Memoria im russischen Adel des 16. Jahrhunderts


Hausarbeit, 2005

15 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Memoria in Altrussland

Adel und Memoria

Das Iosif- Kloster und die Rolle des Adels

Das Speisungsbuch des Iosif- Klosters

Der Niedergang der Memoria im 17. Jahrhundert

Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

Einleitung

Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, wie sich die Memoria im russischen Adel entwickelte und entfaltete. Der Zeitraum wird auf das 16. Jahrhunderts eingeschränkt, den geographischen Schwerpunkt bildet der Ort Volokolamsk, indem das Iosif- Kloster beheimatet ist. Dieses, 1479 von Iosif Sanin gegründete Klostern, spielte beim Ausbau der monastischen Totensorge eine Führungsrolle.[1]

Es liegen zahlreiche Quellen zur Geschichte dieser Stätte vor, besonders bemerkenswert ist dabei der Zeitraum zwischen 1479 bis 1612. Die größte Quellendichte lässt sich zwischen den Jahren 1530 und 1590 festmachen, eine Phase, in der das Iosif- Kloster seine höchste Blüte erreichte.

Die Quellengrundlage dieser Arbeit bildet das `Speisungsbuch` (Kornmovojspisok) des Iosif- Klosters, dass der Historiker Ludwig Steindorff übersetzt und herausgegeben hat.[2] In diesem Buch sind die Termine der Speisungen zum Totengedenken, sowie die Stiftungen, die die Speisung begründen, verzeichnet. Aus den erbrachten Stiftungsleistungen ist es möglich, Rückschlüsse auf Status und Vermögen der verzeichneten Personen zu ziehen.

Zunächst werde ich auf die Entwicklungslinien der Memoria in Altrussland eingehen, wobei erst einmal der Begriff der Memoria geklärt werden soll. Es folgt ein Blick auf die unterschiedlichen Formen der Memoria, die für das 16. Jahrhundert in Altrussland charakteristisch waren. Das Verhältnis des Adels zur Memoria steht danach im Blickpunkt der Betrachtung, wobei das Glaubensbekenntnis dieser sozialen Gruppe eine besondere Berücksichtigung erfahren soll. Die Rolle des Adels bei der Gründung des Iosif- Klosters, sowie die Entwicklung des Stiftungsverhaltens und ihre Bedeutung werden im darauf folgenden Kapitel besprochen. Anhand des Speisungsbuches sollen die Stiftungen einer genaueren Analyse unterzogen werden, abschließend werde ich auf den Niedergang der Memoria im 17. Jahrhundert eingehen.

Memoria in Altrussland

Die orthodoxe Kirche des russischen Mittelalters war eine monastische Kirche, in der der Mönch eine herausragende Stellung innehatte.[3] Die dominante Stellung der Mönche wuchs im 14. Jahrhundert weiter, man spricht für diese Phase von einem `asketischen Zeitalter`. Viele Mönche kamen aus den oberen Gesellschaftsschichten, also vor allem Landbesitzer, Fürsten und Bojaren. Allerdings gab es im 16. Jahrhundert keine Bischöfe, die bojarischer Herkunft waren, Ausnahmen lassen sich hierfür nur im 14. und 15. Jahrhundert finden.[4]

Die Geschichte der liturgischen Praxis in Russland ist durch mehrere Zäsuren geprägt. In den ersten Jahrhunderten nach Annahme des Christentums orientierte sich die Kirche am griechischen Vorbild.[5] Seit dem 14. Jahrhundert lässt sich eine Tendenz zur Aufnahme südslavischer Einflüsse feststellen, es kam zu einer Vermischung griechischer und südslavischer Elemente. Insgesamt zeichnet sich die Ostkirche durch eine hohe Kontinuität in Grundaufbau und Selbstverständnis aus. Sie ist sehr stabil in ihren Sprachbildern und den darin ausgedrückten Jenseitsvorstellungen.[6]

Die Memoria war fest eingebunden in die liturgischen Zyklen (Tages-, Wochen-, beweglichen und unbeweglichen Jahreskreis des liturgischen Ablaufes). Eine Definition des Wortes Memoria ist dabei nicht leicht zu finden, am ehesten lässt es sich mit Totengedenken übersetzen. Im Kern zielt die Memoria darauf ab, die Anwesenheit des Kommemorierten zu ersetzen und der Gruppe so über seine Abwesenheit hinweg zur Selbstvergewisserung zu verhelfen. Der biologische Tod eines Menschen bedeutete dabei nicht notwendigerweise den Abbruch personaler Beziehungen (das Ende einer sozialen Interaktion).[7] Vielmehr wird er als Übergang in einen Zustand gesteigerter persönlicher Mächtigkeit und damit potenzierten personalen Seins gewertet. Hans- Peter Hasenfratz kommt in diesem Zusammenhang zu der Schlussfolgerung: Es ist der `soziale Tod, der über Existenz oder Nichtexistenz im Rahmen des archaischen Kollektivs entscheidet, nicht der `biologische Tod`.[8] Damit stoßen wir auf einen bedeutsamen Gegensatz zu unserer heutigen Sichtweise, die ja gerade den Tod als `Endstation` begreift und die Kontaktaufnahme zum Jenseits negiert.

Eine eindeutige Definition des Begriffes Memoria lässt sich bei Ludwig Steindorff finden, der feststellt: Memoria ist der Selbstvergewisserung einer sozialen Gruppe dienende Erinnerung; sie ist Ersatz für die Anwesenheit des Kommemorierten in der Gruppe; Memoria ist gebunden an Formen, die von der Gruppe durch Konvention anerkannt sind.[9]

Es gab unterschiedliche Formen der Memoria, sie konnte sich nicht nur in der Nennung und Stiftung äußern, sondern auch in der Mildtätigkeit gegenüber Armen und Kranken manifestieren. Die milde Gabe diente vor allem dem eigenen Seelenheil, der sündhafte Lebenswandel sollte damit `freigekauft` werden.

Aus dem 16. Jahrhundert ist uns ein Testament des Fürsten Ivan Glinskij überliefert, dass diese Praxis offenbart: Er verfügte die Spende insgesamt 65 Rubel für Arme und Bettler, sowie Spendenleistungen an verschiedene Kirchen, wofür in ihnen 40 Tage lang seiner Seele gedacht werden sollte.[10]

Es ging folglich um eine Aussöhnung vor dem Tod, wie auch das Beispiel des Fürsten Jaroslav Vladimirovic von Galic offenbart: Ich scheide nun von dieser flüchtigen Welt und gehe zu meinem Schöpfer, doch habe ich mehr gesündigt, wie kein anderer gesündigt hat. Väter und Brüder, verzeiht und vergebt mit![11]

Es lässt sich feststellen, dass die Höhe der Spendenleistung häufig in einem engen Zusammenhang mit einer großen Sündhaftigkeit im Leben stand, je höher die Spende, umso höher waren folglich auch die begangenen Sünden.

Aus den Stiftungsurkunden der russischen Dienstadligen aus dem 16. Jahrhundert lässt sich entnehmen, dass sich die Stifter als Individuen im Kreis ihrer Seinen präsentieren. Die Individualität wird hier allerdings noch in einem traditionellen Sinne verstanden, es ging hauptsächlich darum, den Erhalt sozialer Bindungen zu sichern. Die Kontrolle über diese Beziehungen lag dabei nicht beim Individuum selbst, sondern erfolgte durch physische, soziale und übernatürliche Systeme. Zentrales Mittel der Vergemeinschaft des Individuums war die Memoria, man gewährte und empfing Gedenken für Tote, als auch, in geringerem Umfang, für Lebende.

Die Memoria verdeutlicht aber auch die fortschreitende Selbstbezogenheit des Individuums: Man sicherte seinen Namen und beanspruchte das Recht und erfüllte die Pflicht individueller Verfügung über die Sicherung des Seelenheiles.[12]

Die Memorialkultur umfasste ein Dreistufiges System, das nach dem Wert der Stiftungen und liturgischen Gegenleistungen gegliedert war. Die niedrigste Stufe bildete der Eintrag in den vecnyj sinodik, den `Ewigen Sinodik`.[13] Der Eintrag kostete ein Viertel Rubel und war unbefristet. Der Eintrag in die `Tägliche Liste` (povsednevnyj spisok) kostete bereits für ein Jahr einen Rubel, für einen unbefristeten Eintrag mussten Stiftungen im Wert von 50 Rubel geleistet werden. Die povsednevnyj spisok wurde täglich gelesen und kann als zweite Stufe der Kommemoration gewertet werden. Die höchste Stufe war die Korm, die so genannte `Speisung`, die am Todes- oder Namenstag stattfand. Sie umfasste ein Festessen mit einem abschließenden Tischspruch auf den Kommemorierten, sowie der Lesung des Eintrags im Kornmovojspisok (`Speisungsbuch`).[14]

Eine höhere Stufe der Kommemoration, schloss die niedrigen Stufen jeweils ein, wobei die Betrachtung der drei Stufen erlaubt, wen der Einzelne zu den Seinen rechnete. Je näher die Person dem Stifter stand, umso höher war die Stufe der Kommemoration, für die er stiftete.

[...]


[1] Steindorff, Ludwig, Memoria in Altrussland, Stuttgart 1994., S. 164f.

[2] ders., Das Speisungsbuch von Volokolamsk, Köln, Weimar, Wien, 1998.

[3] Bushkovitch, Religion and Society in Russia, The Sixteenth and Seventeenth Centuries, New York, Oxford 1992, S. 10.

[4] Ebd., S. 40.

[5] Steindorff, Ludwig, Memoria in Altrussland, Untersuchungen zu den Formen christlicher Totensorge, Stuttgart 1994, S. 36.

[6] Ebd., S. 37.

[7] Hasenfratz, Hans- Peter, Zum sozialen Tod in archaischen Gesellschaften, in: Saeculum 34, 1982, S. 127.

[8] Ebd., S. 128.

[9] Steindorff, Ludwig, Memoria in Altrussland, Untersuchungen zu den Formen christlicher Totensorge, Stuttgart 1994, S. 24.

[10] in: Rüß, Hartmut, Herren und Diener, Beiträge zur Geschichte Osteuropas 17, Köln, Weimar, Wien 1994, S. 205.

[11] Steindorff, Ludwig, Memoria in Altrussland, Untersuchungen zu den Formen christlicher Totensorge, Stuttgart 1994, S. 26.

[12] Ebd.

[13] Begriff „Sinodik“: Lehnwort aus griechisch „synodikon“; ursprünglich nur zur Bezeichnung des Synodikon der Orthodoxie, das am ersten Sonntag der Großen Fastenzeit gelesen wird/ - ausschließlich in Novgorod und im Moskauer Russland erfolgte die metonymische Bedeutungserweiterung zur Bezeichnung auch von Namenlisten für das Totengedenken im liturgischen Tageskreis.

[14] Speisungsliste: Kalendarisch nach den Speisungsterminen geordnetes Buch, in dem die Namen der Kommemorierten gemeinsam mit einem meist größeren Kreis von Verwandten eingetragen wurden.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Memoria im russischen Adel des 16. Jahrhunderts
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
15
Katalognummer
V40980
ISBN (eBook)
9783638393553
ISBN (Buch)
9783638863872
Dateigröße
459 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Memoria, Adel, Jahrhunderts, 16. Jahrhundert, Geschichte
Arbeit zitieren
Richard Oehmig (Autor:in), 2005, Memoria im russischen Adel des 16. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40980

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