5 Jahraus, Oliver: Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate. Stuttgart: Reclam 2006. S. 200.
6 Kafka, Franz: Das Urteil. Eine Geschichte. Für F. In: Drucke zu Lebzeiten. Apparatband. Hrsg. von WolfKittler, Hans-Gerd Koch u. Gerhard Neumann. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl. 2002. S. 60.
7 Ebd. S. 61.
8 Kafka, Franz: Das Urteil. Eine Geschichte. Für F. S. 43.
9 Ebd.
10 Vgl. Kafka, Franz: Das Urteil. Eine Geschichte. Für F. S. 43f.
11 Ebd. S. 43
12 Ebd. S. 49
13 Ebd.
14 Ebd.
15 Ebd.
16 Ebd. S. 46
17 Vgl. Ritzer, Monika: Das Urteil. In: Kafka Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Hrsg. von Manfred Engel und Bernd Auerochs. Stuttgart: Metzler 2010. S. 158.
18 Kafka, Franz: Das Urteil. Eine Geschichte. Für F. S. 50.
19 Ebd.
20.Vgl. Binder, Hartmut: Kafka-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. S. 125.
21 Vgl. Kafka, Franz: Das Urteil. Eine Geschichte. Für F. S. 53f.
22 Ebd. S. 56.
23 Kafka, Franz: Das Urteil. Eine Geschichte. Für F. S. 46.
24 Ebd.
25 Ebd. S. 54.
26 Ebd.
27 Vgl. Ritzer, Monika: Das Urteil. S. 161.
28 Ebd.