Digitale Gefahr für den Video Star? Nutzung und Akzeptanz der Onlineangebote der Musikfernsehsender in Deutschland

Eine empirische Analyse


Magisterarbeit, 2001

178 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


INHALT

1 VORWORT

2 THEMA UND GEGENSTAND DER UNTERSUCHUNG
2.1 Onlineangebote der Musiksender - Interaktive Variante des Musikfernsehens?
2.2 Die Nutzer – Zuschauer oder Akteure?

3 KOMMUNIKATIONSWISSENSCHAFTLICHER ANSCHLUSS
3.1 Diffusionsforschung
3.1.1 Diffusion von Innovationen
3.1.2 Die Stufen des Adoptionsprozesses
3.1.3 Die verschiedenen Adoptions-Typen
3.1.4 Das Konzept der kritischen Masse
3.2 Uses-And-Gratifications -Approach und Nutzenansatz
3.2.1 Bedürfnistypologien
3.2.2 Kritik am Uses-And-Gratifications-Approach
3.2.3 Konsequenzen für die Onlineangebote der Musikfernsehsender

4 ZIELSETZUNG UND VORGEHENSWEISE DER UNTERSUCHUNG

5 DIE ENTWICKLUNG DES MUSIKFERNSEHENS
5.1 Musik im Fernsehen: Die Vorläufer der Musikkanäle
5.2 Entwicklung des Musikfernsehens in den USA
5.2.1 Technische, politische und ökonomische Rahmenbedingungen
5.2.2 Die ‚Erfindung’ von MTV
5.2.3 Die Phase der Etablierung (1981-1983)
5.2.4 Die Phase der Konsolidierung (1983-1985)
5.2.5 Die Phase der Expansion und Internationalisierung (1985-1996)
5.2.6 Die Phase der Digitalisierung und Diversifizierung (1996 bis jetzt)
5. 3 Entwicklung des Musikfernsehens in Deutschland
5.3.1 Musiksendungen im deutschen Fernsehen
5.3.2 MTV Europe
5.3.3 MTV Germany

6 AKTUELLE ONLINEANGEBOTE DER MUSIKSENDER

6.1 www.mtv.de

6.1.1 Aufbau

6.1.2 Inhalte

6.1.3 Design

6.1.4 Besonderheiten

6. www.viva.tv

6.2.1 Aufbau

6.2.2 Inhalte

6.2.3 Design

6.2.4 Besonderheiten

7 FORSCHUNGSDESIGN UND METHODISCHES VORGEHEN
7.1 Forschungsfrage und Hypothesen
7.2 Aufbau und Inhalt des Fragebogens
7.3 Stichprobe und Befragungsdurchführung
7.4 Datenauswertung

8 ERGEBNISSE DER UNTERSUCHUNG
8.1 Demographische Daten
8.2 Nutzung der Onlineangebote
8.3 Bewertung der Onlineangebote und ihrer Funktionalität
8.4 Attraktivität und Relevanz zukünftiger Angebote
8.5 Internetnutzung
8.6 Verhältnis Internet und Fernsehen
8.7 Bedenken bei der Nutzung von Onlineangeboten
8.8 Überprüfung der Hypothesen

9 MUSIKFERNSEHEN DER ZUKUNFT: FAZIT UND AUSBLICK

ANHANG
Literaturverzeichnis
Fragebogen
Kodierung
Danksagung

„Vide o killed the radio star.“ (The Buggles, 1979)

1 Vorwort

Musikfernsehen ist eines der wichtigsten Massenmedien[1] für Jugendliche und junge Erwachsene. Von ihm gehen Impulse in Bereichen wie Musik, aber auch Mode, Stil und Lebenswandel, Politik und Konsum aus. Es liefert Gesprächsstoff und Produktinfor- mationen ebenso wie eine Klang- und Bildtapete für Jugendzimmer und junge Wohn- gemeinschaften.

MTV – als der international bekannteste Vertreter des Musikfernsehens – ist längst mehr als nur ein weiterer Fernsehsender im überfüllten Kabelnetz. Es ist ein „allumfas- sender Vermittler der populären Kultur“ (Goodwin 1992, Übers. d. Verf.) und – wie die Washington Post formulierte – das „vielleicht einflußreichste kulturelle Einzelprodukt“ der 80er Jahre (zitiert nach McGrath 1996: 8, Übers. d. Verf.). Es ist zu einer kulturellen Ikone geworden. Zu einem Markenzeichen, das für Postmoderne steht, für Hedonismus und Jugendkultur. Für schnelle Bildschnitte und den Starkult der pompösen ‚Video Music Awards’, aber auch für das soziale Bewußtsein von ‚Rock The Vote’[2].

Seit 1993 stehen sich in Deutschland die Konkurrenten MTV und VIVA gegenüber – begleitet von ihren Ablegern MTV2 und Viva Zwei[3]. Der deutsche Musiksender VIVA ging 1993 auf Sendung und verfügt über die finanzielle Unterstützung mehrerer großer Plattenfirmen und Medienkonzerne (namentlich AOL Time Warner, EMI und Polygram).

Der Konkurrent MTV Deutschland gehört (wie alle anderen regionalen MTV-Pro- gramme) zur VIACOM-Gruppe[4] und begann in den letzten Jahren sich mehr und mehr vom paneuropäischen Rahmenprogramm aus London (MTV Europe, das seit 1987 auf Sendung ist) zu verabschieden. Deutschland ist nach den USA und Japan der drittgrößte Musikmarkt der Welt und der größte Europas. Und obwohl es viele andere Möglich- keiten gibt, Musik zu bewerben und zu verbreiten (wie beispielsweise Radio, Print- medien, Clubs und Livekonzerte) ist Musikfernsehen heute eines der wichtigsten Medien um Musik einem Massenpublikum vorzustellen und zu verkaufen (vgl. Banks 1996).

Gleichzeitig mehrt sich seit einigen Jahren Kritik an den klassischen Musikfernseh- programmen: Die langen Strecken von kurz anmoderierten Videoclips, die den Sender MTV berühmt gemacht haben, sind weitestgehend aus dem Programm verschwunden und durch Spiel- und Talkshows, Reportagen und Magazinsendungen ersetzt worden (Goodwin 1993: 53; Altrogge 1995: 160-161). Die Plattenfirmen fürchten, ihren Einfluß auf das Programm zu verlieren und weniger ihrer Künstler im Programm plazieren zu können (vgl. Banks 1996, 79-82) und zahlreiche Zuschauer beschweren sich über die Zunahme nichtmusikalischer Programme (vgl. Stein 1997: 103).

Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung neuer Verbreitungstechniken wie dem Internet besonders interessant. Da Musikvideos in der Regel nur wenige Minuten lang sind, eignen sie sich wesentlich besser für eine Distribution über schmalbandige Inter- netverbindungen als Spielfilme oder andere längere Formate. Durch einen immer stär- ker fragmentierten Musikmarkt ist auch eine genauere Ansprache der verschiedenen Zielgruppen notwendig, die unter Umständen von interaktiven Angeboten im Internet besser geleistet werden kann, als von klassischen Fernsehangeboten via Kabel oder Satellit. Momentan ist die Übertragung von Musikvideos über das Internet noch durch

technische Barrieren (geringe Bandbreiten etc.) beschränkt. Die Musiksender versuchen dieses Problem zu lösen, indem sie extra für das World Wide Web konzipierte Videos[5] anbieten und sich ansonsten auf zusätzliche Informationen rund um das Programm der Sender sowie über Musik und verwandte Themen konzentrieren.

Unter den Internetadressen www.mtv.de und www.viva.tv versuchen die beiden großen Musiksender ihre Zuschauer auch im Internet an sich zu binden. Die bestehenden Homepages sollen nach und nach zu Musikportalen ausgebaut werden, auf denen die Benutzer Informationen zu musikalischen und nichtmusikalischen Themen (Kino, Mode, etc.) finden, sich mit Gleichgesinnten austauschen und Videoclips auf ihrem Computer ansehen können. Ebenso wie im Kabel- und Satellitennetz, konkurrieren die Musiksender jedoch auch im Internet mit vielen anderen Angeboten um Aufmerksam- keit. Daraus ergibt sich die Frage, wie erfolgreich sie mit dem Versuch sein können, ihr Publikum vom Fernseh- an den Computerbildschirm zu führen.

Wichtig ist dabei, sowohl das Phänomen Musikfernsehen als auch seine Onlineakti- vitäten nicht nur als rein kulturelles Phänomen zu begreifen und beispielsweise die Musikvideos inhaltlich und filmtechnisch zu analysieren. Vielmehr muß sich auch mit den technischen und medienökonomischen Zusammenhängen auseinandergesetzt wer- den, um eine sinnvolle und ergiebige Analyse zu ermöglichen (vgl. Schmidt 1999: 93).

Wie aktuell und relevant das Thema ‚Musikfernsehen im Internet’ momentan ist, zeigen die gegenwärtigen Umwälzungen und Kooperationen, die sich auf diesem Gebiet voll- ziehen: Die MTVi Group, die die Onlineaktivitäten von MTV in Amerika bündelt geht eine Allianz mit den fünf großen Musiklabels ein, gleichzeitig beschließen in Deutsch- land AOL Time Warner und VIVA ein großangelegtes Joint Venture bezüglich der Onlinepräsenz www.viva.tv und des zweiten Fernsehkanals Viva+ (vgl. hierzu auch Kapitel 5).

2 Thema und Gegenstand der Untersuchung

2.1 Onlineangebote der Musiksender - Interaktive Variante des Musikfernsehens?

In der Welt der Medien ist Stillstand undenkbar. Alles ist in ständiger Bewegung und entwickelt sich kontinuierlich weiter und selbst diese Entwicklung bleibt nicht konstant, sondern beschleunigt sich im Laufe der Zeit mehr und mehr (vgl. Merten 1999: 183- 213). Im Zuge dieser Medienevolution entwickeln sich einerseits die bestehenden Medien immer weiter fort (beispielsweise durch wachsende Kanal- oder Titelvielfalt, Spezialisierung, Professionalisierung, etc.), andererseits entstehen vollkommen neue Formen von Medienangeboten.

Eine Möglichkeit für die Entstehung neuer Medienangebote ist die Kombination bereits bestehender Angebote, Distributionswege oder Kommunikationstechniken. Um eine solche Kombination und ein daraus neu entstandenes Medienangebot handelt es sich bei dem Untersuchungsgegenstand dieser Forschungsarbeit. Die Onlineangebote der Musikfernsehsender sind jedoch deutlich mehr als lediglich eine sture Übertragung des Programms von MTV oder VIVA auf den Computerbildschirm. ‚Multimedia’ lautet ein Zauberwort, das seit vielen Jahren fällt, wenn von neuen interaktiven Onlineangeboten die Rede ist. Multimedia bedeutet zunächst nichts anderes, als daß Inhalte, die in ver- schiedener Form vorliegen (also beispielsweise Text, Bilder, Musik, Filme, etc.) durch einen einzigen Kanal transportiert und mittels eines einzigen Geräts dargestellt werden können (vgl. zur Definition Booz-Allen & Hamilton 1997: 17).

Ermöglicht wird diese Kompatibilität durch die Digitalisierung von Medieninhalten, einer der wichtigsten technischen Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit. Bei der Digitalisierung wird die zu übertragende Schwingung (beispielsweise einer menschli- chen Stimme) in gleichmäßige Intervalle eingeteilt und abgetastet. Jedem Abtastzeit- punkt wird nun ein Wert zugeordnet, den die Welle zum Zeitpunkt des ‚samplings’ (= Abtastvorgang) gerade angenommen hat. Diesen Wert kann man (ebenso wie Buch- staben eines Textes oder Bildpunkte einer Grafik) wiederum in Zahlenketten aus 0 und

1 - die sogenannten ‚bits’ (Binary Digits) - umwandeln. Der Vorteil dieser bits ist, daß

sie im Gegensatz zum analogen Signal, das unendlich viele Ausprägungen annehmen kann (also stetig ist), diskret codiert sind und nur die beiden Signalwerte 1 und 0 mög- lich sind. Dadurch können digitale Signale nicht nur ohne jeden Qualitätsverlust über- tragen oder aufgezeichnet werden, sondern in der Datenmenge auch bequem kompri- miert werden (vgl. Ruhrmann 1997: 57-63; Ziemer 1994: 24-32).

Mit der Digitalisierung und den daraus entstehenden Multimedia-Anwendungen eng verbunden ist das Konzept der Konvergenz, was eine Verschmelzung von Computer- technik, Unterhaltungselektronik und Telekommunikationssystemen bedeutet. Der Mythos von einer Multimediastation im Wohnzimmer, über die ferngesehen, gespielt, telefoniert, gearbeitet und eingekauft wird, hatte vor einigen Jahren Hochkonjunktur. Mittlerweile ist er allerdings wieder ein wenig in Vergessenheit geraten und man geht davon aus, daß zwar eine Konvergenz von bislang getrennten Bereichen stattfinden wird, diese jedoch nicht unbedingt immer in einer Verschmelzung aller Geräte resul- tieren muß.

Die Onlineangebote der Musikfernsehsender sind Multimediaanwendungen, die durch das Internet oder genauer gesagt das World Wide Web navigierbar gemacht werden[6]. Sie verbinden Informationen in Textform mit der Darstellung von Fotos und Video- dateien und halten auch Audiosignale zum Abruf bereit. Dazu kommen Plattformen für den Austausch zwischen den Nutzern mittels Profilen, Chaträumen, Diskussionsforen etc.

Diese Onlineangebote sind also nicht als ‚Musikfernsehen mit anderen Mitteln’ zu ver- stehen. Sie weisen vielmehr Parallelen zu einer ganzen Reihe von anderen Medien oder nicht-massenmedialen Kommunikationsangeboten auf [7]:

Sie bieten geschriebene Informationen und Fotos zu verschiedenen Themen- gebieten, wie man sie ansonsten in einer Zeitschrift finden könnte.

Sie geben die Möglichkeit, Musik auf Wunsch probeweise anzuhören und gegebenenfalls zu erwerben, vergleichbar einem Platten- oder CD-Geschäft.

Sie offerieren ihren Rezipienten (wenn auch derzeit noch in stark reduzierter

Form) Videofilme und Musikclips, ähneln in diesem Punkt also dem Fernsehen.

Sie geben ihren Nutzern die Möglichkeit, sich mit anderen auszutauschen und zu kommunizieren, wie sie es sonst beispielsweise über Telefon oder E-Mail könnten.

Gerade der letzte Punkt ist relevant, denn allein die Möglichkeit aus einer großen An- zahl an Inhalten auszuwählen, macht noch eine echte Interaktivität aus. Ebensowenig wie es kein echter interaktiver Vorgang sein kann, wenn ein Fernsehzuschauer von Kanal A auf Kanal B umschaltet, kann es auch keiner sein, wenn er sich im Internet aus einer Datenbank mit 2 Millionen Artikeln einen Artikel auswählt, um ihn auf seinem Bildschirm zu lesen. Echte Interaktivität bedeutet die Möglichkeit für den Zuschauer einzugreifen und sich zu beteiligen, das Medienangebot zu verändern und seine eigenen Ideen und Kreativität einzusetzen[8].

Durch die fortschreitende Digitalisierung von Medieninhalten, durch Kompression von Datenmengen und die dadurch vereinfachte Möglichkeit, große Mengen von Inhalten abrufbar zu speichern, werden die Möglichkeiten für eine individualisierte, entkoppelte Mediennutzung immer größer. Anbieter- und Produktvielfalt tragen ebenso dazu bei, wie eine sich immer weiter fragmentierende und in Untergruppen und Subkulturen auf- gliedernde Gesellschaft.

Diese individualisierte Mediennutzung bietet dem Rezipienten viele Freiheiten und Vorteile, da er ein genau auf sich, seine Interessen und seinen Wissensstand zuge- schnittenes Angebot nutzen kann. Um diese Angebote sinnvoll nutzen zu können, sind

jedoch Medienkompetenz, Verantwortungsbewußtsein und häufig ein gewisser

sozioökonomischer Status oder eine höhere formale Bildung nötig[9]. Generell werden mit zunehmender Interaktivität, Selektivität und Individualisierung der Mediennutzung neue Anforderungen an den Rezipienten gestellt, wie im nächsten Abschnitt erläutert werden soll.

2.2 Die Nutzer – Zuschauer oder Akteure?

Bei den bisherigen Angeboten der Musiksender auf dem Fernsehbildschirm war die Rolle des Rezipienten schnell erklärt: Er sollte dasitzen und zusehen oder das Pro- gramm wenigstens im Hintergrund laufen lassen und dabei möglichst selten umschalten. Gelegentlich durfte er bei einer der wenigen Livesendungen anrufen, eine Quizfrage beantworten, seine Freunde grüßen oder sich einen Videoclip wünschen, der aber stets auch in der aktuellen Rotation des Senders zu finden sein mußte.

Mit der Entwicklung neuer interaktiver Onlineangebote ändert sich die Rolle des ‚Zu- schauers’: Er ist mit einem Mal kein reiner Zuschauer mehr. Während man den Fern- seher nur einschalten und ihn auf einen Musikkanal einstellen muß, erfordert die Navi- gation der Internetangebote größere Aktivität, Aufmerksamkeit und Geschick[10].

Neben gewissen Hardwareanforderungen wie Computer, Modem, Telefonanschluß und

ähnlichem (die es beim Fernsehen in Form eines Gerätes jedoch in geringerem Umfang auch gibt), muß der Rezipient auch grundsätzliche Computerkenntnisse mitbringen oder durch die Nutzung Schritt für Schritt erwerben. Dies bedeutet nicht, daß Programmier- sprachen erlernt oder die genaue Funktionsweise eines Mikrochips verstanden werden müssen. Die Einwahl ins Internet, das Aufrufen der Websites und ihre Navigation sowie die Installation von zusätzlicher Software (sogenannte ‚Plug-ins’ wie Flash oder Shockwave) ist für die jüngsten der Nutzer zwar häufig eine Selbstverständlichkeit, für diejenigen aber, die nicht mit dem PC aufgewachsen sind, können sie ernsthafte

Zugangsbarrieren darstellen.

Doch selbst wenn die technischen Hürden überwunden sind, stellt eine komplett inter- aktive Anwendung deutlich höhere Anforderungen an den Nutzer als ein ausgestaltetes Fernsehprogramm. Der Rezipient muß sich sehr viel stärker sowohl über seine eigenen Bedürfnisse im klaren sein, als auch über die Möglichkeit, diese zu befriedigen und so- mit seine Gratifikation zu erlangen (vgl. die ausführlichere Schilderung des Uses-and- Gratifications-Approach im nächsten Kapitel). Hat er diese Erkenntnis erreicht, muß er lernen, sich die Inhalte, die er rezipieren möchte, selbst zusammenzustellen.

In dem Maße, wie die Grenzen zwischen einer ‚one-to-many’-Kommunikation wie bei den klassischen Massenmedien und einer ‚many-to-many’-Kommunikation wie bei Internetplattformen oder anderen interaktiven, digitalen Angeboten verschwimmen, wächst auch die Verantwortung des einzelnen nicht nur gegenüber sich selbst, sondern auch gegenüber den anderen Nutzern, die er – nun selbst Sender geworden – erreichen kann.

Gerade angesichts der immensen Angebotsvielfalt ist ein sinnvoller und verantwor- tungsbewußter Umgang mit den neuen Medien kein leichtes Unterfangen und verlangt eine immer größere Medienkompetenz. Erst durch sie wird eine selbständige, sinnvolle und kreative Nutzung von Medien möglich. Der Jugend- und Mediensoziologe Dieter Baacke beschreibt Medienkompetenz über die folgenden vier Dimensionen (vgl. Baacke 1999a: 34):

Medienkritik (analytisch, reflexiv und ethisch)

Medienkunde (informativ und instrumentell-qualifikatorisch) Mediennutzung (rezeptiv/anwendend und interaktiv/anbietend) Mediengestaltung (innovativ, kreativ)

Es soll an dieser Stelle verdeutlicht werden, daß Medienkompetenz keineswegs über einen ‚Crashkurs Internet’ an der örtlichen Volkshochschule erworben werden kann. Medienkompetenz meint vielmehr ein lebenslang andauerndes und interdisziplinäres Konzept, das erforderlich ist, um der ständig ansteigenden Menge von Informationen gerecht zu werden und auch in einem immer unübersichtlicher werdenden Dickicht von Medienangeboten, diejenigen herauszufiltern, die für die eigene Entwicklung,

Information, Entspannung etc. sinnvoll sind. Um tatsächlich das Entstehen einer Wis- senskluft innerhalb der Gesellschaft zu verhindern, ist es deshalb wichtig, daß möglichst alle Bevölkerungsgruppen möglichst schnell Zugang zu neuen Medientechniken haben, um somit den Umgang mit ihnen zu üben und Medienkompetenz zu erwerben.

3 Kommunikationswissenschaftlicher Anschluss

3.1 Diffusionsforschung

Eine neue Idee, ein neues Produkt, ein neues Medienangebot, ein neuer Herstellungs- prozeß – ständig erblicken Innovationen das Licht der Welt. Doch nur ein Teil davon kann sich durchsetzen und sich auf dem jeweiligen Markt etablieren, kann sich ent- weder in das bestehende Angebot als zusätzliche Alternative einreihen oder in manchen Fällen sogar eine ältere Idee oder ein älteres Produkt ablösen und verdrängen. Wie In- novationen entstehen und vor allem woran es liegt, ob und wie schnell sie sich durch- setzen können, ist das Forschungsfeld der Diffusionsforschung.

Die Diffusionsforschung untersucht Innovationsprozesse in ihrem Verlauf und versucht so, Aufschluß über die Ursachen und Voraussetzungen für eine erfolgreiche Verbrei- tung von Neuerungen zu erhalten. Somit können auch Annahmen über zukünftige Dif- fusionsvorgänge getätigt und diese gegebenenfalls strategisch geplant und gestaltet werden. Als Vater der modernen Diffusionsforschung gilt der Amerikaner Everett M. Rogers, der sie zwar nicht erfunden hat, seit 1962 aber versucht, die verschiedenen For- schungszweige und -richtungen, die sich mit der Übernahme von Neuerungen beschäf- tigen, zu systematisieren und in eine einheitliche Diffusionstheorie zu integrieren.

Betrachtet man das Phänomen der Innovationen genauer, so kann man zunächst zwischen technischen Innovationen, wie beispielsweise Produkten und Dienst- leistungen, und sozialen Innovationen, wie zum Beispiel politische Ideologien oder neue Wertvorstellungen, unterscheiden (vgl. Schenk 1996: 24). Im Kontext dieser Un- tersuchung ist zweifelsohne eine Konzentration auf technische Innovationen angebracht. Technische Innovationen lassen sich in der Regel weiterhin in einen Hardware- und einen Softwareaspekt unterteilen. ‚Hardware’ bezeichnet dabei das Gerät oder Werk- zeug, das die Innovation als physischer Körper manifestiert (beispielsweise ein Faxgerät oder ein CD-Player). ‚Software’ bezeichnet entweder die Idee oder die von der

Hardware benötigte Information (beispielsweise Computerprogramme oder die Musik auf einer CD)[11]. Die Onlineangebote der Musikfernsehsender gehören zweifelsohne zu den Innovationen im Softwarebereich, zur Nutzung ist allerdings sowohl das Vorhan- densein von Hardware (ein Computer, Modem, etc.) als auch von weiterer Software (Internetzugang, Browser, etc.) nötig.

3.1.1 Diffusion von Innovationen

Die Diffusion von Innovationen ist laut Rogers ein Prozeß, in dem eine Innovation (A) durch bestimmte Kanäle (B) im Lauf der Zeit (C) unter den Mitgliedern eines sozialen Systems (D) kommuniziert wird. Diese vier Elemente der Diffusion von Innovationen sollen nun etwas näher beleuchtet werden (vgl. hierzu Rogers 1995: 11-31).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildun g 3-1: Diffusionsprozeß von Innovationen (Quelle: Rogers 1995:11)

DieInnovation

Als Innovation gilt eine Idee, Praxis, Produkt oder ein anderes Gut, das als neu wahr- genommen wird. Es muß sich dabei nicht grundsätzlich um eine gänzlich neue Erfin- dung handeln. Es ist auch möglich, daß eine Idee oder ein Produkt aus anderen Gesell- schaften oder Gesellschaftsbereichen übernommen wird oder eine bereits bestehendes Produkt weiterentwickelt und modifiziert wird. Wichtig ist einzig und allein die wahr- genommene Neuartigkeit für die Person, die mit der Innovation konfrontiert wird. Eine Innovation kann dabei selbstverständlich eine Reihe verschiedener Charakteristika auf- weisen, die unter anderem dafür verantwortlich sind, ob und wie schnell sie sich etablie- ren kann. So sollte eine Innovation beispielsweise einen Vorzug gegenüber der bisherigen Lösung aufweisen, selbst wenn dieser Vorzug nur subjektiv wahrgenommen wird. Weitere wichtige Faktoren sind Kompatibilität, Komplexität, Sichtbarkeit der Ergebnisse sowie die Möglichkeit, die Innovation in kleinem Rahmen auszuprobieren. Je besser sich eine Innovation mit den bisherigen Erfahrungen und Bedürfnissen ver- trägt, je einfacher sie zu verstehen ist, je risikoloser man sie testen kann und je sicht- barer die möglichen Ergebnisse sind, desto höher die Wahrscheinlichkeit, daß eine Innovation erfolgreich diffundiert.

Die Kommunikationskanäle

Als Kommunikationskanal definiert Rogers das Mittel mit dem Botschaften von einem Individuum zum anderen gelangen. Dies kann entweder durch Massenmedien gesche- hen oder durch interpersonelle Kommunikation. Massenmedien erweisen sich dabei als nützlicher und effektiver um eine große Anzahl potentieller Übernehmer einer Inno- vation von ihrer Existenz in Kenntnis zu setzen und sie zu informieren. Interpersonelle Kommunikation ist hingegen effektiver, wenn es darum geht, potentielle Übernehmer zu überzeugen, eine Innovation zu akzeptieren oder zumindest versuchsweise anzu- nehmen. Dabei läßt sich feststellen, daß je ähnlicher sich die beteiligten Personen in Punkten wie Bildung, Status, Herkunft etc. sind, desto größer die Effekte sind, die in- terpersonelle Kommunikation zwischen ihnen haben kann. Diese Effekte können von einem Zuwachs an Wissen über Veränderung der Einstellung bis zu tatsächlich verän- dertem Verhalten führen. Als eines der größten Probleme bei der Diffusion von

Innovationen sieht Rogers die Heterogenität der beteiligten Personen an (beispielsweise wenn unterschiedlich hohe technische Kompetenz aufeinander trifft und die Kommuni- kation zwischen einem Verkäufer und seinem Kunde erschwert).

Zeit

Der Faktor Zeit spielt im Diffusionsprozeß auf mehrfache Art und Weise eine Rolle. Zunächst ist die Zeitspanne relevant, die ein Individuum (oder eine Gruppe von Indivi- duen, beispielsweise eine Firma oder eine Gemeinde) benötigt, um von dem Wissen um die Existenz einer Innovation zu ihrer Adoption zu gelangen (welche Phasen dabei im Einzelnen durchlaufen werden wird später näher erläutert).

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Übernahme einer Innovation geschieht, also ob die Adoption verglichen mit anderen Individuen relativ früh oder relativ spät erfolgt. Die Mitglieder eines sozialen Systems lassen sich in fünf verschiedene Kategorien einteilen, abhängig davon, wie früh oder spät sie eine be- stimmte Innovation übernehmen (auch diese Kategorien werden in diesem Kapitel noch genauer vorgestellt).

Der dritte Punkt bei dem der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle spielt, ist die Frage nach der Geschwindigkeit der Übernahme, das bedeutet wie lange es dauert, bis ein gewisser Prozentsatz an Individuen in einem sozialen System die Innovation adaptiert hat. Diese Geschwindigkeit läßt sich einfach an dem Grad der Steigung der s-förmigen Diffusionskurve (vgl. Abbildung 3-1) ablesen. Je steiler die Kurve, desto schneller schreitet die Innovation voran (Innovation I), je flacher sie verläuft, desto langsamer geht sie vonstatten (Innovation III).

Dassoziale System

Ein soziales System wird von Rogers als eine Gruppe von miteinander verbundenen Einheiten definiert, die an einer gemeinsamen Problemlösung arbeiten oder ein gemein- sames Ziel verwirklichen wollen. Bei diesen Einheiten kann es sich um Einzelpersonen,

informelle Personengruppen, Organisationen oder Subsysteme handeln12, zusammen- gehalten wird das soziale System von dem gemeinsamen Ziel.

Die verschiedenen sozialen und kommunikativen Strukturen eines Systems beeinflussen eine Innovation ebenso wie seine Regeln und Normen. Zusätzlich können in jedem sozialen System Meinungsführer auftreten, die die Einstellung oder das Verhalten der anderen Individuen innerhalb des Systems beeinflussen und somit eine Diffusion ent- weder beschleunigen, abbremsen oder sogar gänzlich verhindern können.

3.1.2 Die Stufen des Adoptionsprozesses

Der Prozeß der Adoption, also der freiwilligen Annahme und Nutzung einer Innovation, umfaßt mehrere Stufen (vgl. hierzu Rogers 1995: 161-203). Diese werden jedoch nicht immer komplett durchlaufen. Nur wenn der potentielle Übernehmer zu einem positiven Ergebnis gelangt, wird die nächste Stufe eingeleitet; andernfalls wird der Vorgang der Adoption abgebrochen.

A) Wissen: In dieser Stufe wird das Individuum der Existenz der Innovation gewahr und erhält ein erstes grundsätzliches Verständnis von ihrer Eigenschaft und Funktionsweise („knowledge stage“).
B) Meinung: Hier entwickelt das Individuum eine Einstellung zu der zu bewer- tenden Innovation aufgrund detaillierteren Wissens, das es erworben hat („attitude stage“).
C) Bewertung: In diesem Abschnitt werden die Vor- und Nachteile der Übernahme abgewogen und die eigentlich Entscheidung getroffen, ob die Innovation genutzt werden soll oder nicht („decision stage“).
D) Implementierung: Falls die Entscheidung positiv ausgefallen ist, wird die Inno- vation nun eingesetzt und genutzt. Dabei überprüft das Individuum, ob die
Innovation seinen Vorstellungen entspricht oder nicht („implementation stage“).
E) Bestätigung: Selbst wenn die Innovation mittlerweile implementiert worden ist, sucht der Adoptor in der Folgezeit Bestätigung für sein Handeln. Im Falle posi- tiver Erfahrungen wird die Nutzung der Innovation fortgesetzt und wird zur Routine, bei negativen Erfahrungen oder neuen Informationen, die eine Nutzung fragwürdig erscheinen lassen, kann die Implementierung auch wieder rück- gängig gemacht und die Nutzung abgebrochen werden („confirmation stage“).

Der geschilderte Prozeß der Adoption gilt für Individuen, läßt sich aber in leicht abge- wandelter Form auch auf Organisationen übertragen. Rogers benennt die fünf Stufen hier allerdings anders und spricht von „Agenda Setting“, „Matching“, „Redefining“,

„Clarifying “ und „Routinizing“ (vgl. Rogers 1995: 389-404).

Bei Individuen wie bei Gruppen und Organisationen unterliegt der Prozeß der Adoption ständig verschiedenen Einflüssen durch interpersonelle oder massenmediale Kommuni- kationskanäle und geht vor dem Hintergrund gesellschaftlicher, ökonomischer, recht-

licher und technischer Rahmenbedingungen vonstatten (vgl. Weiber 1992: 8).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildun g 3-2: Modell der Stufen im Adoptionsprozeß (Quelle: Rogers 1995: 163)

3.1.3 Die verschiedenen Adoptions-Typen

Die Individuen innerhalb eines sozialen Systems übernehmen eine Neuerung natürlich nicht alle zum selben Zeitpunkt. Statt dessen kam die Diffusionsforschung zu dem Er- gebnis, daß man sie in fünf verschiedene Typen einteilen kann, die jeweils aus bestimmten Gründen zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Innovation übernehmen. Zeigt die Abbildung 3-1 in ihrer s-förmigen Kurve die kumulierte Anzahl an erfolg- reichen Adoptionen an, zeigt die Abbildung 3-3 wieviel neue Übernehmer es zu jedem Zeitpunkt eines Adoptionsprozesses gibt. Auf der x-Achse ist dabei die verstrichene

Zeit abzulesen, auf der y-Achse die Anzahl der erfolgreichen Adoptionen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildun g 3-3: Kategorisierung der Adoptoren auf der Basis ihrer Innovationsbereitschaft

(Quelle : Rogers 1995: 262)

Die fünf Gruppen der Adoptoren lassen sich idealtypisch wie folgt beschreiben (vgl. Rogers 1995:263-280) :

Innovatoren („innovators“): Lediglich 2,5% der Anwender gehören zu dieser Gruppe. Sie sind wagemutig und technikbegeistert und genießen innerhalb ihres sozialen Systems nicht immer den besten Ruf. Sie sind keine Meinungsführer, ihre Funktion als eine Art Schleusenwärter, der den Fluß neuer Ideen in die Grenzen eines sozialen Systems hinein steuert, ist jedoch nicht zu unterschätzen. In der Regel verfügen sie über eine höhere Schulbildung, größere finanzielle Ressourcen und sind sehr gut durch die Medien informiert.

Frühe Übernehmer („earl y adoptors“): Diese Gruppe fällt mit 13,5% der Adop- toren bereits deutlich größer aus. Im Gegensatz zu den Innovatoren sind die frühen Übernehmer deutlich weniger kosmopolitisch geprägt, dafür genießen sie größeren Respekt innerhalb ihres Systems. Sie gelten als Meinungsführer und Symbol für sinnvoll und mit Bedacht implementierte Innovationen. Auch sie weisen ähnlich den Innovatoren einen hohen sozialen und finanziellen Status auf und beziehen ihre Informationen überwiegend aus den Medien.

Frühe Mehrheit („early majority“): Mit 34% der Anwender ist diese eine der beiden größten Gruppen. Sie geht in den meisten Fällen relativ überlegt vor und

übernimmt eine Innovation erst dann, wenn die Anfangsschwierigkeiten aus dem Weg geräumt und die Preise für eine Implementierung gefallen sind. Mit- glieder der frühen Mehrheit gelten selten als Meinungsführer ihres Systems, sondern vertrauen eher darauf, durch Kontakt mit den Individuen in ihrer Um- gebung für sich relevante Informationen zu erhalten.

Späte Mehrheit („late majority“): Ebenso wie die frühe Mehrheit macht die späte Mehrheit mit 34% der Adoptoren etwa ein Drittel der Mitglieder eines sozialen Systems aus. Sie verfügen über geringere Ressourcen als die bisherigen Gruppen und können es sich daher oft erst leisten, eine Innovation zu über- nehmen, wenn sie preisgünstiger geworden ist und sichergestellt ist, daß sie sich bewähren wird. Ihre Skepsis ist groß, soziale Normen sowie Druck von anderen Individuen sind für sie ein gewichtiger Grund, Neuerungen zu übernehmen.

Nachzügler („laggards“): Diese Gruppe umfaßt 16% der Mitglieder eines sozialen Systems. Sie gilt als konservativ, traditionell und vergangenheits- orientiert. Sie weisen die niedrigste formale Bildung und den niedrigsten sozialen Status aller fünf Gruppen auf und übernehmen Innovationen erst dann, wenn sie sich ihnen aufgrund des sozialen Drucks nicht mehr länger ver- schließen können.

Betrachtet man die Diffusionskurve für Produkte und Angebote aus dem Bereich Tele- kommunikation, so stellt man fest, daß diese im Vergleich zur Normalverteilung nach rechts verschoben sind. Das bedeutet, daß bei Innovationen wie beispielsweise

neuartigen Onlineangeboten der Musiksender mit einer verzögerten Adoption zu rechnen ist und damit, daß der gesamte Prozeß der Übernahme länger dauert als durch- schnittlich. Dies liegt unter anderem daran, daß erst eine gewisse Anzahl von Anwen- dern erreicht werden muß, damit sich die Ausbreitung mit einer höheren Geschwindigkeit fortsetzen kann (bzw. nicht völlig scheitert); dieser Entwurf der ‚kriti- schen Masse’ wird im folgenden Kapitel ausführlicher erläutert.

3.1.4 Das Konzept der kritischen Masse

Im Zusammenhang mit interaktiven Medien wie zum Beispiel Fax, E-Mail oder Bild- telefonen tritt bei der Adoptionsrate ein besonderes Phänomen auf, das unter dem Namen ‚kritische Masse’ bekannt ist.

Das Konzept der ‚kritischen Masse’ geht ursprünglich auf die Physik zurück und wurde dort im Zusammenhang mit der Menge radioaktiven Materials gebraucht, die nötig ist, um eine nukleare Reaktion zu produzieren. Im Falle einer interaktiven Innovation be- deutet dies, daß wenn erst einmal eine genügend große Anzahl an Nutzern die Inno- vation implementiert haben, eine Art Selbsterhaltung der weiteren Diffusion einsetzt und diese stark beschleunigt wird. Am Ende entsteht sogar in vielen Fällen eine Art Druck, die Innovation zu implementieren, um keine negativen Sanktionen zu erleiden oder ausgegrenzt zu werden.

Im Gegenzug kann eine Innovation auch daran scheitern, daß die kritische Masse nicht erreicht wird. Gerade bei interaktiven Innovationen hängt die Attraktivität zu einem großen Teil davon ab, wieviel andere Individuen innerhalb des sozialen Systems die Innovation bereits implementiert haben[13]. Wenn die anfängliche Diffusion also zu lang- sam vonstatten geht und für eine längere Zeit zu wenig Individuen von ihr Gebrauch machen, kann es passieren, daß die Verbreitung stagniert und sogar bereits geschehene

Implementierungen wieder rückgängig gemacht werden[14].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildun g 3-4: Kritische Masse - Adoptionsrate für eine gewöhnliche sowie eine interaktive Inno- vation (Quelle: Rogers 1995: 314)

Die Onlineangebote der deutschen Musikfernsehsender sind insofern eindeutig inter- aktive Angebote, als daß sie auf den Aufbau einer sogenannten ‚Onlinecommunity’ abzielen. Das bedeutet, daß junge Nutzer, die sich über ein persönliches Kennwort an- melden, Mitteilungen in Diskussionsforen schreiben, sich an Chats beteiligen und sich auf andere Art und Weise austauschen können. Neben einer aus dem Journalismus be- kannten, klassischen ‚one-to-many’-Kommunikation findet also auch in vielen Be- reichen der Onlineangebote eine ‚many-to-many’-Kommunikation statt, bei der das Nachrichtenangebot der Websites in den Hintergrund tritt und sie zur Kommunikations- plattform für den gleichberechtigten Austausch verschiedener Nutzer wird. Aus diesem Grund sind sie auch stark vom Phänomen der kritischen Masse betroffen, das auch als

‚Netzwerkeffekt’ bekannt ist (vgl. Blind 1997: 156).

Eine bereits existierende ausreichend große Zahl an Nutzern, die die Chaträume und

Diskussionsforen mit Leben erfüllen und die den jungen Nutzern das Gefühl geben

‚etwas zu verpassen’, wenn sie nicht dabei sind, ist also eine Voraussetzung für die

individuelle Implementierung und somit für eine Diffusion. Denn mit jeder zusätz- lichen Adoption steigt der Nutzen sowohl für die existierenden als auch für die zukünf- tigen Anwender.

Weitere Kriterien für den Markterfolg sind Benutzerfreundlichkeit, Funktionalität und Attraktivität der inhaltlichen Angebote. Die neuen interaktiven Angebote der Websites von MTV und VIVA müssen sowohl Neues bieten, als auch an bestehende Nutzungs- gewohnheiten anknüpfen. Ein – vor allem für Jugendliche und junge Erwachsene – immer selbstverständlicher werdender Umgang mit Computer und Internet ist dabei ebenso hilfreich sowie ein sich immer stärker ausdifferenzierender Medienmarkt, der den Rezipienten zur Selektivität zwingt.

Genau festzustellen, an welchem Punkt in der ‚Laufbahn’ einer Diffusion sich die Onlineangebote der Musiksender im Augenblick befinden, ist nahezu unmöglich. Es kann jedoch angenommen werden, daß beide Angebote an dem bedeutungsvollen Punkt, an dem die kritische Masse erreicht ist und die Ausbreitung eine gewisse Eigen- dynamik erhält, noch nicht ganz angekommen sind.

3.2 Uses-And-Gratifications-Approach und Nutzenansatz

Es ist bereits deutlich geworden, daß interaktive Onlineangebote wie die der Musik- fernsehsender einen aktiven Mediennutzer voraussetzen, der eigenständig und erfahren aus einer ständig wachsenden Angebotsvielfalt die Angebote auswählt, die seinen indi- viduellen Bedürfnissen am besten entsprechen. Vor allem jungen Menschen ist diese Situation vertraut, da für sie ein sich ständig weiter ausdifferenzierender Medienmarkt voller Special-Interest-Angebote und Neuerscheinungen zum Alltag gehört und eine Selbstverständlichkeit darstellt.

Ebenso wie die Diffusionsforschung gehen auch der Uses-And-Gratifications-Approach und der Nutzenansatz in ihrer Grundannahme von einer starken Selektivität aktiver Mediennutzer aus. Der Ansatz steht in bewußtem Widerspruch zum Stimulus- Response-Modell und kehrt die Fragestellung ‚Was machen die Medien mit dem Menschen?’ in das berühmte ‚Was machen die Menschen mit den Medien?’ um (vgl. Katz 1962: 378).

1974 wurde von Katz, Blumler und Gurevich der ursprüngliche Uses-And- Gratifications-Approach15 entwickelt, der davon ausgeht, daß sich Menschen den- jenigen Medieninhalten zuwenden, von denen sie sich die Erfüllung bestimmter Bedürfnisse erwarten. Die Befriedigung der Bedürfnisse und die daraus resultierende Zufriedenheit ist als die Gratifikation zu verstehen (vgl. Schenk 1987: 379).

Für die Medien bedeutet dies im Gegenzug, daß sie „untereinander als Mittel der Bedürfnisbefriedigung oder Problemlösung in Konkurrenz stehen, und zwar auch zu nichtmedialen Quellen“ (Bonfadelli 1999: 160, Hervorhebung im Text). Eine automa- tische oder grundlose Nutzung, wie sie vielleicht in Zeiten spärlicher Medienangebote

erfolgte, ist nicht mehr denkbar.

Nach Karl Erik Rosengren (1974) hat jeder Mensch je nach seiner Sozialisation und aktuellen Lebenssituation individuell unterschiedliche Probleme und Bedürfnisse und somit unterschiedliche Möglichkeiten, diese zu lösen respektive zu befriedigen. Die Probleme und Bedürfnisse setzen sich aus verschiedenen Faktoren wie zum Beispiel der jeweiligen Gesellschaft, der physiologischen und psychologischen Entwicklung und grundsätzlichen menschlichen Bedürfnissen zusammen. Die Lösungs- und Befriedi- gungsmöglichkeiten werden ebenfalls von dem gesellschaftlichen Kontext, dem vor-

handen Mediensystem, etc. geprägt

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildun g 3-5: Handlungstheroetischer Nutzenansatz nach Renckstorf

(Quelle : Bonfadelli 1999: 162)

3.2.1 Bedürfnistypologien

Die verschiedenen Bedürfnisse der Rezipienten lassen sich in verschiedenen Dimen- sionen und Kategorien einteilen, was jedoch kein unproblematisches Unterfangen ist. Der Medienwirkungsforscher Heinz Bonfadelli schlägt dabei folgende Kategorisierung vor (vgl. Bonfadelli 1999: 163-164):

Kognitive Bedürfnisse: In diese Gruppe lassen sich Bedürfnisse zusammen- fassen, die aus Orientierungs- und Entscheidungsproblemen resultieren. Dazu gehören Unterdimensionen wie Neugier, Kontrolle der Umwelt, Lernen, Realitätserforschung, Wissenserweiterung, Selbsterfahrung, etc.

Affektive Bedürfnisse: Diese Kategorie beinhaltet die Kontrolle verschiedener Stimmungen wie Entspannung und Erholung durch Unterhaltung, Ablenkung, Entlastung oder Verdrängung, andererseits aber auch Bedürfnisse nach Span- nung und Aufregung[16].

Sozial-interaktive Bedürfnisse: Diese Bedürfnisse resultieren aus dem Wunsch nach Austausch mit anderen Menschen, nach ihrer Gesellschaft und Aner- kennung. Medien dienen dabei indirekt als Lieferant für Gesprächsthemen und Anlässe, aber auch zur Identifikation mit Medienakteuren und ihre Behandlung als Personen des realen Lebens[17].

Integrativ-habituelle Bedürfnisse: Die Gruppe beruht auf der Sehnsucht nach Sicherheit, Geborgenheit und Stabilität. Durch gewohnheitsmäßige Nutzungs- muster oder festgelegte Inhaltsstrukturen können Medien diese Bedürfnisse befriedigen[18].

3.2.2 Kritik am Uses-And-Gratifications-Approach

Scharfe Kritik erfuhr der Uses-And-Gratifications sowie der Nutzenansatz von mehre- ren Seiten: Klaus Merten stellt beispielsweise die Frage, ob es sich bei den Ansätzen um eine theoretisches Konzept oder lediglich um eine Forschungsstrategie handele (vgl.

Merten 1984: 54). Er bemängelt außerdem, daß der Uses-And-Gratifications-Ansatz

„nicht die Wirkung einzelner Medienangebote erfaßt, sondern [...] das (tägliche, wöchentlich) durchschnittliche Medienangebot in Bezug setzt zu den Bedürfnissen des Rezipienten“ (Merten 1999: 364, Hervorhebung im Text).

Ein zusätzlicher Kritikpunkt ist der des Tautologieschlusses: So sei es immer möglich, allen bei den Rezipienten feststellbaren Bedürfnissen nachträglich Medienangebote zu- zuordnen, die diese Bedürfnisse befriedigen. Die Ansätze wiesen einen „zirkulären Charakter“ (Zubayr 1996: 28) auf, viele der von Rezipienten geäußerten Bedürfnisse seien außerdem von Marketing- und Werbeabteilungen der Medienbranche künstlich geschaffen worden (vgl. zur Kritik am Nutzungsansatz Ronge 1984, Swanson 1979 sowie Bonfadelli 1999: 165).

Ein weiteres Problem bei der Verwendung des Nutzungsansatzes sind die Annahme, daß die Bedürfnisse der Rezipienten überhaupt erschlossen werden können. Dies impli- ziert nämlich, daß sie sich a) selbst darüber im klaren sind und b) in der Lage und wil- lens sind, darüber Auskunft zu geben. Außerdem sollte die Rationalität und Planung beim Medienkonsum nicht überbewertet werden. Medien werden nicht nur zielgerichtet, absichtsvoll und effektiv genutzt und konsumiert, sondern oft auch spontan, impulsiv und wahllos (vgl. Ronge 1984: 74). Vor allem in der Diskussion um neue Medien wie das Internet kursiere laut Aussagen vieler Kritiker ein Zerrbild vom „hyperaktiven Re- zipienten“ (Schönbach 1997, zitiert nach Weischenberg 1998: 54).

3.2.3 Konsequenzen für die Onlineangebote der Musikfernsehsender

Trotz der Schwächen, die der Uses-and-Gratifications-Ansatz und in einigen Punkten auch der Nutzenansatz aufweisen, kommt ihre Sichtweise der zielgruppenorientierten Betrachtungsweise vieler Marketingstrategen aus dem Mediensektor gelegen. Durch immer genauer auf die Bedürfnisse kleinster Untergruppen von Nutzern zugeschnittene (Online-)Angebote kann beispielsweise dem Werbekunden auch ohne exorbitante Reichweiten versprochen werden, daß seine Werbebotschaften ihr Ziel erreichen. Ob diese Versprechen berechtigt sind und ob die Streuverluste tatsächlich so niedrig sind wie angenommen und behauptet wird, ist gerade im Bereich Onlinewerbung nach wie vor strittig.

Um sich erfolgreich im Kampf um Aufmerksamkeit sowie Gebühren- und Zeitbudgets zu behaupten, müssen die Onlineangebote der Musikfernsehsender eine Reihe von Be- dürfnissen erfüllen. Dadurch, daß eine Vielzahl von Inhalten unterschiedlichster Art permanent verfügbar und abrufbereit sind, ist die Möglichkeit zur Selektion deutlich stärker als bei einem starr programmierten und formatierten Fernsehkanal. Dies würde Bedürfnissen nach Selbständigkeit, Kreativität und Unabhängigkeit entgegenkommen. Das gleiche gilt für das Bedürfnis nach zeitlicher Unabhängigkeit, die dadurch entsteht, daß sich der Rezipient nicht mehr nach bestimmten Programmschemata richten muß oder auf den Videoclip seines Lieblingskünstlers warten muß. Liegen alle Inhalte [24]

Stunden abrufbereit auf einem Internetserver, hat der Nutzer die Freiheit, jederzeit zu konsumieren, was er möchte, ohne auf den Tagesablauf und die Nutzungsgewohnheit der Mehrheit (auf die die meisten Medienangebote zugeschnitten sind) Rücksicht nehmen zu müssen.

Mit anderen Nutzern in Kontakt zu treten und sich über gemeinsame Themen und Vor- lieben auszutauschen, wie es in den Online-Communities der Internetangebote von MTV und VIVA möglich ist, kann das Bedürfnis nach sozialer Interaktion ebenso be- friedigen wie das nach räumlicher Unabhängigkeit, da der Nutzer unter Umständen auch Freundschaften und Kontakte zu weit von ihm entfernt lebenden Personen pflegen kann. Die Gratifikationen, die das herkömmliche Musikfernsehen bisher jedoch in großen Maße bieten konnte, sollten bei den Onlineangeboten der Musiksender nicht vernachlässigt werden. Müssen die Benutzer auf gewohnte Gratifikationsmöglichkeiten (wie etwa die Befriedigung von Bedürfnissen nach Entspannung, Ablenkung und Realitätsflucht) verzichten, könnte das die Akzeptanz und Ausbreitung der Online- angebote bremsen und im schlechtesten Falle sogar verhindern.

4 Zielsetzung und Vorgehensweise der Untersuchung

Betrachtet man die Ergebnisse der vorgestellten Studie zum Thema Nutzung und Ak- zeptanz der Onlineangebote der Musikfernsehsender in Deutschland, so stellt man fest, daß es sich dabei noch keineswegs um ein Massenphänomen handelt. Nach einer Phase des Abwartens haben jedoch die beiden großen Konkurrenten auf dem deutschen Markt (MTV und VIVA) beide das Potential des Onlinemarktes erkannt und durch ent- sprechende Investitionen in ihre Onlineaktivitäten reagiert (vgl. hierzu die Kapitel

5.2.6.2 und 5.3.4.4). Waren die Websites der Sender anfangs hauptsächlich als ausführ- liche Programmbroschüren verstanden worden (ähnlich dem Videotextangebot vieler Fernsehsender), in denen man über Sendezeiten und Programmhighlights informiert, so werden die Internetpräsenzen mehr und mehr als eigenständige Medienangebote produziert.

Dies wirft mehrere Fragen auf: Zum einen, ob das Publikum diese Angebote annimmt und nutzen wird, zum anderen, welchen Stellenwert es ihnen beimißt und wie es sich auf ihren bisherigen Medienkonsum auswirkt. Wird – auch wenn durch technische Ent- wicklungen vieles möglich ist – an den Bedürfnissen und Wünschen der Benutzer vor- beiproduziert? Die zentrale Forschungsfrage lautet deshalb: Wie werden die bestehen- den und zukünftigen Online-Angebote der deutschen Musikfernsehsender von den Rezipienten genutzt und akzeptiert?

In diesem Zusammenhang stellt sich vor allem die Frage, inwieweit die Onlineangebote eine Gefahr für das reguläre Fernsehprogramm von MTV und VIVA darstellen. Ob sie von den (meist jugendlichen) Nutzern als Ergänzung zu den Fernsehangeboten verstan- den werden oder als Ersatz. Tauchen neue Medien (oder neue technische Über- tragungsmöglichkeiten) auf, ist es üblich, daß Befürchtungen laut werden, das neue Medium (Fernsehen, Videocassetten oder E-Mails) könnten das jeweils alte (Buch, Kino oder Briefe) verdrängen. Die Vergangenheit hat gezeigt, daß solche Vermutungen sich in der Regel als unbegründet herausstellen. Weder hat das Fernsehen dazu geführt, daß keine Bücher mehr geschrieben oder verlegt werden, noch hat die Entwicklung des Videorecorders dafür gesorgt, daß niemand mehr in Kinos geht. In den meisten Fällen kam es gleichwohl zu Veränderungen und Verschiebungen, denn egal wie stark die Zahl und der Umfang der unterschiedlichen Medienangebote auch zunehmen, das verfügbare Zeitbudget, das der einzelne für den Konsum dieser Medienangebote aufzuwenden in der Lage ist, kann nur sehr begrenzt zunehmen (vgl. zum Thema Evolution der Medien Merten 1999: 183-213).

Die vorliegende Untersuchung will klären, inwieweit Jugendliche und junge Erwach- sene bereits die Onlineangebote der Musiksender nutzen, welche Eigenschaften sie dabei am meisten faszinieren und welche Angebote sie sich für die nahe Zukunft vor- stellen und wünschen würden. Die Untersuchung schließt dabei an die Forschung in den Bereichen der Diffusionsforschung an und bezieht sich auf Ansätze wie den Uses-and- Gratifications-Approach und den Nutzenansatz der Kommunikationswissenschaft.

Die Untersuchung, die in Form einer schriftlichen Befragung vorgenommen wurde, kann dabei jedoch nur den momentanen Zustand beschreiben, für eine längerfristige Untersuchung von Entwicklungen (zum Beispiel durch eine Panel-Untersuchung) fehl- ten leider die Möglichkeiten19. Insgesamt wurden 111 Jugendliche und junge Erwach- sene im Alter von 13 bis 30 Jahren befragt, die Befragung wurde im Sommer 2001 im Stadtgebiet von Münster durchgeführt. Die Studie erhebt keinen Anspruch auf Reprä- sentativität, dennoch wurde versucht, durch die verschiedenen Orte, an denen die Befragung durchgeführt wurde (vgl. Kapitel 7.3) eine möglichst heterogene Stichprobe zu erhalten. Somit ist es möglich, ein aufschlußreiches Bild der aktuellen Nutzung und Akzeptanz der Onlineangebote der Musiksender zu zeichnen und somit die Verhaltens- weise und Einstellungen der jungen Mediennutzer etwas besser zu verstehen.

5 Die Entwicklung des Musikfernsehens

Will man die aktuelle Situation der deutschen Musikfernsehsender analysieren und ver- stehen, so darf man dabei die historischen Grundlagen und internationalen Entwick- lungen, die auf diesem Sektor stattfanden, nicht außer acht lassen. Der historische

Überblick auf den folgenden Seiten soll dabei mehr sein als eine reine chronologische

Auflistung der Ereignisse, mehr als „one goddam thing after another“ (Goodwin 1992:

189). Die Schilderung soll vielmehr als Orientierungshilfe dienen und einen Einstieg in die Thematik auch ohne großes Vorwissen ermöglichen. Außerdem soll ein starkes Augenmerk auf die Zusammenhänge und Kausalitäten zwischen den einzelnen Ereig- nissen gerichtet werden und ihre Bedeutung für neuere Entwicklungen und den aktu- ellen Stand der Dinge.

Während viele Vorgänge in den USA Erklärungen für Entwicklungen in Deutschland liefern können, soll keineswegs übersehen werden, daß es doch immer wieder Eigen- heiten eines nationalen Marktes, einer Kultur und eines Mediensystems sind, die die Entwicklung eines Phänomens wie das Musikfernsehen beeinflussen und steuern kön- nen. Deshalb wird die Entwicklung in den USA als Vorreiter für den weltweiten Sie- geszug der Musikvideos dargestellt, aber ebenso in ausführlichen Kapiteln die spezielle Situation in Deutschland erforscht und beleuchtet.

Vor allem R. Serge Denisoff („Inside MTV“ 1988), Andrew Goodwin („Dancing in the

Distraction Factory“ 1992), Tom McGrath (“MTV – The Making of a Revolution”

1996) und Jack Banks (“Monopoly Television – MTV’s Quest to Control the Music”

1996) haben in ihren Werken bereits außerordentlich gute Darstellungen der geschicht- lichen Entwicklung des Musikfernsehens allgemein und des Senders MTV im beson- deren geliefert. Auf ihre Bücher stützen sich große Teile dieses Kapitels.

5.1 Musik im Fernsehen: Die Vorläufer der Musikkanäle

Musik tauchte natürlich nicht erst mit dem Sender MTV zum ersten Mal auf den Fern- sehbildschirmen auf. Im Gegenteil: Die Verbindung von Musik und bewegten Bildern ist genauso alt, wie der Tonfilm selbst. Der 1927 erstmals gezeigte Film ‚The Jazz

Singer’ war nicht nur der erste Film mit einer Audiospur, sondern gleichzeitig auch der erste Film mit einem musikalischen Soundtrack (vgl. Banks 1996: 23).

Die ersten Vorläufer des Videoclips wurden einige Jahre später in den 40ern bekannt. Die sogenannten ‚Soundies’ waren Kurzfilme von etwa drei Minuten Länge, in denen die Zuschauer musikalische Darbietungen, vorzugsweise von Jazzmusikern wie DUKE ELLINGTON, LOUIS ARMSTRONG und NAT ‚KING’ COLE gezeigt bekamen. Diese Kurzfilme wurden in sogenannten ‚Panorams’ gezeigt – Münzautomaten, die in Nachtclubs, Bars und Restaurants aufgestellt waren[20]. Obwohl sich die ‚Soundies’ für eine kurze Zeit großer Beliebtheit erfreuten, sorgten technische Unzulänglichkeiten[21] und schnell wechselnde Trends[22] für ein baldiges Verschwinden der Panoram-Apparate (vgl. Banks 1996: 23-24).

Auch im Fernsehen spielte Musik von Anfang an eine wichtige Rolle. Viele der ersten kommerziellen Fernsehsendungen waren ursprünglich im Radio entstanden und nach dortigen Erfolgen auf den Bildschirm gebracht worden. So beispielsweise auch die Sen- dung Your Hit Parade, die von Lucky Strike gesponsort wurde und in der eine fest an- gestellte Band aktuelle Hits nachspielte und die Sänger zwischen den Liedern Sketche aufführten. Sendungen dieser Art zielten auf keine bestimmte Altersgruppe ab und ver- suchten, so gut wie möglich den Massengeschmack der gesamten Zuschauerschaft zu treffen (vgl. Banks 1996: 24).

Eine weitere bedeutsame Sendung der 50er Jahre, in der Musik eine wichtige Rolle spielte, war American Bandstand, das 1952 entstand und 1957 beim Network ABC bundesweit auf Sendung ging. In dieser Sendung traten die Stars der damaligen Zeit selbst auf, lieferten eine Playback-Vorführung ihrer aktuellen Stücke während das Stu- diopublikum dazu tanzte[23].

In den 60er Jahren sorgten vor allem Auftritte der Beatles und anderer englischer Bands in bunt gemischten Variety Shows wie der Ed Sullivan Show für Schlagzeilen. Gleich- zeitig versuchten sich die Sender an gefälligen Musiksendungen wie Hullaballoo oder Shindig, in denen Hollywoodpersönlichkeiten wie Jerry Lewis oder Zsa Zsa Gabor Musik ankündigten, zu der sie keinen Bezug hatten. Das Publikum honorierte diese Form der Moderation ebensowenig wie die Tatsache, daß viele der zu dieser Zeit be- liebten Künstler nicht in die Sendungen eingeladen wurden, weil ihre Musik als zu ex- trem und nicht familientauglich eingestuft wurde (vgl. Banks 1996: 25).

Letzteres Problem wurde gelöst, indem ein Team von Fernsehproduzenten mit den MONKEES kurzerhand ihre eigene, saubere und drogenfreie Rockband erfanden und dafür vier junge Männer (keiner von ihnen Musiker) anheuerten[24]. Die Serie The Monkees wurde ein voller Erfolg, ebenso wie das Album der MONKEES, das allerdings von Studiomusikern eingespielt worden war. In den 80er Jahren strahlte übrigens nie- mand anderes als MTV selbst die Wiederholungen der Serie aus.

In den frühen 70er Jahren entstand schließlich eine Reihe von Musiksendungen, die

überwiegend in den Nächten des Wochenendes ausgestrahlt wurden und sich an junge Zuschauer wendeten, die gerade nach Hause zurückkehrten. Entgegen ihrer Titel wur- den auch bei In Concert, Midnight Special und Rock Concert keine wirklichen Live- konzerte gezeigt, sondern ähnlich bei American Bandstand Playbackauftritte im Fern- sehstudio. Keine dieser Sendungen konnte jedoch über längere Zeit erfolgreich sein und alle wurden bereits Mitte der 70er wieder eingestellt (vgl. Banks 1996: 26).

In den nächsten Jahren gab es Musik im amerikanischen Fernsehen nur sporadisch zu sehen: Entweder bei einer der seltenen Spezialsendungen oder als musikalischer

Gastauftritt in der erfolgreichen Comedy-Sendung Saturday Night Live.

Erst in den frühen 80er Jahren gab es wieder Musiksendungen im amerikanischen Fern- sehen, die von den Zuschauern akzeptiert wurden. Solid Gold startete 1980 und präsen- tierte die erfolgreichsten Hits der Woche, während in Soul Train ein vorwiegend afro- amerikanisches Publikum zu seiner Musik tanzte (vgl. Bank 1996: 26).

Die Gründe, warum die amerikanischen Fernsehnetworks bei dem Versuch, Popmusik in ihr Programm zu integrieren, jahrzehntelang erfolglos blieben, sind vielfältig: Zum einen war die Bezahlung für die Musiker und Bands in der Regel schlecht, wohingegen Livekonzerte finanziell wesentlich lukrativer waren. Außerdem bestand die Gefahr, durch Fernsehauftritte potentielle Konzertbesucher zu verlieren, die nach einer Gratis- vorstellung auf dem Bildschirm nicht mehr gewillt waren, ein Konzertticket zu kaufen. Zum anderen waren die Sendungskonzepte und ihre Präsentatoren oft so konservativ, daß viele Rockmusiker fürchteten, ihr Image und ihre Reputation beim jungen Publi- kum zu verlieren, würden sie dort auftreten. Eng damit verknüpft ist das Problem der Zensur, der sich Musiker im Fernsehen immer wieder unterwerfen mußten. Sei es der berühmte Fall, daß Ed Sullivan seine Kameraleute anwies, ELVIS PRESLEY bei des- sen Auftritt nur von der Hüfte aufwärts zu filmen oder die Forderung an die ROLLING STONES die Texte ihres Stückes „Let’s Spend the Night Together“ zu ändern – die Liste der Kontrollen und Eingriffe der Fernsehproduzenten in die Sphäre der Künstler war lang und sorgte für gegenseitiges Mißtrauen. Zuguterletzt war auch die Klang- qualität in den ersten Jahrzehnten des Fernsehens sehr schlecht und in etwa vergleichbar mit einem Transistorradio. Dies alles führte dazu, daß von Seiten der Musiker sowie von Seiten der Musikindustrie Fernsehen nur als sehr unattraktives Medium für die Verbreitung von Musik angesehen wurde. Im Gegenzug waren die kommerziellen Fern- sehnetworks darauf angewiesen, ein möglichst großes Massenpublikum anzuziehen, um die nötigen Einschaltquoten zu erzielen, was ein Engagement für Künstler, die aus- schließlich eine bestimmte demographische Zielgruppe ansprachen, nahezu von Anfang an ausschloß (vgl. Banks 1996: 26-28).

Die ersten tatsächlichen Videoclips entstanden – wenn auch in einer relativ primitiven Form – in den frühen 70er Jahren. Oft wurde einfach ein Konzert des Künstlers mit einer einzigen Kamera abgefilmt, die so entstandenen Filme wurden dann in Schall- plattenläden, Nachtclubs oder als bezahlte Werbung im Fernsehen gezeigt, um so das Interesse der Plattenkäufer zu erregen. Viele dieser Clips (auch von amerikanischen

Musikern) wurden für den europäischen, vor allem den britischen Markt produziert. Im Gegensatz zu den USA spielte Musik hier schon längere Zeit eine wichtige Rolle im Fernsehbereich und Sendungen wie Top of the Pops und Ready! Steady! Go! boten ein ideales Umfeld für diese neuen Werbefilme. In den USA jedoch wurden sie kaum ge- zeigt, was vor allem an der eingeschränkten Zielgruppe lag. Es bedurfte der Entwick- lung des Kabelfernsehens und des Senders MTV um ihnen zu ihrem Siegeszug zu verhelfen (vgl. Banks 1996: 29-30).

5.2 Entwicklung des Musikfernsehens in den USA

Betrachtet man die Literatur über die Entstehung und Anfangstage von MTV, so sind sich die Autoren einig, daß der Sender „weder ein Zufallsprodukt, noch der Genie- streich einzelner Macher“ (Schmidt 1999: 94) war. Vielmehr war es das Zusammen- treffen vieler technischer, politischer und ökonomischer Faktoren, welches das Projekt möglich machte und zum Erfolg führte.

5.2.1 Technische, politische und ökonomische Rahmenbedingungen

Einer der wichtigsten technischen Faktoren in der Entwicklung des Musikfernsehens dürfte zweifellos die Entstehung des Kabel- und Satellitenfernsehens und das starke Wachstum dieses Sektors in den frühen 80er Jahren sein. Home Box Office (HBO) war 1975 der erste Sender gewesen, der sein Programm über Satellit landesweit in alle

Kabelnetze einspeiste. Durch diese Entwicklung kam es im Lauf der Jahre nicht nur in den USA, sondern später auch in den etwas stärker regulierten Märkten Europas zu einer Fülle von Kabelkanälen, was zu einer immensen Zunahme an benötigtem Sende- material führte. In der Regel sprachen die neu entstandenen Kabel- und Satellitenkanäle eine bestimmte demographische Gruppe an, statt dem Massenpublikum, das die klas- sischen Fernsehnetworks suchten[25] (vgl. Goodwin 1992: 37-38).

In wirtschaftlicher Hinsicht bedeuteten die 80er Jahre einen Abschied vom Massen- markt und eine Hinwendung zur zielgruppenorientierten Vermarktung. Dieser Wandel spielte sich nicht nur in der Herstellung von Konsumgütern und der damit

25 Ein weiterer technischer Faktor war die Tatsache, daß im Laufe der 80er Jahre mehr und mehr Fernsehübertragungen in Stereo stattfanden und somit Musik weitaus ansprechender und wohlklingender ausgestrahlt werden konnte.

einhergehenden Produktwerbung, sondern auch in einer Fragmentierung der amerikanischen Popkultur und Medienlandschaft wieder. Spezialisierte Medien be- gannen, genauestens definierte und eingegrenzte Zielgruppen anzusprechen und Werbekunden so ein Ansprache dieser Zielgruppen ohne große Streuverluste zu ermöglichen (vgl. Banks 1996: 30-31).

Einen ebenso wichtigen Faktor stellt jedoch die Rezession dar, in der sich die Musik- industrie seit den ausgehenden 70er Jahren befand. Die Umsätze waren kontinuierlich gefallen26, Mitarbeiter wurden entlassen, Niederlassungen geschlossen. Die Folge:

„Neben vielerlei kontrovers diskutierten Ursachen (Home-Taping, Mangel an Stars, Konkurrenz durch die wachsende Anzahl alterna- tiver Medienprodukte, Rezession, etc.) war eines Konsens: Die Musikindustrie brauchte effektivere Formen der Produktwerbung. Konzerttourneen und das Radio als vormals einzige Formen der Pop- Promotion hatten sich als zu kostenintensiv, schwerfällig, konservativ und in der Reichweite zu begrenzt erwiesen“ (Schmidt 1999: 98).

An den Radiosendern der damaligen Zeit wurde vor allem kritisiert, daß sie zu konser- vativ und träge seien und es den Plattenfirmen nahezu unmöglich machten, neue und unbekannte Künstler aufzubauen. Die meisten Stationen hielten sich strikt an ihr ‚Classic Rock’-Format und spielten vorwiegend bewährte Hits bereits etablierter Stars.

Dies führte dazu, daß sich die gesamte Musikindustrie auf der Suche nach neuen Mög- lichkeiten der Werbung und Promotion befand und den Gedanken von einem Fernseh- kanal, der nichts anderes als Musikvideos ausstrahlen wollte, mit einer Mischung aus Verzweiflung und Interesse aufnahmen (vgl. Banks 1996: 31-33).

Ein letzter wichtiger Faktor, der den Weg für das Musikfernsehen ebnete, war sozio- kultureller Natur. Andrew Goodwin spricht (in Übereinstimmung mit einigen anderen Autoren) von zwei sich gegenseitig beeinflussenden Phänomenen, zum einen einer alternden Fangemeinde der Rockmusik, zum anderen der Entstehung einer Jugend- kultur, die sich – anders als in den vorigen Jahrzehnten – nicht mehr ausschließlich über

Musik definiert (vgl. Goodwin 1992: 39-41).

Lawrence Großberg geht sogar soweit, zu behaupten, daß das Fernsehen seit den 80er

Jahren in der Jugendkultur einen höheren Stellenwert habe als die Musik:

I f youth in the fifties, sixties and even seventies would have sacrificed anything rather than give up their music, there is increasing evidence that television plays the same role in the life of younger generations.” (Grossberg 1986: 63).

Abschließend kann also festgestellt werden, daß das Musikfernsehen weder in die Welt kam, weil ein paar Visionäre es über Nacht erfunden hatten, noch weil die Konsu- menten es gefordert hätten. Ebenso falsch ist jedoch die Annahme, Musikvideos und Clipkanäle seien eine clevere Erfindung der Musikindustrie um Jugendliche durch bunte Filme in die Plattenläden zu locken. Die Entstehung der Musikvideos und Musikfern- sehsender, wie wir sie heute kennen, beruht vielmehr auf einer Verkettung von tief- greifenden kulturellen, technischen, politischen und ökonomischen Veränderungen in den späten 70er und frühen 80er Jahren. Daß die Musikindustrie das Potential erkannte, das sich in der neuen Präsentationsform verbarg, soll damit ebenso wenig abgestritten werden, wie die Tatsache, daß das Publikum sich davon begeistert zeigte und somit den Siegszug dieses Mediums erst möglich machte.

5.2.2 Die ‚Erfindung’ von MTV

Das erste Unternehmen, das die beschriebenen Veränderungen erfaßte und beschloß, darauf zu reagieren, war Warner Communications, ein Medienkonglomerat mit Aktivi- täten in den Bereichen Film, Musik, Buch und Kabelfernsehen. 1979 waren 50% der Anteile der Sparte Kabelfernsehen von American Express gekauft worden, dieser Teil des Unternehmens wurde daraufhin in zwei Teile geteilt: Warner Amex Cable Company (WACC) und Warner Amex Satellite Entertainment Company (WASEC). Als ‚Vater‘ von MTV wird oftmals John A. Lack angeführt, der 1980 Leiter der WASEC wurde und den legendären Radio-Programmchef Robert Pittmann[27] anheuerte und damit beauftragte, ein Konzept für einen Videokanal zu erarbeiten. Daß Pittmann aus dem Radiobereich stammte, war kein Zufall, sollte der neue Musiksender doch die Eigen- schaften des Radios mit denen des Fernsehens verbinden. Typische Merkmale des

Radioprogramms, die in das Konzept von MTV übernommen wurde, waren beispiels- weise das Konzept der Playlist[28]. Andere dem Radio entlehnte Konzepte umfaßten einen stetigen Programmfluß[29] und die mögliche Rezeption als Nebenbeimedium (zum Thema Musikfernsehen als Nebenbeimedium vgl. Frielingsdorf 1995).

Was die Demographie der Zuschauer anbelangt, sollte der geplante Musiksender eine Nische besetzen, die bislang frei geblieben war: Auch wenn durch die Fragmentierung des Fernsehmarktes im Zuge der Verbreitung von Kabel- und Satellitenfernsehen mehr und mehr spezialisierte Sender auf den Markt kamen, hatte bisher niemand ein erfolg- reiches Programm entworfen, daß gezielt Teenager und junge Erwachsene ansprach und bediente. Die Altersgruppe zwischen 12 und 34 Jahren galt unter Werbe- und Marke- tingfachleuten stets als nur sehr schwierig über traditionelle Fernsehkanäle zu erreichen. Pittmann hoffte mit dem neuen Musikprogramm – das auf den Namen ‚Music Television MTV’ getauft wurde – den Werbekunden genau diese Altersgruppe liefern zu können.

Ein Vorteil, den die Planer des Musikkanals erkannt hatten, war die Tatsache, daß Videoclips, die von Plattenfirmen produziert und dem Sender kostenlos als Werbe- material zur Verfügung gestellt wurden, eine der kostengünstigsten Quellen für Sendematerial sein würde. Im Gegenzug versprach man der Plattenindustrie, besonders offen für neue und unbekannte Künstler zu sein und somit eine bessere Möglichkeit zur Promotion zu bieten als die konservativen Radiosender (vgl. Banks 1996: 32).

Bevor der Traum der Verantwortlichen von MTV jedoch Wirklichkeit wurde, mußte jedoch ausgiebig getestet werden, ob der Markt tatsächlich bereit für ein solches Unter- fangen sei. MTV sei der „most researched channel in history“ (zitiert nach Levy 1983:

33) gewesen, erinnert sich Marshall Cohen, der ehemalige Vizeprogrammchef. Um das

Konzept des Clipkanals zu testen, wurden zwei Sendungen in Auftrag gegeben, die

nach dem MTV-Prinzip funktionierten: Pop Clips wurde wöchentlich auf dem Warner- Sender Nickelodeon ausgestrahlt und verfügte mit VJs[30] und Videoclips bereits über die beiden wichtigsten Charakteristika des späteren MTV-Programms. Sight on Sound war ein tägliches Programm, das ausschließlich im berühmten interaktiven QUBE-Kabel- projekt in Columbus, Ohio zu sehen war. Dort gab es keine Moderation, die Zuschauer konnten durch das interaktive System (das von Warner entwickelt worden war, sich langfristig aber nicht durchsetzen konnte) ihre Lieblingsclips auswählen. (vgl. Quandt

1997: 56; Banks 1996: 32-33).

Das ausgedehnte Marktforschungsprogramm ergab, daß der Großteil des zu erwar- tenden Publikums männliche, weiße, im Durchschnitt zwischen 23 und 24 Jahre alte, gebildete Vorstadtbewohner sein würden. Und obwohl diese Zielgruppe den Umfragen zu Folge musikalisch eher an einem klassischen Rock-Format interessiert war, erlaubte es das Angebot an tatsächlich vorhandenen Videoclips MTV es nicht, in vollem Um- fang auf diese Wünsche einzugehen: Ein Großteil der zu diesem Zeitpunkt verfügbaren Musikvideos stammte aus England, von Bands der sogenannten ‚New Wave’

Bewegung[31]. Die Videos dieser Stilrichtung waren es, die MTV in den ersten Jahren

prägten und sein oft avantgardistisches Image verliehen. Überdies lieferten sie den Beweis dafür, daß der Sender durchaus in der Lage war, bislang (zumindest in den USA) wenig bekannter Musik Aufmerksamkeit und Verkaufszahlen zu verschaffen (vgl. Denisoff 1989: 44-47).

5.2.3 Die Phase der Etablierung (1981-1983)

Trotz aller Vorbereitungen und intensiver Marktforschung, stellte sich der Erfolg von MTV nicht augenblicklich ein. Da die meisten Kabelsysteme zur damaligen Zeit voll- kommen ausgelastet waren und nur selten über freie Kanäle verfügten, betrug die tech-

nische Reichweite des Musiksenders in der Anfangsphase gerade mal 1,8 Millionen

Haushalte. Dies stellte ein massives Problem für MTV dar und WASEC entschloß sich zu einer großangelegten Werbekampagne, mit deren Hilfe Kabelfirmen im ganzen Land davon überzeugt werden sollten, den Sender in ihr Programmangebot aufzunehmen[32]. Im Frühjahr 1982 startete der ‚I Want My MTV’-Werbefeldzug – eine Kampagne, in der zahlreiche prominente Musiker[33] die Zuschauer aufforderten, ihren lokalen Kabel- service anzurufen und zu verlangen, daß MTV ins Programm aufgenommen würde. Die Spots wurden landesweit im Fernsehen und Radio übertragen und zeigten schnell Wirkung – Jack Schneider erklärte gegenüber der Los Angeles Times stolz:

„Th e New York operators were swamped with calls. They finally said

‘Call off your dogs’. They couldn’t get any in-coming calls […]. All they had were young people calling asking for MTV” (zitiert nach Denisoff 1989: 83).

[...]


[1] In dieser Untersuchung wird der Begriff der Massenmedien im Sinne von Niklas Luhmann verwendet, der darunter „alle Einrichtungen einer Gesellschaft“ versteht, „die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Mittel der Vervielfältigung bedienen [...] sofern sie Produk te in großer Zahl mit noch unbestimmten Adressaten erzeugen“ (Luhmann 1996: 10).

[2] ‚Rock The Vote’ ist eine Initiative des Musiksenders MTV, die junge Amerikaner zu einer frühzeitigen Registrierung als Wähler veranlassen soll und somit die schlechte Wahlbeteiligung vor allem bei jungen Erwachsenen bislang mit respektablem Erfolg zu bekämpfen versucht.

[3] Viva Zwei wird nach Angaben der VIVA Media AG Anfang des Jahres 2002 in den neuen

‚Portalsender’ Viva+ umgewandelt. In einer Kooperation mit AOL Time Warner soll ein Kanal entstehen, bei dem Zuschauer einkaufen und an Spielen teilnehmen können, so Viva-Chef Dieter Gorny (vgl. N.N. 2001a: 21).

[4] VIACOM ist ein amerikanischer, vertikal sehr hoch integrierter Medienkonzern, zu dem u.a. die Filmfirma Paramount, Fernsehkanäle wie Nickelodeon, die Videothekenkette Blockbuster und zahlreiche amerikanische Kabelnetze gehören (vgl. Schmidt 1999). Eine genauere Schilderung des Konzerns ist in Kapitel 5.2.5 dieser Arbeit zu finden.

[5] Sogenannte ‚Webeos’ oder ‚I-Clips’, die optisch einfacher aufgemacht sind und nur einen Bruchteil des Speicherplatzes (bzw. der Bandbreite) benötigen, wie eine gewöhnliche Video-Datei.

[6] Die Begriffe World Wide Web (WWW) und Internet werden häufig synonym verwendet, dabei ist das WWW lediglich ein Dienst innerhalb des Internet. Er zeichnet sich vor allem durch seine leichte Bedienbarkeit aus, die keine speziellen Programmier- oder Hardwarekenntnisse erfordert (vgl. Beck 1999: 22-23).

[7] Eine genauere Schilderung der Angebote und Möglichkeiten der Websites von MTV und VIVA befindet sich in einem gesonderten Kapitel dieser Studie.

[8] In der Literatur wird deshalb häufig von Anwendungen mit niedrigem, mittlerem und hohem Interaktivitätslevel gesprochen (vgl. Ruhrmann 1997: 181-185).

[9] Auf die Hypothese der wachsenden Wissenskluft nach Tichenor, Donohue und Olien (1970) soll an dieser Stelle nicht vertiefend eingegangen werden.

[10] Damit soll nic ht unterstellt werden, daß Fernsehkonsum keinerlei Ansprüche an den Rezipienten stellt. Generell ist der Konsum jedoch ein passiverer, der häufig die Bedürfnisse des Rezipienten vor allem nach Entspannung und Erholung stillen soll.

[11] Manchmal gehören Hard - und Software bereits zusammen und werden zusammen erworben (wie bei einem Telefon oder Faxgerät), manchmal muß zunächst die Hardware erworben werden, um die Software, die ebenfalls gekauft werden muß, nutzen zu können (Beispiele hierfür wären Videorecorder, Fotokameras oder Videospiele). Häufig wird dabei die Hardware relativ preisgünstig verkauft um eine Vormachtstellung am Markt zu sichern und Profite später über den Verkauf der zugehörigen Software zu machen (vgl. zur sogenannten ‚Shaver-and-blades Strategie’ Rogers 1995: 13).

[12] Rogers führt als Beispiel an, daß eine Diffusionsstudie ein soziales System bestehend aus allen Bauern eines peruanischen Dorfes, allen Ärzten eines bestimmten Krankenhauses oder allen Einwohnern der Vereinigten Staaten analysieren kann (vgl. Rogers 1995: 23).

[13] Eine Person, die niemanden kennt, der eine E-Mail-Adresse hat, wird weitaus weniger Interesse daran haben, auf diese Art und Weise zu kommunizieren, als jemand dessen gesamter Freundes kreis über elektronische Post erreichbar ist. Letztgenannte wird sogar einen gewissen sozialen Druck verspüren, endlich nachzuziehen und die Innovation ebenfalls zu nutzen.

[14] Wer sich beispielsweise ein Bildtelefon anschafft, nach einem Jahr aber immer noch kaum Gebrauch davon machen kann, da die Innovation sonst von niemandem übernommen wird, könnte (unter anderem aus Kostengründen) das Bildtelefon wieder abschaffen.

[15] In der deutschen Übersetzung herrscht im Bereich dieses Ansatzes einige Verwirrung: Der Uses -And- Gratifications-Approach wird in der deutschen Literatur häufig mit ‚Nutzen- und Belohnungsansatz’ übersetzt oder aber schlicht mit ‚Nutzenansatz’. Dabei ist letztgenannter eigentlich eine Weiterentwicklung des Uses -And-Gratifications-Ansatzes der Forscher Renckstorf und Teichert aus den Siebziger Jahren. Als sinnvolle kurze Übersetzung für den ursprünglichen Uses -And- Gratifications-Ansatz nach Katz und Blumler wird die Bezeichnung ‚Nutzungsansatz’ vorgeschlagen.

[16] Während das Fernsehen tendenziell prädestinierter für Erholung, Entspannung und ‚Abschalten’ zu sein scheint, liegt die Vermutung nahe, daß interaktive Onlineangebote wie Chaträume und ähnliches eher das affektive Bedürfnisse nach Spannung und Aufregung befriedigen können.

[17] Ein Beispiel hierfür wären die Bewohner des Big Brother -Containers, die von vielen Rezipienten in Unterhaltungen mit anderen Zuschauern der Sendung behandelt wurden, als wären es gemeinsame Bekannte. Noch absurder wird es, wenn dasselbe Phänomen bei fiktiven Figuren, beispielsweise Charakteren aus der Lindenstraße zutage tritt.

[18] Beispiele hierfür wären Konstanten im Tagesablauf wie das Ansehen einer täglichen Soap Opera oder der Abendnachrichten, andererseits inhaltliche Regelmäßigkeiten, die dem Rezipienten Vertrautheit ermöglichen wie Genres, standardisierte Formate und ähnliches.

[19] Eine dynamische Untersuchung, die sich beispielsweise mit der Frage beschäftigt, ob und wie sich die Nutzung von Online- und Fernsehangeboten im Lauf mehrere Jahre verschiebt, wäre eine höchst interessante Anschlußforschung und könnte unter Umständen Antworten auf einige Fragen ergeben, die in dieser Arbeit nur angerissen werden können.

[20] In Frankreich gab es in den 60er Jahren ähnliche Maschinen, die ‚Scopitones’ genannt wurden.

[21] Einer der größten Nachteile war die Tatsache, daß die einzelnen Clips nacheinander auf einer langen Filmspule angeordnet waren, so daß ein potentieller Betrachter nie wissen konnte, welcher Musiker als nächstes gezeigt würde.

[22] Zum einen war es den Betreibern der Automaten nicht möglich, die Filmspulen schnell genug zu produzieren und zu wechseln, um mit den aktuellen Musiktrends mitzuhalten. Zum anderen kamen zu dieser Zeit die Juke - oder Musikboxen in Mode, bei denen man die Musik selbst auswählen konnte und zu denen besser getanzt werden konnte, als zu den für den einzelnen Betrachter konzipierten Panorams.

[23] Ein Konzept, das bis heute erfolgreich ist, beispielsweise in Form der Sendung Top of the Pops (in

Deutschland im Programm von RTL).

[24] Auch dieses Konzept findet sich im heutigen Fernsehgeschäft in ein er Sendung wie Popstars wieder. Eine weltweit syndizierte Sendung aus dem Hause Endemol, die in Deutschland von RTL 2 ausgestrahlt wurde und der künstlich erschaffenen Band NO ANGELS einen Nummer 1 Hit bescherte.

[25] Ein weiterer technischer Faktor war die Tatsache, daß im Laufe der 80er Jahre mehr und mehr Fernsehübertragungen in Stereo stattfanden und somit Musik weitaus ansprechender und wohlklingender ausgestrahlt werden konnte.

[26] So fielen die Umsätze im Bereich Tonträger beispielsweise von 726,2 Mio. US-$ im Jahr 1978 auf 575,6 Mio. im Jahr 1982, die Bruttoeinnahmen fielen in dieser Zeitspanne von 4,31 Mrd. Dollar auf 3,59 Mrd. (vgl. Frith 1988b: 92-93).

[27] Für eine ausführliche Darstellung der Entwicklung und der beteiligten Personen (u.a. John A. Lack, Robert Pittmann und Michael Nesmith) vgl. McGrath 1996: 11-43.

[28] Als Playlist bezeichnet man jene Auswahl von Stücken, die ein Sender regelmäßig spielt. Häufig sind die Titel einer Playlist in mehrere Gruppen unterteilt, die abgestuft wiedergeben, wie häufig ein Stück pro Tag oder pro Woche wiederholt wird.

[29] MTV sollte ohne klar abgegrenzte Sendungsformate auskommen, laut Aussage von Robert Pittmann „a channel with no programs, no beginning, no middle, no end“ (zitiert nach Banks 1996: 34).

[30] VJ steht fü r Videojockey, eine Wortkreation, die eine Mischung aus (Radio)-DJ und Moderator bezeichnet.

[31] Zu dieser (manchmal auch als ‚New Romantics’ bezeichneten) Richtung gehörten Bands wie DURAN DURAN, CULTURE CLUB, ABC und HUMAN LEAGUE. Diese Musikrichtung grenzte sich zum langsam verblassenden Punk der 70er Jahre vor allem durch Freiheit von Ideologien, Einsatz von elektronischen Instrumenten, einem unbeschwerteren Umgang mit kommerziellen Vermarktungsstrategien und den Medien generell ab (vgl. Goodwin 1992, 30-36).

[32] 1982 verfügten die meisten der Kabelsysteme über eine Kapazität von gerade mal 12 Kanälen. Einige davon waren durch die sogenannte ‚must carry rule’ gesetzlich für lokale Sender reserviert, so daß für zusätzliche Kanäle nur wenig Platz blieb

[33] Unter ihnen DAVID BOWIE, STING, die ROLLING STONES, ADAM ANT, PAT BENATAR und viele andere.

[34] Der Sendestart wurde beispielsweise lediglich von einer einzigen überregionalen Zeitung dokumentiert

Ende der Leseprobe aus 178 Seiten

Details

Titel
Digitale Gefahr für den Video Star? Nutzung und Akzeptanz der Onlineangebote der Musikfernsehsender in Deutschland
Untertitel
Eine empirische Analyse
Hochschule
Universität Münster  (Institut für Kommunikationswissenschaft)
Note
2,3
Autor
Jahr
2001
Seiten
178
Katalognummer
V4043
ISBN (eBook)
9783638125130
ISBN (Buch)
9783638696715
Dateigröße
2905 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Entwicklung des Musikfernsehens in den USA und Deutschland, Aktuelle Onlineangebote der deutschen Musikfernsehsender, www.mtv.de, www.viva.tv, Musikfernsehen der Zukunft, Difffusionsfoprschung, Uses-a
Arbeit zitieren
Christoph Koch (Autor:in), 2001, Digitale Gefahr für den Video Star? Nutzung und Akzeptanz der Onlineangebote der Musikfernsehsender in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/4043

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