Schulreife und Schulfähigkeit: Über das Kieler Einschulungsverfahren


Hausarbeit, 2004

26 Seiten, Note: 1


Leseprobe


INHALT

I. Schulreife, Schulfähigkeit, Schulbereitschaft
1. Allgemeine Problematik
2. Der Wandel der Schulfähigkeitsdiskussion
2.1. Schulreife
2.2. Der Wandel zur Schulfähigkeit
2.3. Schulfähigkeit auf der Grundlage der Lerntheorie
2.4. Schulfähigkeit aus ökosystemischer Perspektive
2.5. Schulfähigkeit als Entwicklungsaufgabe sowie als soziokulturelles Konstrukt

II. Das Kieler Einschulungsverfahren
1. Hintergrundinformationen
1.1. Begründung des Verfahrens
1.2. Die Inhaltsbereiche
2. Die 3 Bausteine des Verfahrens
2.1. Das Elterngespräch
2.1.1. Allgemeine Hinweise
2.1.2. Durchführung
2.2. Das Unterrichtsspiel
2.2.1. Allgemeine Hinweise
2.2.2. Durchführung
2.2.3. Darstellung der Aufgaben
2.2.3.1. Das Spiel zum Kennenlernen
2.2.3.2. Malen und Ausschneiden eines Hauses
2.2.3.3. Zeichnen von Formen und Linien in den Wegen
2.2.3.4. Arbeit mit Käfern
2.2.3.5. Erzählen zu einem Wandbild
2.2.3.6. Legen und Erzählen einer Bildergeschichte
2.2.3.7. Turnen
2.3.Die Einzeluntersuchung
3.Die Auswertung und Entscheidungsfindung
4. Betrachtung der Gütekriterien
4.1. Objektivität
4.2. Reliabilität
4.3. Validität
5. Kritische Betrachtung
5.1. positive Aspekte
5.2. negative Aspekte
6. Neuere Ansätze zur Diagnose und Förderung von Schulfähigkeit

III. Resümee

Abkürzungen
- FST: Frankfurter Schulreifetest
- MSD: Mannheimer Schuleingangs – Diagnostikum
- KEV: Kieler Einschulungsverfahren

I. Schulreife, Schulfähigkeit, Schulbereitschaft

1. Allgemeine Problematik

Zu einem bestimmtem Termin wird in Deutschland (Spanne: 30. 6. – 30.9., je nach Bundesland) jedes Kind schulpflichtig. Als problematisch erweist sich, dass jährlich ca. 10% der schulpflichtigen Kinder zurückgestellt werden[1]. Sie sind nicht schulfähig, was immer dies auch bedeuten mag.

Faust-Siehl plädiert für eine Abschaffung des Begriffs „Schulfähigkeit“ und fordert einen integrierten Schulanfang. Für Nickel ist der Begriff nicht so entscheidend, sondern das Konstrukt, welches dahintersteht. Richter stellt die „Schulfähigkeit des Kindes“ oder die „Kindfähigkeit der Schule“ zur Diskussion. Kammermeyer, orientiert am Modell Nickels, welches später noch erläutert wird, möchte diesen Begriff beibehalten, denn er beinhaltet ein grundlegendes pädagogisches Ziel: die Zusammenarbeit aller an der Erziehung Beteiligten.[2] Der Begriff von Schenk-Danzinger „Schulbereitschaft“, welcher neben dem Kinde auch weiter Faktoren zu berücksichtigen versucht (Motivation, Lernanregung,...) konnte sich nicht durchsetzen.

Um Verfahren zur Schuleingangsdiagnostik, wie das KEV, bewerten zu können und insgesamt in der Schulfähigkeitsdikussion einen Überblick behalten zu können bedarf es vor einer näheren Betrachtung des KEV einer Auseinandersetzung mit dem Wandel der Konzepte von Schulfähigkeit.

2. Der Wandel der Schulfähigkeitsdiskussion

2.1. Schulreife

Als bedeutendster Vertreter ist Arthur Kern (1951) zu nennen. Dem „Sitzenbleiberelend“ möchte er durch Zurückstellung begegnen. Grundsätzlich vertritt er, orientiert an Kroh, die Annahme, dass ein Kind zum 7. Lebensjahr hin einen reifungsbedingten Entwicklungsschub vom Kleinkind zum Schulkind macht. Dies bedeutet also, dass die Schulreife das Ergebnis eines endogenen gesteuerten Reifungsprozesses ist. Demnach ist Schulversagen ein Ergebnis mangelnden Schulreife. Lernanregungen haben seiner Ansicht nach keinen Erfolg. Weiter reicht nach Kern nur ein Kriterium aus, um Schulreife bestimmen zu können, denn vom Reifestand einer Fähigkeit kann auf den Reifestand einer anderen geschlossen werden. Dementsprechend sind natürlich die Testverfahren gestaltet: Am bedeutendsten ist die visuelle Gliederungsfähigkeit. Ein Kind war schulreif, wenn es sich selbst gut malen konnte. Mit Kern wurde 2 mal das Einschulungsalter angehoben.[3]

2.2. Der Wandel zur Schulfähigkeit

Kemmler stellte 1967 ein vermehrtes Schulversagen (Klassenwiederholung, kein Schulabschluss etc.) bei zurückgestellten Kindern fest. Es tritt die Forderung hervor, Umweltanregungen zu bieten, die Kinder zu fördern. Mit Kromann lautete dann die Devise: „Fördern vor Auslese“, während bei Kern die Selektionsdiagnostik im Vordergrund stand.[4] Krapp (1980) definierte sodann Schulfähigkeit wie folgt:

Sie ist „die Summe jener Voraussetzungen, die ein Kind für das erfolgreiche Durchlaufen des jeweils üblichen Erstunterrichts mitbringen soll“ (zitiert in Richter 1999, 10).

Weitere Konzepte, die nicht mehr nur individuumzentriert sind folgen.

2.3. Schulfähigkeit auf der Grundlage der Lerntheorie

Kemmler und Heckhausen fanden 1962 heraus, dass die Gliederungsfähigkeit trainierbar ist. Somit ist sie keine stabile und reifungsabhängige Persönlichkeitseigenschaft, wie erst angenommen. Von diesem Zeitpunkt an steht das Ziel der Förderung bei der Schuleingangsdiagnostik im Vordergrund. Es geht um die Optimierung des Verhaltens und der Bedingungen. Der Schulfähigkeitsbegriff wird nun zum relativen Begriff.[5] Nickel beklagt jedoch die nun einsetzende Überbetonung der kognitiven Förderung und entwickelt in den 80ern das ökopsychologische Schulreifemodell.

2.4. Schulfähigkeit aus ökosystemischer Perspektive

Gemäß Nickel ist es entscheidend, den Blick bei der Problematik der Schulfähigkeit auf das gesamte System zu richten, in welches das Kind eingebettet ist. Unter anderem begründet er dies damit, dass schulische Anforderungen von Land zu Land und von Klasse zu Klasse variieren, was sich an der unterschiedlichen Zahl der Klassenwiederholungen oder Zurückstellungen aufzeigen lässt. Weiter hatten Schüler mit gleichen Testpunktwerten unterschiedliche Erfolgschanchen in Abhängigkeit von der Qualität des Anfangsunterrichts. Seine Vorstellung von „Schulreife“ (der Begriff ist bei Nickel nicht das entscheidende; man spricht auch von Hochschulreife, etc.) ist die eines interaktionistischen bzw, transaktionalen Beziehungssystems.

Nach Nickel`s erweitertem Modell (in Anlehnung an Bronfenbrenner) sieht der ökologische Übergang wie folgt aus (s. untenstehende Abbildung): Das Kind vollzieht einen Wechsel des Mesosystems.[6] Es wird entweder ein neuer oder ein anderer außerfamiliärer institutioneller Lebensbereich hinzukommen. Das Kind mit seinen körperlichen, geistigen und motivationalen Voraussetzungen steht nun den Herausforderungen der Schule, denen des Anfangsunterrichts gegenüber. Dies erfordert einerseits eine hohe Bereitschaft und Fähigkeit zur Anpassung, weshalb man dem Schulanfang auch einen Krisencharakter beimessen kann. Andererseits erfordert der Schulanfang, der Übergang in ein neues Mikrosystem Bewältigungsstrategien. Diese stimulieren die psychische Entwicklung, wonach man dann auch von einer Entwicklungsförderung sprechen kann.[7] Mit Nickel ergibt sich ein neue Sichtweise vom Begriff „Schulfähigkeit“.

Schuleingangsdiagnostik muss als vorlaufende und als prozessdiagnostische Entscheidungshilfe dienen. Zum einen bedarf es einer verlässlichen Basis weit vor dem Einschulungstermin. So sollen Informationen der Eltern und Erzieher in die Entscheidung mit einbezogen werden. Die Diagnose muss sodann unterrichtsbegleitend und wenn möglich unterstützt durch die Schulberatung fortgeführt werden um so zum einen Hinweise für Interventionen (innere Differenzierung) zu bekommen und andererseits den Erfolg der Interventionen überprüfen zu können. Die innere Differenzierung erweist sich als äußerst notwendig, um jedem Kind so gut wie möglich gerecht werden zu können. Dumke (1980) konnte diesbezüglich große Erfolge feststellen.

2.5. Schulfähigkeit als Entwicklungsaufgabe sowie als soziokulturelles Kostrukt

Der Schuleintritt als ökologischer Übergang kann als Rahmen für die Entwicklungsaufgabe „Schulfähigkeit“ gesehen werden. Kammermeyer hält wie Einsiedler am Begriff „Schulfähigkeit“ fest, da dies ein zentraler pädagogischer Zielbegriff ist, welchen man wie in den USA als Erziehungsziel definieren sollte. Da der Schulanfang gemäß Richter u.a. keine „Stunde Null“ ist müssen laut Kammermeyer vorschulische Einrichtungen unbedingt in die Reform des Schulanfangs miteinbezogen werden. Es geht z.B. um die Förderung von Fähigkeiten, welche für das Lernen von Lesen und Schreiben bedeutend sind. So soll z.B. die phonologische Bewusstheit über Regelspiele (Heraushören von Lauten, etc.) gefördert werden.

Der Wandel des Konstrukts „Schulreife“ von der individuumzentrierten Sicht zur ökosystemischen Perspektive zieht also Konsequenzen im Bereich des Kindergartens, der Schuleingangsdiagnostik und des Anfangsunterrichts nach sich.

Weiter kann man nach Kammermeyer „Schulfähigkeit auch als soziokulturelles Konstrukt ansehen. Sie verweist auf Studienergebnisse der USA wo laut Smith und Shepard gemeinsame subjektive Theorien über den Schulanfang von Personen in bestimmten sozialen Settings (z.B. Schulsprengel) bestehen. (Smith und Shepard 1988: Zusammenhang zwischen subjektiven Theorien und Zurückstellungpraktiken!).[8] Kammermeyer (2000) spricht von einer regelrechten „Schulfähigkeitsphilosophie“. In ihrer Studie untersuchte sie Lehrer (65) und Erzieher (53) unter der Fragestellung: „Welche Schulfähigkeitskriterien sind bei der Entscheidung „schulfähig oder nicht“ wichtig. Es zeigte sich, dass subjektive Theorien sowohl bei Lehrern als auch bei den Erziehern bestehen. Für die Lehrer waren beispielsweise die Kriterien Sozialverhalten, Sprachverständnis, Wahrnehmung und Konzentration am wichtigsten. Bei den Erziehern standen die Selbständigkeit, das Sprachverständnis sowie die Wahrnehmung an erster Stelle. Die hohe Bewertung der Selbständigkeit spielte bei den Lehrern eine geringere Rolle. Die Gewichtung sei laut Kammermeyer je nach Lehrertypus unterschiedlich. Bevorzugt eine Lehrperson eher offene Unterrichtsformen, so erachtet sie diesen Aspekt als wesentlich bedeutsamer als ein Lehrer, der einen lehrerzentrierten Unterricht präferiert.

Im folgenden wird das gängige Kieler Einschulungsverfahren betrachtet. Anschließend erfolgt ein kritischer Überblick vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion bezüglich „Schulfähigkeit“.

II. Das Kieler Einschulungsverfahren

1. Hintergrundinformationen

1.1. Begründung des Verfahrens

Das zu besprechende Verfahren zur Schuleingangsdiagnostik wurde im Zeitraum von 1982 bis 1985 an insgesamt 16 Schulen (Schleswig-Holstein) erprobt und überarbeitet. Seine Aussagefähigkeit konnte hierbei bestätigt werden.

Das Kieler Einschulungsverfahren sieht sich als unabdingbare Erweiterung der bisher gängigen Schulreifetests (Reutlinger Test für Schulanfänger, Duisburger Vorschul- und Einschulungstest, etc.), bei welchen vorwiegend kognitive Leistungen betrachtet wurden.

Zwar korrelieren diese am höchsten mit dem ersten Schulerfolg, doch konnten in Untersuchungen von Krapp u.a. auch noch weitere nicht zu vernachlässigende Bereiche aufgezeigt werden. Um nämlich bei der Beurteilung das Kind als Gesamtpersönlichkeit einbeziehen zu können sind neben kognitiven Komponenten auch Fähigkeiten wie z.B. im sozialen oder emotionalen Bereich unbedingt zu berücksichtigen.

So gliedert sich das Verfahren in 10 Inhaltsbereiche, welche in den jeweiligen Aufgaben unterschiedlich berücksichtigt werden. Das Verfahren an sich gliedert sich in 3 grundlegende Bausteine (Elterngespräch, Unterrichtsspiel, Einzeluntersuchung), welche unter Punkt 2 erläutert werden sollen. Zunächst wird ein Überblick der 10 Inhaltsbereiche gegeben.

[...]


[1] Vgl. Richter 1999, 8

[2] vgl. Kammermeyer 2001, 104/105

[3] vgl. Kammermeyer 2001, 96/97

[4] vgl. Richter 1999, 9/10

[5] vgl. Kammermeyer 2001, 98

[6] Mesosystems = alle Mikrosysteme, denen das Kind zu einem bestimmten Zeitpunkt angehört (vgl. Nickel, in GS-Reader 2000)

[7] vgl. Kammermeyer 2001, 99 ff.

[8] vgl. Kammermeyer 2001, 103

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Schulreife und Schulfähigkeit: Über das Kieler Einschulungsverfahren
Hochschule
Universität Regensburg  (Psychologie)
Veranstaltung
Testanwendungen in der Schule
Note
1
Autor
Jahr
2004
Seiten
26
Katalognummer
V41044
ISBN (eBook)
9783638393973
ISBN (Buch)
9783638939058
Dateigröße
1822 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Sehr detaillierte Auseinandersetzung mit dem Wandel der Schulfähigkeitsdiskussion, sowie eine kritische Betrachtung des Kieler Einschulungsverfahrens, sowie Darstellung neuerer 7 derzeit vertretener Ansätze zur Diagnose und Förderung von Schulfähigkeit
Schlagworte
Schulreife, Schulfähigkeit, Kieler, Einschulungsverfahren, Testanwendungen, Schule
Arbeit zitieren
Yvonne Sindermann (Autor:in), 2004, Schulreife und Schulfähigkeit: Über das Kieler Einschulungsverfahren, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/41044

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