„Wie lässt sich eine Form des Zusammenlebens finden, die mit aller gemeinsamen Kraft die Person und die Güter jedes Teilhabers verteidigt und schützt, und durch die ein jeder, der sich allen anderen anschliesst, dennoch nur sich selber gehorcht und ebenso frei bleibt wie zuvor?“ (Petitjean 2006)
Diese Kernfrage des menschlichen Zusammenlebens, die sich Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert stellte, ist auch heute noch von Bedeutung. Im Contrat Social, seinem Werk über den Gesellschaftsvertrag, erläutert der Genfer Philosoph und überzeugte Idealist seine Vorstellungen einer gerechten, staatlichen Ordnung. Dafür verwendet er die Begriffe eines "volonté de tous" und eines "volonté générale".
So beschäftigt sich dieser Essay mit Rousseaus Differenzierung von Willens-Formen in der Gesellschaft und hinterfragt, was er von aktuellen Demokratie-Formen halten könnte.
„Wie lässt sich eine Form des Zusammenlebens finden, die mit aller gemeinsamen Kraft die Person und die Güter jedes Teilhabers verteidigt und schützt, und durch die ein jeder, der sich allen anderen anschliesst, dennoch nur sich selber gehorcht und ebenso frei bleibt wie zuvor?“ (Petitjean 2006, S.10)
Diese Kernfrage des menschlichen Zusammenlebens, die sich Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert stellte, ist auch heute noch von Bedeutung. Im Contrat Social, seinem Werk über den Gesellschaftsvertrag, erläutert der Genfer Philosoph und überzeugte Idealist seine Vorstellungen einer gerechten, staatlichen Ordnung. Durch die Züge dieses Abkommens, könne sich der Staat im Sinne einer «öffentlichen Person» bilden. Dabei gilt zu beachten, dass dieser - laut Rousseau - zum einen aus Individuen mit eigenen Interessen (volonté particulière) bestehe, aber gleichzeitig auch eine eigene Einheit mit eigenem Wille sei. Interessant ist dabei seine Differenzierung von einem Gemein- und einem Gesamtwillen. Diesem Aspekt wendet sich der vorliegende Essay zu und kommentiert kurz die aktuellen Verhältnisse von Gemein- und Partikularwillen am Beispiel der US-Demokratie.
Nach rousseauscher Ansicht summieren sich die Partikularinteressen jedes einzelnen Bürgers zu einem Gesamtwillen (volonté de tous). Problematisch ist jedoch, dass sich dadurch diverse Sonderwillen kumulieren, die nicht auf das Allgemeinwohl abzielen. Deshalb schlägt der Gesellschaftskritiker den sogenannten Gemeinwillen (volonté générale) vor. Dieser ist die unzerstörbare, unfehlbare Basis eines Staates und strebt nach Gleichheit und dem objektiv Guten. In seinen Worten: „Si, quand le peuple suffisamment informé délibère, les citoyens n'avaient aucune communication entre eux, du grand nombre de petites différences résulterait toujours la volonté générale, et la délibération serait toujours bonne.“ (Rousseau 2007, S. 87) Es würde also immer eine gute Entscheidung resultieren, wenn aus der grossen Menge kleiner Ungleichheiten der Gemeinwille hervorgehe. Dies würde nach seiner Idealvorstellung auch geschehen, wenn die Bürger ohne Verbindung entscheiden. Da Rousseau hauptsächlich Bedingungen für die Bildung des Gemeinwillens thematisiert, stellt sich die Frage, wie dieser grundsätzlich erkennbar ist. Die volonté de tous und die volonté générale können nämlich zusammenfallen, müssen aber nicht deckungsgleich sein. (Mahlmann 2015) Dies bedeutet, dass der Gesamtwille eines Volkes durchaus fehlerhaft sein kann, während der Gemeinwille von transzendentalem Charakter und dadurch unfehlbar ist. Dass es die Umsetzung dieses Ideals noch nie gab und sie auch nie möglich sein wird, war sich Rousseau aber durchaus bewusst: Sein Konzept wäre nur in einer kleinbürgerlichen, homogenen Gemeinschaft möglich. Doch zu kleinen Staaten wäre es nicht möglich, sich selbst zu versorgen, während zu grosse nicht mehr fähig wären, eine gesetzliche Einheit zu erlassen. Zudem müsste ein Volk für eine erfolgreiche Umsetzung des Vertrags jung sein, damit es noch keine traditionellen Vorstellungen von Sitte und Eigentum habe. (Petitjean 2006, S. 20ff.) Trotz dieser Relativierung des Potenzials seiner Gesellschaftsidee, lohnt sich ein Blick auf die Präsenz der Willensbegriffe in der heutigen Zeit. Nach rousseauscher Theorie könnte jeder im bürgerlichen Zustand frei sein, wenn er sich bemühen würde, die Vorzüge des Gemeinwohls auszumachen. Doch auf mich wirkt es, als trete ein freies, moralisches Handeln in der Gesellschaft oft in den Hintergrund. Obwohl man als Bürger einer Demokratie durchaus von diversen Privilegien und Rechten profitieren kann, scheint sich so mancher bei wichtigen Entscheidungen mehr auf sein Eigeninteresse zu berufen, als auf einen egalitären Gemeinwillen. Was würde der Genfer Gesellschaftskritiker wohl zu diesen heutigen demokratischen Prozessen sagen?
Die politische Kultur in den Vereinigten Staaten zum Beispiel verändert sich sehr stark: Die Lager der Demokraten und Republikaner wurden extrem polarisiert. So stellt auch der Philosoph Jonathan Haidt fest, dass Amerika alles andere als vereint und mit jedem Jahrzehnt noch weniger vereinbar sei. (Haidt & Hetherington 2012) Ein Kämpfen im Sinne der volonté particulière scheint sich als legitimes, demokratisches Verhalten durchzusetzen, wie es sich auch in der diesjährigen, hitzigen Präsidentschaftswahl abzeichnete. Des Weiteren zeigt eine Langzeitstudie von ANES (American National Election Study), dass das durchschnittliche Vertrauen der US-Bürger in die Regierung seit den 70er-Jahren frappant gesunken ist: Noch ungefähr ein Drittel sei ihr gegenüber wohlgesinnt, wobei dieser Anteil bei den Republikanern dann grösser sei, wenn ein Präsident ihrer Partei im Weissen Haus sitze. Diese Varianz sei bei den Demokraten minder ausgeprägt: Sie scheinen die Regierung weniger mit der Präsidentschaft zu identifizieren. (Haidt & Hetherington 2012) Trotz Rousseaus Einsicht, dass sein idealistisches Modell des Gesellschaftsvertrages nur in kleinen Staaten umsetzbar wäre, würde er die Herrschaft durch einen Partikularwillen, wie sie in der USA vorzufinden ist, sicherlich ablehnen. Er würde kritisieren, dass eine derartige Spaltung des «sittlichen Ichs» das Ziel von Gleichheit unmöglich macht und das Allgemeinwohl folglich ausklammert.
Da uns Rousseau aber nicht in personam an diese bürgerliche Pflicht des gemeinwilligen Denkens und Handelns erinnern kann, liegt es an uns allen, sich für Gleichheit und die http://iasl.uni-muenchen.de/ volonté générale einzusetzen. Die Einzelträger eines Staates müssen ihn als transzendentale Orientierungshilfe ansehen, ansonsten würden die Bürger an Erkenntnisschwäche leiden – wie es der Denker formuliert haben soll. Die intensive Auseinandersetzung von Rousseau mit der Thematik verdeutlicht, dass ein harmonisches Zusammenleben der Menschen schon lange – in seinem Sinne ausgedrückt seit der Definierung von Besitztum – eine immense, ernstzunehmende Herausforderung ist. Schön resümiert dies der inoffizielle Wahlspruch der Schweizer Eidgenossenschaft: „Alle für einen, einer für alle!“
Bibliographie
Onlinequellen
Haidt, Jonathan & Hetherington, Marc J., Look How Far We’Ve Come Apart (17.09.2012). In: Campaign Stops. URL: http://campaignstops.blogs.nytimes.com/2012/09/17/look-how-far-weve-come-apart/?_r=2 (10.12.2016).
Mahlmann, Matthias, 5.3 Gemeinwille und Gemeinwohl: Der „Contrat social" (28.05.2015). In: Rechtstheorie. URL: http://www.rwi.uzh.ch/elt-lst-mahlmann/rechtstheorie/rousseau/de/html/unit_u3.html (10.12.2016).
Literarische Quellen
Rousseau, Jean-Jacques, Textes politiques, Éditions d L’Age d’Homme, Lausanne 2007.
Petitjean, Etienne, Rousseau zu Freiheit & Staat, Probearbeit Freiburg 2006.
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- Quote paper
- Adina Kuhn (Author), 2016, Volonté de tous oder Volonté générale? Über Rousseaus Differenzierung von Willens-Formen in der Gesellschaft, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/412820
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