Deutschland gilt mit einer Geburtenrate von derzeit ca. 1,5 Kindern pro Frau im weltweiten Vergleich als Schlusslicht, was in der Zukunft schwerwiegende Auswirkungen auf Märkte, das generierte Steueraufkommen sowie, am folgenschwersten, auf das Rentenversicherungssystem haben könnte. Gleichwohl zeigt die deutsche Familienpolitik in den letzten Jahren einen augenscheinlichen Trend zugunsten einer stärkeren Förderung von kinderreichen Familien, welcher kritisch hinterfragt werden muss.
Zur Beantwortung der Forschungsfrage, ob Deutschland mit der aktuellen Ausgestaltung seiner familienpolitischen Instrumente eine geburtenfördernde Politik betreibt, nimmt die Arbeit eine Einordnung Deutschlands in die vier Familienpolitikmodelle nach Gauthier vor und vergleicht das familienpolitische Instrumentarium mit der als Musterbeispiel geltenden Familienpolitik in Frankreich. Insgesamt zeigt sich, dass die deutsche Familienpolitik zwar einen wahrnehmbaren Wandel hinzu vermehrter Geburtenförderung unternimmt. Gleichwohl spricht dieser letztlich geringfügige letztlich nicht dafür, Deutschland analytisch einem anderen Familienpolitikmodell zuzuordnen; ebenso ist keine kohärente Annäherung an das französische System erkennbar.
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretischer Hintergrund - Familienpolitikmodelle nach Gauthier
3. Geburtenförderung als Bereich staatlicher Verantwortung
3.1 Ausbau in Frankreich, Zurückhaltung in Deutschland
3.2 Neuausrichtung der deutschen Familienpolitik?
4. Wohlfahrtsstaatliche Instrumente im Kontext der Geburtenförderung
4.1 Direkte Transferleistungen - Beispiel Kindergeld / allocation familiale
4.2 Indirekte Transferleistungen und Steuervergünstigungen - Beispiel Ehegatten- und
Familiensplitting
4.3 Öffentliches Kinderbetreuungssystem
5. Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Zusammengefasste Geburtenziffer im europäischen Vergleich
Abbildung 2: Modelle der Familienpolitik nach Gauthier
Abbildung 3: Vergleich Kindergeld / allocation familiale
Abbildung 4: Vergleich Ehegattensplitting / Familiensplitting
Abbildung 5: Öffentliche Ausgaben für direkte familienbezogene Transferleistungen
Abbildung 6: Öffentliche Ausgaben für familien- und ehebezogene Steuervergünstigungen
Abbildung 7: Anteil der Kinder (in % der Altersgruppe) in formaler Kinderbetreuung
Abbildung 8: Öffentliche Ausgaben für formale Kinderbetreuung
1. Einleitung
„Wo bleiben die Kinder?“1, „Geburtenziffer 2005 auf Rekordtief“2 oder „Kindermangel wird für Deutschland zum Problem“3 waren in den vergangenen Jahrzehnten häufige Schlagworte in der familienpolitischen Debatte Deutschlands. Wie Abbildung 1 zeigt, ist der Rückgang oder auch Mangel an Geburten mit Blick auf die sieben größten Volkswirtschaften der Europäischen Union4 ein länderübergreifendes Phänomen mit unterschiedlichem Ausmaß.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Zusammengefasste Geburtenziffer5 im europäischen Vergleich Quelle: OECD Family Database
Es zeigt sich, dass jedes der gezeigten Länder im dargestellten Zeitraum einen signifikanten Rückgang seiner Geburtenziffer zu verzeichnen hat. So bekam im Jahr 1960 in Deutschland eine Frau zwischen 15 und 49 Jahren durchschnittlich 2,37 Kinder, im Jahr 2005 dagegen nur noch 1,34 Kinder - dies entspricht einem Rückgang der Geburtenziffer beziehungsweise Fertilität um über 40 Prozent und macht Deutschland neben Ländern wie Italien und Spanien derzeit zu einem der „Niedrigfertilitätsländer“ (Gerlach 2010: 55) Europas.6
Mit Blick auf die demographischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen wird deutlich, dass diese Entwicklung keineswegs unproblematisch ist. Da die Geburtenhäufigkeit in Deutschland seit mehreren Jahrzehnten unter dem „Bestandserhaltungsniveau“ von 2,1 Kindern pro Frau liegt
(Statistisches Bundesamt 2011: 10) und nicht durch die Nettozuwanderung ausgeglichen wird, führt dies langfristig zu einem Bevölkerungsrückgang auf 77,4 Millionen Menschen im Jahr 2030 beziehungsweise 74,7 Millionen im Jahr 2050 (ders.: 21). Gleichzeitig wird etwa bis 2030 die Altersgruppe der Erwerbsfähigen von 20 bis 65 Jahren von 61 Prozent auf 54 Prozent schrumpfen (Handelsblatt 2015), was direkte Auswirkungen auf die Güter- und Dienstleistungsmärkte, das generierte Steueraufkommen sowie am folgenschwersten auf das Rentenversicherungssystem hat, dessen Bestand in Hinblick auf den Generationenvertrag gefährdet ist (Gerlach 2010: 85; Gauthier 1998: 127).
Andere Länder wie Großbritannien, Schweden und insbesondere Frankreich scheinen dagegen Wege gefunden zu haben, ihre Geburtenrate stark an das genannte Bestandserhaltungsniveau anzunähern. So kann Frankreich mit einem europaweiten Geburtenziffer-Höchstwert von derzeit 1,98 Geburten pro Frau eine „Vorreiterrolle“ (Gerlach 2010: 363) beanspruchen, was häufig auf die explizit geburtenfördernde und kohärente Familienpolitik des Landes zurückgeführt wird (Waltereit 2013; Veil 2007: 29-30; Mühling/Schwarze 2011: 66). Doch Deutschland holt diesbezüglich auf - so hat sich zwischen den Jahren 2005 und 2015 hierzulande die Geburtenziffer von 1,34 auf derzeit 1,47 Geburten pro Frau und damit um 9,7 Prozent erhöht, eine Trendwende ist somit absehbar. In Anbetracht dieses zu erklärenden Phänomens lautet die zentrale Forschungsfrage dieser Arbeit, ob Deutschland mit der aktuellen Ausgestaltung seiner familienpolitischen Instrumente eine geburtenfördernde Politik betreibt. Im Gegenzug sei gefragt, ob das Land in seiner Familienpolitik nicht vielmehr an alten Traditionen haftet und stattdessen andere Faktor zur Erklärung der gestiegenen Geburtenrate betrachtet werden müssen.
In Kapitel 2 wird dazu zunächst der Begriff der geburtenfördernden Politik hergeleitet und darauf aufbauend drei forschungsleitende Hypothesen erstellt. Grundlage hierfür bildet die von Anne Gauthier in ihrem Werk „The State and the Family“ erstellte Einteilung von Staaten anhand der Ausrichtung ihrer Familienpolitik in vier sogenannte Modelle der Familienpolitik (Gauthier 1998). Frankreich stellt in dieser Einteilung den typischen Vertreter des geburtenfördernden „pro-family/pronatalist state“ dar. Ein analytischer Vergleich Deutschlands mit Frankreich in dieser Arbeit soll der Hervorhebung von etwaigen Unterschieden beider Länder sowie der Ableitung von potenziellen Reformvorschlägen für die deutsche Familienpolitik dienen. 7
In Kapitel 3 wird ausgehend von Gauthiers Verständnis‘ geburtenfördernder Politik diskutiert, inwiefern der Staat in beiden Untersuchungsländern Interventionen zugunsten einer Steigerung der Geburtenrate als Teil der staatlichen Verantwortung sieht. Im Fokus steht hierbei das im Jahr 2005 in Deutschland vorgestellte Programm der Nachhaltigen Familienpolitik, welches einen potenziellen „Paradigmenwechsel“ (Mühling/Schwarze 2011: 61) in der deutschen Familienpolitik darstellt. Kapitel 4 stellt zwei weitere Elemente geburtenfördernder Familienpolitik für beide Länder gegenüber - zum einen weitreichende direkte und indirekte Transferleistungen für Familien sowie zum anderen ein umfassendes System öffentlicher Kinderbetreuung.
Kapitel 5 schließt die Arbeit mit einem resümierenden Fazit zu der Frage, ob Deutschland - ähnlich wie Frankreich - eine geburtenfördernde Familienpolitik betreibt.
2. Theoretischer Hintergrund - Familienpolitikmodelle nach Gauthier
Um beurteilen zu können, ob in den Ländern Frankreich und Deutschland eine „pronatale“ beziehungsweise geburtenfördernde Politik betrieben wird, soll in diesem Kapitel zunächst der Begriff der Geburtenförderung im Kontext des Politikfelds der Familienpolitik hergeleitet werden.
Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass eine geburtengerichtete Politik nur einer von vielen Aspekten von Familienpolitik insgesamt ist. Familienpolitik lässt sich im Allgemeinen definieren als „die Summe aller Handlungen und Maßnahmen, die im Rahmen einer feststehenden Verfahrens-, Kompetenz- und Rechtfertigungsordnung eines Staates normativ und/oder funktional begründbar die Situation von Familien im Hinblick auf eine als wünschenswert definierte Erfüllung von deren Teilfunktionen hin beeinflussen“ (Gerlach 2010: 255). In diesem Sinne besitzt Familienpolitik in verschiedenen Ländern verschiedene Stellenwerte und vor allem verschiedene Schwerpunkte, sei es beispielsweise die Bekämpfung von Armut in kinderreichen Familien, Geschlechtergleichstellung oder auch Geburtenförderung (ebd.).
Zur Einteilung von Staaten nach ihrer Familienpolitik existieren in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatenforschung eine Reihe von Ansätzen. Die jüngste Forschung ist auch in diesem Teilgebiet der Wohlfahrtsstaatenforschung stark geprägt von dem dänischen Soziologen Gøsta EspingAndersen (Blome et al. 2008: 68-69). Dieser untersucht die Beziehung zwischen Staat, Familie und Markt und entwirft anhand der Kriterien „De-Kommodifizierung“ und „De-Familialismus“ drei Typen von Wohlfahrtsstaaten anhand ihrer Familienpolitik (Esping-Andersen 2002). Interessanter für diese Arbeit sind jedoch die Arbeiten von Olivier Thévenon (2011) und Anne Hélène Gauthier (1998), da sie sich vor allem auf die Rolle des Staates und staatliche Ziele in der Familienpolitik beziehen, zu denen auch die Erhöhung der Geburtenrate zählt.
So untersucht Olivier Thévenon Familienpolitik der Staaten der OECD anhand zweier Kriterien: dem finanziellen Umfang staatlicher Leistungen für erwerbstätige Eltern mit Kindern unter 3 Jahren und dem zeitlichen Umfang von Mutterschafts- und Elternzeitansprüchen (Thévenon 2011: 64). Anhand einer quantitativen Untersuchung dieser Kriterien argumentiert er, dass staatliche Familienpolitik in den verschiedenen Staaten der OECD jeweils vorrangig eines von sechs Zielen verfolgt: (I) Armutsbekämpfung und Einkommenssicherung, (II) Direkte Kompensation der ökonomischen Kosten von Kindern, (III) Förderung von Beschäftigung und Arbeit, (IV) Förderung der Geschlechtergleichheit, (V) Förderung der frühkindlichen Entwicklung, (VI) Steigerung der Geburtenrate (ders.: 58-59; Schleutker 2014: 162). Zwar ordnet Thévenon etwa Deutschland dem zweiten Hauptziel von Familienpolitik und Frankreich dem sechsten Hauptziel zu, jedoch erfolgt die weitere Definition und Operationalisierung der verschiedenen Typen nicht anhand bestimmter Merkmale und bleibt damit unpräzise.
Eine umfangreichere Definition und Unterscheidung von pro-nataler und nicht-pro-nataler Familienpolitik unternimmt Anne Hélène Gauthier im Rahmen ihres 1996 erstmals erschienenen Werks „The State and the Family“. Darin unternimmt sie eine vergleichende Analyse der geschichtlichen Entwicklung und Beschaffenheit familienpolitischer Leistungen in 23 Industrienationen. Sie beobachtet dabei, dass manche der untersuchten Staaten ein klar interventionistische Familienpolitik zur Steigerung der Geburtenrate verfolgen, während andere Staaten traditionelle Familienstrukturen fördern, in manchen Staaten erfolgt kaum ein politischer Eingriff in die Institution Familie (Gauthier 1998: 203). Anhand dieser Analyse entwirft Gauthier „Four main models of family policy“ (ebd.) und unternimmt damit eine Typologisierung der untersuchten Staaten in verschiedene Modelle, die in den 80er und frühen 90er Jahren aufgetreten sind. Gauthier unterscheidet die vier folgenden Familienpolitikmodelle:
das „pro-natalist model“, zu dem sie insbesondere Frankreich zählt,
das „pro-traditional model“, welches sie in Deutschland vertreten sieht, das „pro-egalitarian model“, das in Skandinavien auftrete, sowie das „pro-family but non-interventionist model“, wie es beispielsweise in den USA existiere.8
Im Folgenden werden die Unterschiede in diesen verschiedenen Typen näher erläutert. Für die weitere Analyse sind dabei vor allem das „Pro-natalist model“ und das „Pro-traditional model“ von Interesse.9
Im „pro-natalist“ beziehungsweise „pro-family model“, wie es Gauthier zum Beispiel in Frankreich und Quebec, Kanada verwirklicht sieht, wird geringe Fertilität der Bevölkerung als Problem gesehen, das staatlicher Intervention bedarf. Unterstützung für Familien, welche einen Anreiz für Geburten und damit eine Steigerung der Geburtenrate erwirken soll, wird folglich als Verantwortung des Staates gesehen. Dabei liegt der Fokus auf finanziellen Leistung, welche insbesondere ab dem dritten Kind überproportional ausfallen, um so einen Anreiz für ein drittes Kind steigern. Des Weiteren bestehen zum einen großzügige Leistungen hinsichtlich Mutterschaftsurlaub und Elternzeit und zum anderen ein weit ausgebautes und gefördertes Angebot staatlicher Kinderbetreuungseinrichtungen. Die generelle Absicht dabei besteht darin, Hindernisse bei der Vereinbarkeit zwischen beruflicher Tätigkeit und der familiären Verantwortung abzubauen, und damit einen Kinderwunsch zu begünstigen und zu fördern (Gauthier 1998: 203; Mühling/Schwarze 2011: 45-46).
Im „pro-traditional model“, welches Gauthier Anfang der Neunzigerjahre in Deutschland vertreten sah, liegt der Fokus staatlicher Familienpolitik nicht auf der Förderung von Geburten, sondern auf der Aufrechterhaltung der Institution Familie. Das bedeutet, dass der Staat es zwar teilweise als seine Verantwortung sieht, Familien zu unterstützen, jedoch wird dabei die Rolle Verantwortung der Familie, Gemeinde und Wohltätigkeitsorganisationen als vorrangig gesehen. Der Staat fördert dabei eine traditionelle „male-breadwinner“-Familie, in der der männliche Ehepartner für das Erwerbseinkommen zuständig ist, während für die Partnerin durch staatlich etablierte Hindernisse eine Vollzeiterwerbstätigkeit unattraktiv gemacht wird.10 Dazu gehören eine geringe staatliche Bereitstellung von Kinderbetreuungseinrichtungen und eine ausgedehnte Elternzeit, welche Müttern einen Wiedereinstieg in den Beruf erschwert. Finanzielle Zuwendungen für Familien mit Kindern bestehen zwar, setzen jedoch aufgrund des begrenzten Umfangs keinen Anreiz für weitere Geburten und fördern und begünstigen diese nicht. Familienpolitik wird im „Pro-traditional model“ damit zwar als familienfreundlich vermittelt, ist jedoch nicht mit einem pro-natalen Ziel verknüpft (Gauthier 1998: 204).
Das Hauptanliegen des Staates im „Pro-egalitarian model“ ist die Förderung der Gleichheit zwischen Mann und Frau. Durch umfangreiche finanzielle Leistungen und umfangreiche Kinderbetreuungseinrichtungen wird es Frauen ermöglicht, Vollzeiterwerbstätigkeit und Familienverantwortung zu kombinieren, gleichzeitig wird eine größere Verantwortung von Vätern bei der Kindererziehung gefördert. Geburtenförderung ist aus staatlicher Sicht zwar nachrangig gegenüber dem Ziel der Geschlechtergleichheit, wird jedoch indirekt gefördert (ebd.).
In den USA und Großbritannien besteht laut Gauthier das „pro-family but non-interventionist model“. Hier beschränken sich staatliche familienpolitische Leistungen vor allem auf bedürftige Familien. Weibliche Erwerbsbeteiligung und Geburten werden nicht gehemmt, aber im Zuge sehr geringer Leistungen von Seiten des Staates auch nicht gefördert. Der Verantwortungsbereich des Staates sieht derartige Interventionen nicht vor, und überlasst Leistungen dem deregulierten Markt und der Familie (Gauthier 1998: 205). Abbildung 2 stellt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der von Gauthier entworfenen Familienpolitikmodelle zusammen.11
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Modelle der Familienpolitik nach Gauthier Quelle: Gauthier 1998: 205; eigene Ergänzungen
In ihrem Werk hat Gauthier bereits einige Unterschiede in der Familienpolitik Deutschlands und Frankreichs ausgearbeitet und hervorgehoben. Ein erneuter Vergleich beider Länder im Rahmen dieser Arbeit liefert jedoch neue Erkenntnisse. So beruhen Gauthiers Ergebnisse auf Daten aus den frühen Neunzigerjahren. Aus heutiger Sicht - rund 25 Jahre später - hat die Familienpolitik in Deutschland und Frankreich eine Reihe tiefgreifender Veränderungen erfahren, wie beispielsweise mehrere Kindergeldreformen und den Ausbau der Kinderbetreuung in Deutschland. So konstatiert Gauthier selbst: „[the models] tend to ignore the dynamics of policies, and their continuities and discontinities over time“ (1998: 203).
Gauthiers Einteiliung in vier Familienpolitikmodelle und ihre in den frühen Neunzigerjahren erfolgte Zuordnung Deutschlands zum pro-traditional model und Frankreichs zum pro-family model bietet eine nutzbringende Grundlage für die vorliegende Arbeit. Die Arbeit orientiert sich im Folgenden in Anlehnung an Gauthiers Modell geburtenfördernder Familienpolitik an folgenden Hypothesen:
H1: Niedrige Fertilität wird in Frankreich seit längerer Zeit als in Deutschland als Problem gesehen, das staatlicher Intervention bedarf.
H2: In Frankreich bestehen umfassendere finanzielle Leistungen für Familien mit Kindern als in Deutschland.12
H3: Frankreich verfügt über ein umfassenderes System staatlicher Kinderbetreuung.13
Hypothese 1 führt im folgenden Kapitel zunächst zum historischen Hintergrund pro-nataler Familienpolitik in Deutschland und Frankreich im Laufe des 20. Jahrhunderts. Hierbei werden Ursprung und Gründe für die heute stark divergierenden Geburtenraten beider Länder deutlich.
3. Geburtenförderung als Bereich staatlicher Verantwortung
Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht die Frage, inwiefern Geburtenförderung - ausgehend von der Definition pro-nataler Familienpolitik nach Gauthier - in den beiden Untersuchungsländern als Problem gesehen wird, das staatlicher Intervention bedarf. Da Fertilität ein Phänomen ist, das sich nur bedingt durch kurzfristige politische Entscheidungen erklären lässt, sondern vielmehr aus historischen Entwicklungspfaden heraus betrachtet werden muss (Fuchs 2014: 14), betrachtet das Kapitel diesbezüglich den Wandel des staatlichen Eingriffsbereiches beider Länder im vergangenen Jahrhundert.14
3.1 Ausbau in Frankreich, Zurückhaltung in Deutschland
In Frankreich galt bereits zur Zeit des Ancien Régime im 18. Jahrhundert das Motto „Reichtum durch ‚Kindersegen‘“ (Veil 2007: 30-31). Es bestand hier ein enger Gedankenzusammenhang aus Bevölkerungswachstum und der Produktivität beziehungsweise dem Reichtum des Landes. In diesem Sinne wurde auch später beispielsweise die militärische Niederlage Frankreichs gegen Preußen im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 bis 1871 und der mit dem Konflikt verbundene Fertilitätsrückgang in Frankreich als schädlich für die politische und wirtschaftliche Stärke des Landes wahrgenommen (Gauthier 1998: 24).15 Im Zuge der zeitgleich voranschreitenden Industrialisierung reagierte man in Betrieben mit der Einrichtung von Familienkassen, in der erstmals kinderreiche Industriearbeiter Lohnzuschläge erhielten (Mühling/Schwarze 2011: 66). Hohe Fertilität wurde fortan
[...]
1 Bundeszentrale für Politische Bildung
(2011): http://www.bpb.de/apuz/33446/wo-bleiben-die-kinder-der-niedrigen-
geburtenrate-auf-der-spur?p=all, (zuletzt geprüft: Juni 2016)
2 N-TV (2006): http://www.n-tv.de/politik/dossier/Zahl-der-Geburten-sinkt-weiter-article179885.html,
2016)
(zuletzt geprüft: Juni
3 Wirtschaftswoche (2015): http://www.wiwo.de/erfolg/trends/geburtenrate-deutschland-kindermangel-wird-fuer-deutschland-
zum-problem/11842438.html, (zuletzt geprüft: Juni 2016)
4 Gemessen an der Höhe des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
5 Die zusammengefasste Geburtenziffer ist das am häufigsten verwendete Fertilitätsmaß und bezeichnet die Summe aller
altersspezifischen Geburtenziffern aller Frauen zwischen 15 bis 49 Jahren im betreffenden Jahr (Seyda 2003: 8; Böhmer et al. 2014: 317).
6 In einer Studie des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts aus dem Jahr 2015 steht Deutschland - gemessen an der Zahl der
Geburten pro 1000 Einwohner - gar weltweit auf dem letzten Platz (Handelsblatt 2015).
7 In der politikwissenschaftlichen Forschung existieren zahlreiche Vergleiche von Staaten hinsichtlich der grundsätzlichen Ausgestaltung ihrer familienpolitischen Leistungssysteme (siehe etwa Morgan 2006; Gerlach 2010; Mühling/Schwarze 2011). Hierbei wird jedoch häufig vernachlässigt, dass Familienpolitik stark abweichende Ziele verfolgen kann, welche die entsprechenden familienpolitischen Leistungen bestimmen (so etwa hervorgehoben von Thévenon 2011; Gauthier 1998). Der Fokus dieser Arbeit liegt somit in Anbetracht dessen nicht im bloßen Ländervergleich, sondern unter dem analytischen Gesichtspunkt des familienpolitischen Ziels der Geburtenförderung in beiden Ländern.
8 Hierzu betont Gauthier gleichwohl, dass in den einzelnen Ländern keine Reinformen dieser idealtypischen Modelle bestehen:
"These four models of family policy […] are however found in their 'pure' form only in a limited number of countries. Instead, in most cases, a combination of models prevails" (Gauthier 1998: 205).
9 Die Entwicklung der vielseitigen deutschen Familienpolitik über die letzten Jahre ließe sich auch dahingehend untersuchen, ob
und inwiefern - im Rahmen der Typologisierung Gauthiers - eine Annäherung an das Pro-egalitarian oder das Pro-family model stattgefunden hat, beispielsweise in Hinblick auf Geschlechtergleichstellung. Im Zuge des begrenzten Umfangs dieser Arbeit soll jedoch vor allem die Frage im Mittelpunkt stehen, ob sich Deutschland mit der derzeitigen Ausgestaltung seiner Familienpolitik an das Pro-natalist model und damit an eine geburtenfördernde Politik angenähert hat.
10 Seyda hat hierzu eine Einteilung in vier „Vereinbarkeitsmodelle von Familie und Beruf“ erstellt. Während sie dabei Deutschland wie oben beschrieben dem Modell „male breadwinner and female part-time“ zuordnet, bestehe zum Beispiel in Frankreich ein „modified male breadwinner“-Modell, bei dem durch großzügige familienpolitische Leistungen und eine gut ausgebaute Kinderbetreuung zwar eine gleichmäíge Erwerbsbeteiligung beider Geschlechter gefördert wird, jedoch gleichzeitig am Arbeitsmarkt eine geschlechtsbezogene Differenzierug besteht, vor allem in Hinblick auf gleichmäßige Einkommen. Davon lassen sich wiederum das „male breadwnner and dual full-time“-Modell (z.B. Italien) und das „universal breadwinner“-Modell (z.B. Schweden) abgrenzen. Siehe hierzu ausführlich Seyda 2003: 14-15.
11 Gauthiers Einteilung von Familienpolitikmodellen weist trotz unterschiedlicher Unterscheidungskriterien deutliche Parallelen zu Esping-Andersens Typologie der „Drei Welten des Wohlfahrtsstaats in der Familienpolitik“ auf (siehe Gauthier 1998: 204; Esping-Andersen 2002). So sprechen jedoch Mühling/Schwarze dem Modell Gauthiers eine „deutliche Verbesserung“ (2011: 46) gegenüber dem Modell Esping-Andersen zu, da sie dessen Modell des „Konservativen Wohlfahrtsstaats“ unterteilt in das pro-family sowie das pro-traditional-Modell. Auch in Hinblick auf die vorliegende Arbeit gestattet dies eine lohnende Analyse, da in der Typologie Esping-Andersens Deutschland und Frankreich dem gleichen Modell zugeordnet sind und damit signifikante Unterschiede in der Ausgestaltung der Familienpolitik beider Länder vernachlässigt werden würden.
12 Auch wenn in Gauthiers Einteilung von Familienpolitikmodellen finanziellen Leistungen ein hoher Stellenwert bei pro-nataler Politik zugerechnet wird, bestehen bislang nur wenige empirische Studien zum genauen kausalen Zusammenhang zwischen finanziellen Anreizen und Fertilität (Baclet et al. 2005: 35). Ein Beispiel bieten Laroque und Salanié am Beispiel des Kindergelds: so steige die Geburtenrate um 0,3 Prozentpunkte bei Einführung von Kindergeld in Höhe von 0,3% des Bruttoinladsprodukts (Laroque/Salanié 2008: 1). Auf Grundlage dessen werden finanzielle Leistungen im Rahmen dieser Arbeit als geburtenfördernd betrachtet, wobei hier insbesondere die Analyse verschiedener Anreizsetzungen nicht vernachlässigt werden darf.
13 Hierzu ermitteln Mühling und Schwarze einen positiven Zusammenhang zwischen der Betreuungsquote (dem Anteil der Kinder unter 3 Jahren, die außerhalb der Familie in Einrichtungen oder durch Tagesmütter betreut werden) und der Geburtenrate. So steige mit jedem zusätzlichen Prozentpunkt in der Betreuungsquote die Geburtenrate um 0,01 Prozentpunkte (Mühling/Schwarze 2011: 39-40).
14 Gemäß der These der Pfadabhängigkeit kann hier zudem argumentiert werden, dass die bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Arrangements im Bereich der Familienpolitik in Deutschland und Frankreich heutige Reformoptionen und -potenziale strukturieren (Blome et al. 2008: 77). So ließe sich die These aufstellen, dass aufgrund der deutschen Familienpolitik im 20. Jahrhundert - welche wie im Folgenden gezeigt wird keine geburtenfördernden Ziele verfolgte - auch in heutiger Zeit kein radikaler Umbau der Familienpolitik zu erwarten ist. Solche „Pfadwechsel“ wären aufgrund hoher politischer Widerstände unwahrscheinlich (Mühling/Schwarze 2011: 48-49).
15 So lag die zusammengefasste Geburtenziffer in Frankreich 1870 bei 3,42, 1885 bei 2,90 und 1915 bereits bei 1,50 Kindern je Frau (Gauthier 1998: 14).
- Quote paper
- Tim Mandel (Author), 2016, Wohlfahrtsstaatliche Lenkung der Geburtenrate. Deutschland und Frankreich im Vergleich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/412881
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