Wolfgang Kayser (1906-1960) beschäftigt sich in seinem Text "Wer erzählt den Roman?" mit eben dieser Frage nach dem Erzähler eines Romans. Er stellt in seinem Text einige Thesen auf, beginnend mit der These: Ein Erzähler ist in allen Werken der Erzählkunst vorhanden, im Epos wie im Märchen, in der Novelle wie in der Anekdote. Daraufhin erschließt sich Kaysers zweite These: Ein Erzähler ist nie der Autor, sondern eine Rolle, die der Autor erfindet und einnimmt. In den fiktionalen Texten der Erzählkunst spricht der Autor also nicht als er selbst, sondern überlässt dem Rollen-Ich eines Erzählers das Wort. An dieser Stelle bringt er das Beispiel des Vaters und der Mutter ein, die wissen, dass sie sich verwandeln müssen, wenn sie ihren Kindern ein Märchen erzählen wollen. Sie müssen ihre überlegene und aufgeklärte Position des Erwachsenen ablegen und sich "in ein Wesen verwandeln, für das die dichterische Welt mit ihren Wunderbarkeiten Wirklichkeit ist."1 Der Erzähler ist überzeugt von dem Wahrheitsgehalt der Geschichten die er erzählt, auch wenn es vielleicht Lügenmärchen sind. Ein Autor dagegen kann nicht lügen, sondern bloß gut oder schlecht schreiben. Die Funktion des Autors wird dadurch in einer wichtigen Hinsicht eingeschränkt. Die Behauptungen des Erzählers können nicht mehr als direkte Aussprache der Autormeinung verstanden werden. Als Sprecherinstanz fiktionaler Texte erscheint vielmehr die Figur eines fiktiven, vom Autor imaginierten Erzählers. Autor und Erzähler kommunizieren demgemäß auf verschiedene Weise mit dem Leser. Der Erzähler sagt etwas, während der Autor etwas ausdrückt. Deutlich wird die Behauptung, der Erzähler sei eine gedichtete Person, in die sich der Autor verwandelt hat, an Melvilles Roman "Moby Dick". Die Hauptfigur der Erzählung ist ein einfacher primitiver Seemann mit dem Namen Ishmael. Doch dieser Mann weiß Dinge, die er als einfacher Seemann nicht wissen kann. Er kennt sich in den Naturwissenschaften und in der Geschichte aus, er hat Rabelais, Locke, Kant und Goethe gelesen. An einer Stelle im Roman zählt er Leute auf, die über Cetologie und die Wissenschaft vom Wal geschrieben haben. „Nennen wir nur schnell einige wenige: die Verfasser der Bibel, Aristoteles, Plinius; Aldrovandi, Sir Thomas Browne, Gesner, Ray, Linné, Rondetelius, Willoughby, Green [...]“ 2.
Inhaltsverzeichnis
I. Texte zur Theorie der Autorschaft
1.1 Wolfgang Kayser: Wer erzählt den Roman?
1.2 Wayne C. Booth: Der implizite Autor
II. Modell kollektiver Autorschaft: Grond Absolut Homer
2.1 Was versteht Walter Grond unter einem „transindividuellen Roman“?
2.2 Diskussion des Autorschaftsmodells von „Grond Absolut Homer“ aus der Sicht einiger Thesen der Theorieansätze von W. Kayser und W.C.Booth
III. Literaturverzeichnis
I. Texte zur Theorie der Autorschaft
1.1 Wolfgang Kayser: Wer erzählt den Roman?
Wolfgang Kayser (1906-1960) beschäftigt sich in seinem Text "Wer erzählt den Roman?" mit eben dieser Frage nach dem Erzähler eines Romans. Er stellt in seinem Text einige Thesen auf, beginnend mit der These: Ein Erzähler ist in allen Werken der Erzählkunst vorhanden, im Epos wie im Märchen, in der Novelle wie in der Anekdote. Daraufhin erschließt sich Kaysers zweite These: Ein Erzähler ist nie der Autor, sondern eine Rolle, die der Autor erfindet und einnimmt. In den fiktionalen Texten der Erzählkunst spricht der Autor also nicht als er selbst, sondern überlässt dem Rollen-Ich eines Erzählers das Wort. An dieser Stelle bringt er das Beispiel des Vaters und der Mutter ein, die wissen, dass sie sich verwandeln müssen, wenn sie ihren Kindern ein Märchen erzählen wollen. Sie müssen ihre überlegene und aufgeklärte Position des Erwachsenen ablegen und sich "in ein Wesen verwandeln, für das die dichterische Welt mit ihren Wunderbarkeiten Wirklichkeit ist."[1] Der Erzähler ist überzeugt von dem Wahrheitsgehalt der Geschichten die er erzählt, auch wenn es vielleicht Lügenmärchen sind. Ein Autor dagegen kann nicht lügen, sondern bloß gut oder schlecht schreiben. Die Funktion des Autors wird dadurch in einer wichtigen Hinsicht eingeschränkt. Die Behauptungen des Erzählers können nicht mehr als direkte Aussprache der Autormeinung verstanden werden. Als Sprecherinstanz fiktionaler Texte erscheint vielmehr die Figur eines fiktiven, vom Autor imaginierten Erzählers. Autor und Erzähler kommunizieren demgemäß auf verschiedene Weise mit dem Leser. Der Erzähler sagt etwas, während der Autor etwas ausdrückt. Deutlich wird die Behauptung, der Erzähler sei eine gedichtete Person, in die sich der Autor verwandelt hat, an Melvilles Roman "Moby Dick". Die Hauptfigur der Erzählung ist ein einfacher primitiver Seemann mit dem Namen Ishmael. Doch dieser Mann weiß Dinge, die er als einfacher Seemann nicht wissen kann. Er kennt sich in den Naturwissenschaften und in der Geschichte aus, er hat Rabelais, Locke, Kant und Goethe gelesen. An einer Stelle im Roman zählt er Leute auf, die über Cetologie und die Wissenschaft vom Wal geschrieben haben. „Nennen wir nur schnell einige wenige: die Verfasser der Bibel, Aristoteles, Plinius; Aldrovandi, Sir Thomas Browne, Gesner, Ray, Linné, Rondetelius, Willoughby, Green [...]“[2]. Zudem berichtet er über heimlich geführte Gespräche anderer Leute und weiß über die inneren Selbstgespräche und Gedanken des Kapitäns Bescheid. Das bedeutet, dass sich der Autor in die von ihm erdichtete Person verwandelt hat. Der einfache Seemann hat nun das Wissen, über das der Autor verfügt.
Weiterhin ist Kayser der Meinung, dass die Grenzen zwischen Ich-Form und Er-Form schwinden, da die Leichtigkeit mit der ein Ich-Erzähler sich zwischen seinem Erzählerstandpunkt und dem erzählten hin und her bewegt, auch den Er-Erzähler kennzeichnet. Auch kann der Erzähler zugleich an zwei Orten sein oder sogar in zwei Zeitordnungen leben.
Eine weitere These die Kayser aufstellt ist, dass der Erzähler allwissend ist. Einem normalen Menschen ist es nicht möglich, die Gedanken und Gefühle des anderen zu lesen. Er kann die Gedanken und Gefühle höchstens durch die Worte und Gebärden des anderen erfahren. Der Erzähler dagegen weiß um die Gedanken und Gefühle jeder einzelnen Person in der Erzählung, er kann in die Zukunft und Vergangenheit sehen. Er ist allwissend.
Abschließend kommt Kayser zu der Ansicht, dass sich eine neue Sicht des Erzählers aufgedrängt hat: "die zum allwissenden und allgegenwärtigen Gott"[3]. Er sagt, dass der Erzähler des Romans nicht der Autor ist, aber auch nicht die gedichtete Gestalt die dem Leser entgegentritt, sondern das hinter dieser Maske der Roman steht, der sich selber erzählt. "Der Erzähler des Romans , in einer Analogie verdeutlicht, ist der mythische Weltschöpfer."[4] Er spricht von einem Geist der Erzählung, der luftig, körperlos und allgegenwärtig ist.
[...]
[1] Kayser, S.127
[2] Melville, S.178
[3] Kayser, S.135
[4] Kayser, S.135
- Arbeit zitieren
- Evelyn Fast (Autor:in), 2002, Theorien und Modelle von Autorschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/41122