Feigheit, Dummheit, Eigennutz. Zu Josef K.s Verhalten im "Proceß" von Kafka


Hausarbeit, 2011

17 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Feigheit, Dummheit, Eigennutz

2.1 Feigheit

2.2 Dummheit

2.3 Eigennutz

3. Conclusio

4. Bibliographie

1. Einleitung

„Kafka sagt, was seine Menschen, wenn sie reden oder wenn sie schweigen, auch noch erblicken, wie sie sich bewegen, wie sie selbst in Augenblicken aussehen. Er sagt überdies, was im Unterbewußtsein von ihnen gefühlt wird.“[1]

Im Gegensatz zu den meisten Schriftstellern ermöglicht uns Kafka nicht nur einen Blick auf die Gedanken und Handlungen seiner Hauptperson, sondern auch, durch seine besondere Erzählweise, Einblicke in ihr Unterbewusstsein. Der Leser wird konfrontiert mit tiefsitzenden Trieben, Gefühlen und Ängsten. Dies eröffnet die Möglichkeit, Kafkas Figuren nicht nur soziologisch zu interpretieren, wie es beispielsweise Adorno getan hat,[2] sondern auch psychologisch. Politzer formuliert:

Dass sich im unbewussten Seelengrund der Gestalten eine verschlagene Libido verbirgt, der Wunsch nach Vertrauen und Versöhnung, der sich jedoch durch die Wirklichkeitsferne von Kafkas Protagonisten, durch ihren Wahn, ihre Neurose, maskiert, das ist unverkennbar Freudsches Gedankengut. Aber Kafka ahnt zumindest, was seine Figuren verdrängt haben.[3]

Ziel einer psychologischen Auslegung ist es also, die ‚Neurosen‘ in Kafkas Charakteren zu entdecken. Dies ist besonders dann relevant für das Textverständnis, wenn der ent­sprechende Text aus der personalen Perspektive der Hauptfigur erzählt wird, wie dies beim ‚Proceß‘ der Fall ist. Um die Vorgänge in dem Roman zu verstehen, ist es unerlässlich, den Protagonisten Josef K. zu verstehen. Ohne die Einsicht in seine Psyche ist eine kritische Sicht auf die eingeschränkte Erzählperspektive, die häufig als ‚einsinniges Erzählen‘ bezeichnet wird, nicht möglich.

Das teilweise ‚traumhafte‘ Geschehen im ‚Proceß‘ legt eine psychologische Interpretation besonders nahe, zumal manche Forscher sogar den gesamten Prozess als einen sich im Unterbewusstsein K.s abspielenden Traum deuten.[4] Selbst wenn man nicht so weit geht und das Geschehen des Prozesses in der realen Welt ansiedelt, steht doch am Beginn des Verständnisses die psychologische Untersuchung von Josef K.

Auf der Suche nach dem ‚Bauplan‘ für K. wird man zunächst mit seiner stetigen Ver­drängung des Gerichtsverfahrens konfrontiert. Er entzieht sich der aktiven Beschäftigung mit seinem Fall und streitet den Gedanken an Schuld sofort ab. Versucht man, ein ursächliches Muster für diese Reaktion auf seine Anklage zu finden, stößt man schließlich auf drei große Kräfte; verborgene Mechanismen, die in K.s Innerem walten. Sie lenken ihn in nahezu all seinen Handlungen, ohne dass sich K. dieser Einflüsse bewusst ist (zumindest bis auf wenige Ausnahmen).

In dem Roman ‚Spieltrieb‘ von Juli Zeh (2006) begegnen dem Leser die gleichen drei Kräfte. ‚Feigheit, Dummheit, Eigennutz‘ nennt Zeh das Prinzip, das alle beherrscht – nicht nur die Figuren in ihrem Roman, sondern gleichsam alle Menschen zu jedem Zeitalter: „die heilige Dreifaltigkeit des höchsten Mensch­heitsgesetzes.“[5] Der Roman, ein de­tailliertes Porträt der intellektuellen Elite, für die jegliche Moral nur ein Spiel ist, prä­sentiert Feigheit, Dummheit und Eigennutz als triebhafte Kräfte, die den Menschen immer von neuem scheitern lassen.

Hier lässt sich nun wieder an den ‚Proceß‘ anknüpfen, an Josef K., der letztlich an sich selbst scheitert und seiner Unfähigkeit, sich zu verändern. Die drei Begriffe von Zeh er­schließen K.s Verhalten und geben den Gründen für sein Scheitern Namen. Dabei sollen die von Zeh formulierten Begriffe in dieser Arbeit nicht als auferlegtes Korsett, sondern lediglich als Schlagwörter für die Interpretation dienen, zumal sich zeigen wird, dass die drei Begriffe für ein präzises Verständnis weiter ausdifferenziert werden müssen.

Nach Darlegung des Prinzips anhand von K.s Verhalten kann schließlich die Frage gelöst werden, was diese Kräfte, die man durchaus als Neurosen bezeichnen kann, antreibt; welcher Zustand K.s also sein Verhalten letztlich motiviert.

2. Feigheit, Dummheit, Eigennutz

2.1 Feigheit

Die Feigheit ist die größte und zugleich problematischste Kraft für Josef K., unter anderem deshalb, weil er sie nur in den seltensten Fällen an sich selbst bemerkt und noch seltener versucht, ihr entgegenzuwirken. Während der Eigennutz, z. B. sein Streben nach einer hö­heren Position in der Bank, ihn ganz offensichtlich leitet, wirkt die Feigheit im Ver­borgenen.

Um das Prinzip klarer zu fassen, kann auf einen anderen Begriff zurückgegriffen werden, der dem der Feigheit ähnlich ist: Passivität. Josef K. ist in den meisten Situationen unfähig, selbst aktiv zu werden, was sich entscheidend auf sein Leben im Allgemeinen und seinen Prozess im Besonderen auswirkt.

Diese Feigheit bzw. Passivität äußert sich in mehreren wiederkehrenden Symptomen wäh­rend des gesamten Romans: Er ist unfähig, Entscheidungen zu treffen, er weicht Kon­flikten mit Mitmenschen sowie der Konfrontation mit seinem Prozess fortwährend aus, er täuscht sich selbst und ergeht sich in falschen Rechtfertigungen für sein Nicht-Handeln und immer wieder zieht er das Beobachten dem Aktivwerden vor. Allgemein lässt sich eine stets wartende Haltung an ihm konstatieren. Die Feigheit verhindert jegliche Entwicklung und Veränderung in seinem Leben. Umso erschreckender sind für ihn die Umbrüche, die durch den Prozess ohne sein Zutun und ohne dass er sie verhindern könnte, in sein Leben eindringen; besonders die Tatsache, dass er nun gezwungen ist, sich mit sich selbst und seinem Innenleben zu beschäftigen.

Am hervorstechendsten unter den Symptomen der Feigheit sind die ständige Recht­fertigung gegenüber sich selbst und die Schuldzuweisung an andere. So gibt er etwa Fräulein Bürstner die Schuld dafür, dass er nichts gegessen und seinen Besuch bei Elsa versäumt hat, dabei ist er selbst es, der auf Fräulein Bürstner warten will, um sie zur Rede zu stellen (S. 27, Z. 32ff.). Eine ähnliche Schuldzuweisung findet sich später, als die Frau des Gerichtsdieners Kritik an seiner überheblichen Rede im Sitzungssaal übt. Statt die Kritik anzunehmen, erwidert er „ablenkend“ (S. 52, Z. 18), dass ihr Verhalten, das seine Rede gestört hatte, dadurch nicht entschuldigt sei. Besonders deutlich ist das Zurückweisen eigener Schuld, als K. die beiden Wärter mit dem Prügler in der Kammer zurücklässt; er redet sich ein, es habe an Franz‘ Schmerzensschrei gelegen, dass er ihnen nicht half (S. 79, Z. 20ff.). Die Rechtfertigung dafür, dass er den Raum tatenlos verlassen hat, erstreckt sich über die gesamte folgende Seite (S. 79, Z. 21 – S. 80, Z. 17). Dies zeigt sehr deutlich, dass K. sich mühsam von der eigenen Unschuld zu überzeugen versucht. Dabei erkennt er un­terbewusst seine Schuld:

Dennoch hat sich Josef K. schuldig gefühlt seit dem Augenblick, da das Verfahren gegen ihn eingeleitet worden war. Mit der ihm eigenen Kunst der Kontrapunktik hat Kafka immer wieder die vordergründigen Beteuerungen K.s, er sei unschuldig, gegen den Hintergrund einer Schuld gesetzt, die ihn umgibt, ohne ihm bewusst zu werden. K. versäumte es, diese Fehlleistungen eines offenbar schuldgeplagten Gewissens zur Kenntnis zu nehmen.[6]

Sein innerlicher Kampf gegen die Bewusstwerdung der Schuld äußert sich beispielsweise in Anzweiflung der Schuldfähigkeit jedes Menschen: „Wie kann denn ein Mensch über­haupt schuldig sein. Wir sind doch alle Menschen, einer wie der andere“ (S. 194, Z. 27ff.). Wie an den Schuldzuweisungen an andere Personen erkennbar ist (s. o.), ist dies jedoch nicht K.s Meinung, er versucht hier lediglich, den Geistlichen von dem Thema seiner Schuld abzulenken. Auffällig ist dies auch bei K.s Verhaftung. Das Thema der Schuld kommt erst nach neun Seiten zur Sprache, als K. vor dem Aufseher spricht: „Ich folgere daraus, dass ich angeklagt bin, aber nicht die geringste Schuld auffinden kann wegen deren man mich anklagen könnte. Aber auch das ist nebensächlich …“ (S. 16, Z. 30ff.). K. kon­statiert in einem Nebensatz seine Unschuld, springt aber gleich zum nächsten Thema, um zu verhindern, dass darüber weiter gesprochen wird und der Aufseher die Schuld K.s aussprechen könnte. Dies bestätigt Politzers Theorie, dass K. seine Schuld unterbewusst durchaus wahrnimmt. Damit sie nicht zum Vorschein kommt, lenkt K. die Aufmerk­samkeit auch hier auf andere Personen, indem er die Unseriosität des Gerichts anprangert: „Welche Behörde führt das Verfahren? […] Keiner hat eine Uniform“ (S. 16, Z. 33ff.).

Indirekte Schuldzuweisungen fungieren häufig als ‚Ausreden‘ für mangelnde Entschluss­kraft oder fehlende Motivation sowie für eigenes Verschulden. Meist findet K. gerade dann einen scheinbaren Fehler an jemandem, wenn der ihm seine Hilfe angeboten hat: „sie bietet sich mir an, sie ist verdorben wie alle hier ringsherum“ … „Ich glaube nicht, dass Sie mir helfen können“ (S. 54, Z. 12-14, 18f.). Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass K. nicht etwa seine Helfer sorgfältig auswählt, sondern vor ihnen flieht, indem er sich einredet, sie taugten nichts. So flieht er gleichzeitig vor dem Prozess:

Er hatte ursprünglich beabsichtigt, mit Leni seine Angelegenheiten insbesondere die fragliche Kündigung genau zu besprechen, die Anwesenheit des Kaufmanns hatte ihm aber die Lust dazu genommen. (S. 156, Z. 11ff.)

Es sind stets scheinbar die äußeren Umstände, die ihn an einer Auseinandersetzung mit dem Prozess hindern (vgl. S. 229, Z. 18ff.), was K. im Nachhinein meist positiv bewertet: „Es war wohl auch besser, dass er vorher mit Leni nicht mehr darüber sprechen konnte, sie hatte kaum den genügenden Überblick über das Ganze.“ (S. 157, Z. 2ff.). In Wahrheit je­doch hindert sich K. selbst am aktiven Handeln. Aufgeschlüsselt wird dieses Verhalten im ‚Dom‘-Kapitel, als der Geistliche eine Deutung des Torhüterparabel vorlegt: „Wenn er [der Mann] sich auf den Schemel seitwärts vom Tor niedersetzt und dort sein Leben lang bleibt, so geschieht dies freiwillig, die Geschichte erzählt von keinem Zwang.“ (S. 202, Z. 2ff.). Anstatt etwas zu unternehmen, setzt sich der Mann wartend neben das Tor und redet sich ein, der Grund für sein Warten sei, dass er das Tor nicht passieren könne – ohne diesen Umstand allerdings je selbst zu überprüfen.

Warten statt Aktivwerden bzw. Beobachten statt Handeln zieht sich als Motiv durch den gesamten Roman. Schon auf der ersten Seite erlebt der Leser K. als einen Wartenden, in diesem Falle auf sein Frühstück (S. 7, Z. 4). Die passive Haltung setzt sich wenig später fort, als er „zunächst stillschweigend durch Aufmerksamkeit und Überlegung“ (Z. 21f.) fest­zustellen versucht, wer der Mann ist, der in sein Zimmer eindringt. Ähnliche Situ­ationen kehren regelmäßig wieder; bei der ersten Untersuchung will K. zunächst ebenfalls lieber beobachten statt reden (S. 42, Z. 15). Eine entscheidende Stelle ist K.s Besuch in den Gerichtskanzleien. Der Angeklagte, den er im Flur trifft, kann als Spiegelbild von K. in­terpretiert werden,[7] anhand dessen man K.s Haltung zu seinem Prozess nachvollziehen kann. Als K. ihn fragt, auf was er wartet, kann der Mann keine Antwort formulieren (S. 65, Z. 11).

[...]


[1] Oskar Walzel, zit. nach Heinz Politzer: Franz Kafka, Darmstadt: WBG, 1973, S. 4.

[2] vgl. ebd., S. 17.

[3] ebd., S. 19.

[4] vgl. Hartmut Binder: Kafka-Kommentar, München: Winkler, 1982, S. 237.

[5] Juli Zeh: Spieltrieb, München: btb, 2006, S. 457.

[6] Heinz Politzer, zit. nach Binder: Kafka-Kommentar, S. 226

[7] Walter H. Sokel: Franz Kafka – Tragik und Ironie. Zur Struktur seiner Kunst, München: Langen-Müller, 1984, S. 12.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Feigheit, Dummheit, Eigennutz. Zu Josef K.s Verhalten im "Proceß" von Kafka
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Note
2,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
17
Katalognummer
V412093
ISBN (eBook)
9783668633711
ISBN (Buch)
9783668633728
Dateigröße
509 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kafka, Proceß, Josef K.
Arbeit zitieren
Lisa Maria Koßmann (Autor:in), 2011, Feigheit, Dummheit, Eigennutz. Zu Josef K.s Verhalten im "Proceß" von Kafka, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/412093

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