Zur Struktur der philosophischen Unterrichtsstunde in Senecas "Epistulae morales", 122, 17-19


Hausarbeit, 2013

14 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1 Lateinischer Text
2.2 Übersetzung
2.3 Inhalt des Briefes
2.4 Inhaltliche und sprachliche Interpretation

3. Conclusio: Senecas philosophische Unterrichtsstunde

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Es scheint, als habe Seneca die Entwicklung der Gesellschaft im einundzwanzigsten Jahrhundert vorausgeahnt, wenn er schreibt: Causa … praecipua mihi videtur huius morbi vitae communis fastidium (Sen. epist. 122,18). Wo heute von Pluralismus bzw. Individualis­mus die Rede ist, attestiert Seneca den Menschen bereits vor zweitausend Jahren Widerwillen gegen das Gewöhnliche und den Wunsch nach Abgrenzung von der Masse. Weitsichtig und humorvoll schildert er in Brief 122 der Epistulae morales, wie einige sogar Tages- und Nachtzeit vertauschen, um nicht solita peccare (122,18), d. h. auf gewöhnliche Weise zu fehlen.

Der unkomplizierte Stil, die bildhafte Sprache und wohl auch die Kürze der Texte machten Senecas moralische Briefe zu allen Zeiten zu einer beliebten Lektüre. Hinzu kommt, dass die meisten der behandelten Themen, so auch jenes in Brief 122, stets aktuell bleiben. Es sind die kleinen (und großen) menschlichen Fehler, denen Seneca manchmal mit Schärfe, manchmal mit Augenzwinkern, stets jedoch mit Ratschlägen der stoischen Ethik begeg­net. Die mit Zitaten von Vergil und Epikur gespickten Briefe an Lucilius lassen sich auch heute noch als unauf­dringliche Lebenshilfen lesen, die nebenbei interessante Einblicke in Senecas Verständnis der stoischen Philosophie wie auch in die römische Kultur der Kaiserzeit bieten.

Brief 122 ist darüber hinaus auch aus einem anderen Grund interessant: Exemplarisch lässt sich an dieser Stellungnahme zum Lebensstil mancher Römer das Schema von Senecas philosophischer Unterrichtsstunde festmachen. Diese Struktur bildet, in leicht variierter Form, die Grundlage für die Themenentfaltung in mehreren der 124 Briefe. Brief 122 ist hierbei besonders bemerkenswert, da sich die Form sowohl in Bezug auf den gesamten Brief als auch in der ausgewählten Textstelle aufzeigen lässt. Thematisch ist der Brief in hohem Maße relevant, da er das höchste ethische Prinzip der Stoa,[1] secundum naturam vivere, verhandelt.

Nach der Übersetzung der Kapitel 17-19 und einer inhaltlichen Zusammenfassung des Briefes legt die Arbeit das Augenmerk auf den Nachvollzug der Argumentation Senecas und der Beschreibung der äußeren Struktur des Briefes. Ebenfalls berücksichtigt werden Senecas Mittel der Darstellung, insbesondere die Wortwahl und die Verwendung von Komposita mit dis-. Im abschließenden Fazit werden die Ergebnisse zusammengefasst und knapp an anderen Briefen validiert.[2]

2. Hauptteil

2.1 Lateinischer Text

17 Non debes admirari si tantas invenis vitiorum proprietates: varia sunt, innumerabiles ha­bent facies, conprendi eorum genera non possunt. Simplex recti cura est, multiplex pravi, et quan­tum­vis novas declinationes capit. Idem moribus evenit: naturam sequentium faciles sunt, soluti sunt, exiguas differentias habent; distortix plurimum et omnibus et inter se dissident.

18 Causa tamen praecipua mihi videtur huius morbi vitae communis fastidium. Quomodo cul­tu se a ceteris distinguunt, quomodo elegantia cenarum, munditiis vehiculorum, sic volunt se se­pa­rarexx etiam temporum dispositione. Nolunt solita peccare quibus peccandi praemium infamia est.

19 Hanc petunt omnes isti qui, ut ita dicam, retro vivunt. Ideo, Lucili, tenenda nobis via est quam natura praescripsit, nec ab illa declinandum; illam sequentibus omnia facilia, expedita sunt, contra illam nitentibus non alia vita est quam contra aquam remigantibus. Vale.

2.2 Übersetzung

17 Du darfst dich nicht wundern, wenn du so viele spezielle Arten von Verfehlungen findest: Sie sind mannigfaltig, haben unzählige Gesichter und man kann sie nicht in Gattungen fassen. Einfach ist die Bemühung um das Richtige, vielfältig die um das Verkehrte, und sie geht beliebig viele neue Abwege. Ebenso geschieht es mit den Sitten: Die der Natur folgen, sind umgänglich, ausgelassen, haben nur geringe Unterschiede; die Verdrehten sind meist mit allen anderen und untereinander uneinig.

18 Trotzdem scheint mir der Hauptgrund dieser Krankheit der Ekel vor dem gewöhnlichen Leben zu sein. Wie sie sich durch die Kleidung von den Übrigen absetzen, wie durch die erlesenen Speisen, die gehobenen Fahrzeuge, so wollen sie sich auch durch die Bestimmung über die Zeit abgrenzen. Die wollen nicht in gewöhnlichen Dingen fehlen, denen der Lohn des Fehlens der schlechte Ruf ist.

19 Dies erstreben all diese, die, wie ich sagen will, rückwärts leben. Deshalb, Lucilius, sollen wir den Weg nehmen, den die Natur vorgeschrieben hat, und nicht von ihm abweichen: Für die­je­ni­gen, welche ihm folgen, sind alle Dinge leicht und unkompliziert, für die, welche gegen ihn kämpfen, ist das Leben nicht anders als für solche, die gegen den Strom schwim­men. Lebe wohl.

Textkritische Anmerkungen

x His vor distorti ist bei Reynolds bereits ausgeklammert und ergibt grammatikalisch an dieser Stelle keinen Sinn. Handschriftengruppe ς hat an dieser Stelle hi distorti, aber auch in dieser Verbindung ist kein phorischer bzw. deiktischer Bezug des Pronomens erkennbar. Haase hat his deshalb zu Recht entfernt, der Vorschlag von Gronovius, his distortis, ließe als Subjekt des Satzes nur natura sequentium zu, aber exiguas differentias habent und inter se dissident widerspräche sich inhaltlich.

xx Die reflexive Bedeutung von separare ist hier offensichtlich, weshalb Bartschs Emendation se separare dem Sinn am ehesten entspricht, separare allein wie in Handschriftengruppe ω dagegen lässt ein Objekt vermissen. Hense setzt se vor volunt, Madvig hat separari, was inhaltlich gesehen zu passiv ist: Die Abgrenzung von der Masse erfolgt bewusst.

2.3 Inhalt des Briefes 122

Senecas Brief beginnt mit der Feststellung, dass viele Menschen Tages- und Nachtzeit vertauschen: Sie sind wach, wenn alle anderen schlafen, und gehen zu Bett, wenn die Übrigen aufstehen (1-2). Man könne sie deshalb als ‚Vögel der Nacht‘ (aves nocturnae) bezeichnen, die ständig im Dunkeln verweilen und so dem Tod näher sind als dem Leben (3-4).

Den Grund für die Umkehrung von Tag und Nacht sieht Seneca in der Leugnung der natürlichen Ordnung (contra naturam), für deren Missachtung er zahlreiche Beispiele gibt, so etwa den übermäßigen Alkoholkonsum oder den Anbau von Frühlingsblumen im Winter (5-9). Im Folgenden werden Anekdoten von bekannten Persönlichkeiten angeführt, die genau dieser Lebensart folgen, zum Beispiel Papinius, der zu nachtschlafender Zeit Bäder nimmt oder spazieren fährt (10-16).

Am Ende des Briefes erläutert Seneca, dass das vorgestellte Laster nur eines unter vielen ist, die allesamt im Widerstand gegen die Natur begründet sind. Menschen, die so handeln, versuchen sich von der Masse abzugrenzen. Seneca schließt mit der Feststellung, dass die falschen Wege zahlreich sind, die richtigen sich jedoch auf einen beschränken: den der Natur. Wer diesem folgt, lebt unkompliziert (17-19).

2.4 Inhaltliche und sprachliche Interpretation

Der vorliegende Textauszug lässt sich in vier Sinnabschnitte unterteilen: Zunächst schreibt Seneca über die vitia und ihre Diversität (S. 527, Z. 24 – S. 528, Z. 3). Im Anschluss kommt er auf die mores zu sprechen (Z. 3-6): Die guten Sitten ähneln einander allesamt, die schlechten sind verschieden. In Kapitel 18 erläutert er schließlich den Hauptgrund (causa praecipua) der Verfehlungen (Z. 6-11), den Ekel vor dem Gewöhnlichen. Zuletzt erfolgt ein kurzes Fazit: Man muss dem vorgegebenen Weg der Natur folgen (Z. 11-15).

Betrachten wir nun die Argumentationsschritte im Einzelnen. Die Beobachtung, dass Verfehlungen in vielen Formen auftreten können, hängt ab von non debes admirari si. Seneca schiebt Lucilius diese Feststellung also gewissermaßen unter und baut gleichzeitig ein Lehrer-Schüler-Verhältnis im Text auf: Lucilius ist derjenige, der sich wundert, Seneca hat dafür eine Erklärung. Die hier suggerierte Hierarchie wird zusätzlich durch non debes verstärkt: Seneca weist Lucilius zurecht. Die Formulierung hat einen stark belehrenden Charakter.

Mit vitia steht gleich zu Beginn des Abschnittes eines der Schlagwörter stoischer Philosophie, speziell bei Seneca: Der Ausdruck dient der Beschreibung jeglicher Verfehlungen und tritt häufig mit Attributen auf, die je nach Semantik die Heilbarkeit oder Unheilbarkeit des Fehlers festlegen.[3] Als Gegenpol zu vitium treten virtus und natura (s. u.) auf: Virtus secundum naturam est, vitia inimica et infesta sunt (Sen. epist. 50,8).

Im Folgenden trifft der Text zwei Hauptaussagen über die Verfehlungen: Sie treten in unübersehbar vielen Ausprägungen auf (innumerabiles habent facies) und es entstehen stets neue (quantumvis novas declinationes capit). Demgegenüber steht die Feststellung, dass es nur einen rechten Weg gibt: Simplex recti cura est, multiplex pravi. Dieser polar und als Parallelismus aufgebaute Aphorismus ist die zentrale Aussage des ersten Abschnittes und weist auf Aussagen in den Kapiteln 18 und 19 voraus. Die antithetische Struktur setzt sich, wie wir sehen werden, im übrigen Text fort; immer wieder werden rechtes und falsches bzw. naturgemäßes und widernatürliches Verhalten gegenübergestellt.

Ähnliche Beobachtungen macht Seneca hinsichtlich der Sitten der Menschen: Naturgemäße Sitten weisen geringe Unterschiede untereinander auf (exiguas differentias habent), die anderen dagegen unterscheiden sich stark voneinander. Auch hier wird deutlich gemacht: Homogenität ist das Kennzeichen des recti, Heterogenität jenes des pravi.

Es fällt nun der Ausdruck natura, der besonders in Abschnitt 19 eine große Rolle spielen wird und bereits in den vorigen Kapiteln des Briefes präsent war.[4] Ebenso wie vitium ist natura dem Vokabular der Stoa entnommen und hat eine breitgefächerte Bedeutung. Im Kontext des Prinzips secundum naturam vivere, für das im vorliegenden Brief geworben wird, ist natura vor allem universa natura, die kollektive Norm sowie die Natur des Menschen.[5]

Die Unterscheidung nach guten und schlechten Sitten, die bisher in der Textstelle nicht näher bestimmt war, wird nun mit der Natur als Bezugsgröße verknüpft: Gemäß der stoischen Philosophie werden die Sitten bzw. ihre Anwender in solche unterteilt, die der Natur folgen (und damit gut sind) und solche, die das nicht tun und entsprechend ‚verdreht‘ sind (distorti). Um zu zeigen, dass diese Sitten eine Abweichung von der Norm darstellen, werden jeweils Komposita mit dis- zu ihrer Beschreibung verwendet: differentias, distorti, dissident.

Der zweite Schritt der Argumentation besteht aus der Erörterung der Gründe für die Verfehlungen. Seneca bezeichnet die vitia hier als morbus, wie er es auch in anderen Briefen tut.[6] Es handelt sich nach der Auffassung des Textes also nicht nur um eine geistige Verfehlung, sondern um ein (seelisches) Leiden. Gleichzeitig stellt der Ausdruck morbus ein Gegenpol zu natura dar und verdeutlicht die stoische Vorstellung, dass ein Abweichen von der natürlichen Lebensweise krank macht.[7]

[...]


[1] Vgl. Forschner 1995, S. 40.

[2] Diese Arbeit orientiert sich an folgender Ausgabe: Lucius Annaeus Seneca: Ad Lucilium epistulae morales, ed. L. D. Reynolds, Oxonii 1969.

[3] Vgl. Hadot 1969, S. 145: Perpetuum und inveteratum etwa gelten in seinem Schema zu den Graden seelischer Krankheiten nach stoischer Vorstellung als Attribute, die Seneca für unheilbare Verfehlungen verwendet.

[4] Besonders in der Verbindung contra naturam in 5,7 und 8.

[5] Vgl. Hadot 1969, S. 34.

[6] Z. B. als morbus animi, Sen. epist. 75,9.

[7] Krankheit zählt zu den incommoda, welche als naturwidrig einzustufen sind (Sen. epist. 74,23). Nach Hadot 1969, S. 145 befindet sich morbus jedoch wie vitium auf einer niedrigen, als heilbar zu betrachtenden Stufe seelischer Krankheiten.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Zur Struktur der philosophischen Unterrichtsstunde in Senecas "Epistulae morales", 122, 17-19
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
14
Katalognummer
V412106
ISBN (eBook)
9783668633858
ISBN (Buch)
9783668633865
Dateigröße
580 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
seneca, epistulae morales, epist. 122, interpretation, stoa, stoische philosophie
Arbeit zitieren
Lisa Maria Koßmann (Autor:in), 2013, Zur Struktur der philosophischen Unterrichtsstunde in Senecas "Epistulae morales", 122, 17-19, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/412106

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