Evangelische Kirchen in der DDR. Die Kirche im Sozialismus. Oppositionelle Bewegung in den 1980er Jahren


Masterarbeit, 2016

67 Seiten, Note: 1,3

Verena Steigelt (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen

1. Einleitung

2. Evangelische Kirchen in der DDR zwischen 1949 und 1961

3. Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR

4. „Die Kirche im Sozialismus“
4.1. Selbstverständnis
4.2. Rechtsstellung der evangelischen Kirchen
4.3. Die evangelischen Kirchen zwischen Verantwortung und Deeskalation

5. Anpassung und/oder Widerstand: Wichtige Persönlichkeiten und ihr Wirken
5.1. Albrecht Schönherr
5.2. Christa Lewek
5.3. Heino Falcke Exkurs: Christus befreit - darum Kirche für andere
5.4. Würdigung und Vergleich

6. Oppositionelle Bewegung in den 1980er Jahren
6.1. Politische und gesellschaftliche Situation in den 80er Jahren
6.2. Die Friedensbewegung
6.2.1. Schwerter zu Pflugscharen
6.2.2. Basisgruppen unter dem Dach der Kirche
6.2.3. Friedensgebete
6.2.4. Montagsdemonstrationen
6.3. Die friedliche Revolution und der Fall der Mauer

7. Resümee

Literaturverzeichnis

Anhang

Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Am 9. Oktober 1989 war es soweit. Die Demonstranten an jenem Montag in Leipzig ahnten, dass „die DDR am Abend dieses Tages nicht mehr dieselbe wie am frühen Morgen“1 war. Sie gingen nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche in Leipzig auf die Straßen und demonstrierten friedlich. Immer mehr Menschen schlossen sich den nachfolgenden Demonstrationen an und brachten die Mauer schließlich am 9. November 1989 zum Einstürzen. Es war das Ende des sozialistischen Ostdeutschlands und damit auch das Ende eines langen Weges der evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Doch wie sah dieser Weg aus? Welche Stellung hatten die Kirchen in der DDR? In der Literatur gehen die Meinungen darüber weit auseinander. Passten sich die Kirchen an den Staat an oder leisteten sie Widerstand, waren sie Opportunisten oder Opposition? Gerade nach der Wende beschäftigten sich Theologen, Politikwissenschaftler und Soziologen mit den evangelischen Kirchen in der DDR. Einerseits wurden die evangelischen Kirchen kurz nach der Wende in der DDR als Vorbilder verbindlicher Kirchen gelobt, andererseits enorm stark für ihre Fehler kritisiert und als Teil des unehrlichen Systems angesehen. Damit die Stellung der evangelischen Kirchen in der DDR deutlich wird und der Weg der evangelischen Kirchen durch Ost-Deutschland nachvollzogen werden kann, ist es kaum möglich, sich auf bestimmte Zeitetappen zu beschränken. Deshalb wird der Weg der evangelischen Kirchen in der DDR zunächst vom Kriegsende bis hin zur Entstehung des Bundes evangelischer Kirchen beleuchtet. Darauf folgt eine Darstellung der „Kirche im Sozialismus“. Die Schwierigkeiten, Probleme, aber auch Möglichkeiten, die diese Standortbestimmung und die Zeitspanne der „Kirche im Sozialismus“ mit sich brachten, wird unter Einbeziehung von drei Persönlichkeiten betrachtet, die eine zentrale Rolle innerhalb der Kirchen in der DDR spielten. Anschließend wird die oppositionelle Bewegung in den 1980er Jahren dargestellt, welche dem abschließenden Resümee voraus geht. Diese Ausarbeitung konzentriert sich ausschließlich auf die evangelischen Kirchen in der DDR.

2. Evangelische Kirchen in der DDR zwischen 1949 und 1961

Nach Kriegsende war das Ausmaß der Zerstörung Deutschlands erschreckend. Die zurückgekehrten Flüchtlinge und Kriegsgefangenen, die Familien, die Angehörigen und die Überlebenden aus Konzentrations- und Arbeitslagern prägten das Bild der Gesellschaft.

Auch die Landeskirchen schienen vom allgemeinen Zusammenbruch betroffen zu sein. Unter anderem aufgrund der Auflösung der bestehenden rechtlichen Ordnung, die mit der Besatzung Deutschlands durch die Alliierten einherging, schien sich für einige Theologen eine Auflösung der Landeskirchen anzubahnen. Doch wider Erwarten erfolgte die Reorganisation der Landeskirchen recht zügig. Zwar waren die Grenzen der Landeskirchen nicht immer identisch mit denen der Besatzungszonen, allerdings wichen sie auch nicht besonders stark von ihnen ab. Zur sowjetischen Besatzungszone gehörten acht evangelische Kirchen. Otto Dibelius, der 1933 zwangspensioniert wurde, übernahm gleich nach Ende des Krieges die Leitung der evangelischen Kirche der altpreußischen Union und auch die der dazugehörigen Kirchenprovinz BerlinBrandenburg. 2

Trotz der unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen in den Besatzungszonen, waren die evangelischen Landeskirchen bemüht, eine gemeinsame Organisation zu entwickeln. Es wurde eine vorläufige Ordnung für die evangelische Kirche in Deutschland (EKD) entwickelt, die die Selbstständigkeit der Landeskirchen betonte. Durch die EKD sollten die Interessen der evangelischen Kirchen nach außen vertreten und gemeinsam soziale und politische Verantwortung übernommen werden. Mit zwölf Personen im Rat und dem Vorsitzenden Theophil Wurm war der Rat der EKD trotz der Besatzung gesamtdeutsch orientiert. Bei der zweiten Sitzung des Rates der EKD im Oktober 1945 bekannten die Mitglieder vor den Repräsentanten des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in der Stuttgarter Erklärung ihre Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen und am Krieg:3 „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“4 Dieses Schuldbekenntnis ermöglichte die Rückkehr des deutschen Protestantismus in die Ökumene. Die Grundordnung der EKD wurde dann 1948 in Eisenach verabschiedet.5

Schon zur Zeit der sowjetischen Besatzung standen die evangelischen Kirchen im Osten Deutschlands unter enormen Druck des kommunistischen Regimes, welches nach dem Vorbild der Sowjetunion versuchte, den Einfluss der Kirche in der Gesellschaft zu unterdrücken. Auch nach der doppelten Staatsgründung hatten die ostdeutschen Kirchen und Christen/Christinnen6 in Vergleich zu den westdeutschen Christen nicht ansatzweise die gleichen gesellschaftlichen und politischen

Mitgestaltungsmöglichkeiten. In der Bundesrepublik kooperierten Staat und Kirchen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen: Sowohl im Bildungs- und Erziehungsbereich, im Strafvollzug und im Sozialbereich, als auch im Rundfunk und im Fernsehen waren die evangelischen Kirchen präsent. Im Osten hingegen wurden die bescheidenen Hoffnungen auf Rechtssicherheit und Mitverantwortung der Kirchen in öffentlichen Angelegenheiten zunehmend enttäuscht.7 Zwar räumte die 1949 gegründete Deutsche Demokratische Republik in Artikel 41-48 ihrer Verfassung ähnlich hinreichende Rechte für die Kirchen ein, wie das Grundgesetz im Westen, doch faktisch blieb dies vom Regime fast unbeachtet. Während die SED versuchte, die marxistisch-leninistische Weltanschauung als einziges wissenschaftliches Weltanschauungsmodell in der DDR durchzusetzen, spitzte sich ab 1949 das Verhältnis zwischen SED-Staat und den evangelischen Kirchen stetig zu.

Mit der Ankündigung Walter Ulbrichts zum planmäßigen Aufbau des Sozialismus auf der dritten Parteikonferenz der SED im Juli 1952, verstärkte sich der Druck auf die Kirchen erneut und die Behinderung der kirchliche Arbeit nahm ein neues Ausmaß an. Ziel der SED-Führung war es, die Kirche als gesellschafts-politische Kraft auszuschalten. Mitglieder der Kirchen waren zunehmend sozialen und gesellschaftlichen Benachteiligungen ausgesetzt. Der Fokus der kirchenfeindlichen Maßnahmen der SED lag in dieser Zeit auf der kirchlichen Jugendarbeit. Sie erreichte zu dieser Zeit in Ostdeutschland einen großen Anteil der Jugendlichen und bot der SED somit eine attraktive Angriffsfläche. Mitglieder der Jungen Gemeinde und der Studentengemeinden wurden regelrecht verfolgt. Sie waren Bloßstellungen auf Versammlungen ausgesetzt, wurden öffentlich verpönt und zahlreich verhaftet. Über 30008 Schüler/innen und Studenten/innen wurden bis 1953 der Schulen und Universitäten verwiesen und auch der Religionsunterricht in Schulräumen wurde 1953 verboten. Die evangelischen Kirchen beschrieben die Jahre 1952 und 1953 als Kirchenkampf und betonten die Analogien zwischen kirchenfeindlichen Maßnahmen der NSDAP und der SED.9

Im Juni 1953 wurde nach Stalins Tod der Neue Kurs von der SED-Führung verkündet, der einen Teil der gegen die Kirchen gerichteten Maßnahmen dämpfte. Kurz darauf empfing Ministerpräsident Grothewohl, in einem ersten Staat-Kirche-Gespräch auf oberster Ebene Bischof Dibelius. Grothewohl machte den evangelischen Kirchen in diesem Gespräch einige Zugeständnisse, indem er erklärte, dass die Verfolgungen beendet werden würden und eine umfassende Rehabilitierung erfolgen könne. Dadurch entspannte sich die Staat-Kirche-Beziehung kurzweilig.10 Doch schon im März 1954 setzte die SED den Kampf gegen die evangelischen Kirchen fort. Erneut war die Jugend, die für den Sozialismus gewonnen werden sollte, Zielscheibe der SED. Zu diesem Zweck wurde die Jugendweihe eingeführt, die mit ihrer Schulung eindeutig atheistisch ausgelegt war. Mit Einführung der Jugendweihe begann ein jahrelanges Ringen um Jugendweihe und Konfirmation. Während die evangelischen Kirchen Konfirmation und Jugendweihe für unvereinbar erklärten11, gaben große Teile der Bevölkerung dem Druck der SED aus Sorge um die Zukunft ihrer Kinder nach und meldeten sie zur Jugendweihe an. Der Kampf um Konfirmation und Jugendweihe und die damit verbundenen Verluste an Kirchenmitgliedern war ein herber Einschnitt für die evangelischen Kirchen in der DDR und schwächte die Kirchenleitung sehr.12

Als es im Februar 1957 zum Abschluss des Militärseelsorgevertrages zwischen der Bundesregierung und der EKD kam, spitzte sich die Lage erneut zu. Denn auch die östlichen Synodalen hatten mit Mehrheit für diesen Vertrag gestimmt. Dies war Grund genug für die DDR-Führung die EKD als NATO-Kirche darzustellen.

Im Frühjahr 1957 übernahm das neu gegründete Amt für Kirchenfragen die „Aufgaben der zentralen staatlichen Administration und die Kirchenabteilung der Staatssicherheit die Überwachung und Information“13 von kirchlichen Angelegenheiten. Dieses Amt, welches von Mitgliedern der SED geleitet wurde, war fortan zentrale Anlaufstelle für die Kirchen. Jedes Anliegen der Kirchen musste nun über dieses Staatssekretariat eingereicht werden. So sollte es dem Regime gelingen, die Kirchen aus der Gesellschaft zu drängen, die kirchlichen Aktivitäten auf die Diakonie und die Seelsorge zu beschränken und die Pfarrer/Pfarrerinnen und Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen in Bezug auf ihre Haltung zum Staat zu beeinflussen.

1958 kam es zu einem zweiten Staat-Kirche-Gespräch auf höchster Ebene, an dem Ministerpräsident Grothewohl und der Thüringer Bischof Moritz Mitzenheim teilnahmen. Mit einem „Gemeinsamen Kommuniqué“ wurde erstmals eine grundsätzliche Erklärung über die offizielle Haltung der evangelischen Kirchen gegenüber der DDR gegeben und damit die Verhandlungen abgeschlossen. In diesem Gespräch wollten Kirchenvertreter den Verfassungsbruch, den die Regierung mit der Verfolgung und Benachteiligung von Christen begangen, thematisieren. In der Erklärung aber wurde der „Vorwurf des Verfassungsbruchs nicht aufrechterhalten“14. Stattdessen respektierten die in ihrer Position geschwächten evangelischen Kirchen mit dieser Erklärung die Entwicklung zum Sozialismus und stimmten letztendlich damit den politisch-gesellschaftlichen Zielvorstellungen der DDR-Führung zu. Diese innerkirchlich sehr umstrittene Erklärung kündigte einen Kurswechsel der Kirchenpolitik an und ist von dort an Wegweiser für die Kirchen in der DDR geworden.15 Kurz darauf, im Jahre 1959, entfachte eine weitere Kontroverse um den „Obrigkeits-Charakter des demokratisch nicht legitimierten, mehrfach rechtsbrüchigen und atheistischen SED-Staates“16. Ausgelöst wurde sie durch die Obrigkeitsschrift des Berliner Bischofs Otto Dibelius, in der er der DDR jede Rechtsmäßigkeit absprach.17 Die DDR-Führung reagierte auf diese Schrift, mit der Deklarierung Dibelius’ als

Faschist und Atomkriegsbefürworter.18 Das kompromisslose Ablehnen, welches Dibelius gegenüber dem Staat äußerte, führte schließlich zu seiner Absetzung als Vorsitzenden der kirchlichen Ostkonferenz. Sein Nachfolger wurde Bischof Friedrich Wilhelm Krummacher, der zu Demonstrationen gegen die Willkür des Staates gerade in Bezug auf die Bodenreform aufrief und vermutlich deshalb nicht als Verhandlungspartner der DDR-Führung akzeptiert wurde.19 In den sechziger Jahren beugten sich viele Christen dem Willen der SED und verließen die Kirche. Auch die gesellschaftlichen Benachteiligungen und der andauernde Druck von und für Mitglieder der Kirche führten zu Kirchenaustritten. Nicht zuletzt führte die Bodenreform dazu, dass ein bedeutender Teil des Bildungs- und Besitzbürgertums in den Westen floh. In den Jahren des Kirchenkampfes verloren die Gemeinden einen Großteil der Mitglieder. Als Christ war man inzwischen Teil einer Minderheit, die immer weniger Rückhalt aus der Bevölkerung erfuhr.

Doch schon seit der Gründung der DDR erhielten die evangelischen Kirchen im Osten Unterstützung durch die evangelischen Kirchen im Westen. Durch Partnerschaften zwischen Gemeinden im Osten und Westen Deutschlands konnten sowohl Besuche und Predigeraustausche organisiert, als auch finanzielle und materielle Spenden übergeben werden.20

3. Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR

Seit dem Mauerbau im August 1961 wurden die Gemeinsamkeiten der evangelischen Kirchen in Ost und West immer geringer und die Unterschiede zunehmende spürbarer. Theologische Überlegungen waren vermehrt spezifisch auf die gesellschaftlichen und kirchenpolitischen Verhältnisse in Ost und West abgestimmt. Denn seit des Abschlusses des Militärseelsorgevertrages, der die Grundlage der Seelsorge der EKD in der Bundeswehr der BRD darstellt, intensivierte sich der Druck auf die evangelischen Kirchen und die Christen der DDR. Sie befanden sich somit in einer anderen Situation als die Kirchen im Westen. Seit Abschluss des Vertrages sah die SED in der gesamtdeutschen Organisation der EKD ihren Anspruch auf Eigenstaatlichkeit und internationale Anerkennung nun noch mehr in Gefahr. Durch das Abschneiden der Informations- und Kommunikationswege und die Errichtung der Mauer, wurde es den evangelischen Kirchen in Deutschland zusätzlich erschwert, ihre Einheit zu wahren und ihre Arbeit fortzuführen.21

Sowohl die Zehn Artikelüber Freiheit und Dienst der Kirche im Jahre 1963, die im Namen aller acht ostdeutschen Landeskirchen verfasst wurden und dazu ermutigten, „die reale Situation in der DDR als Christen anzunehmen“22, als auch die Sieben Sätzeüber die Freiheit der Kirche zum Dienen aus dem Jahre 1965 versuchten, Orientierung in der speziellen Lage der Christen in der DDR zu bieten.23

Da nun aufgrund der Mauer keine gemeinsamen Tagungen der EKD-Synode mehr möglich waren, hielt die EKD im April 1967 Parallelsynoden ab. Die Synodalen des Ostens tagten in Fürstenwalde östlich von Berlin und die westliche Synode fand in Berlin-Spandau statt. Trotz intensiver Versuche der Staatsführung der DDR, die Kommunikation zwischen den Teilsynoden zu unterbinden, betonte die EKD hier noch deutlich ihre Einheit.24

Für Diskussionen innerhalb der Kirchen sorgte der Thüringer Bischof Moritz Mitzenheim, der von Walter Ulbricht als Gesprächspartner ausgewählt wurde. „Mitzenheim hat seine Gespräche in Stellvertretung für die anderen führen wollen, die keine solche Möglichkeit hatten. Nur hatte ihn niemand beauftragt oder gebeten.“25 Im Verlauf der Debatte um eine neue Verfassung, die im Jahr 1968 in Kraft trat, äußerte er: „Die Staatsgrenzen der DDR bilden auch die Grenzen für die kirchlichen Organisationsmöglichkeiten.“26 Diese Aussage nahm Ulbricht dankbar an und verallgemeinerte sie im Verlauf der Verfassungsdiskussion zu „Staatsgrenzen sind auch Kirchengrenzen“.27 Denn Ziel der SED-Führung war es, die ostdeutschen Kirchen vollständig von der EKD abzuspalten, das heißt, die evangelischen Kirchen zu separieren und sie so schließlich aus der Gesellschaft drängen zu können. Die Aussage Mitzenheims kam der SED-Führung dementsprechend sehr gelegen.

Mit Inkrafttreten der neuen Verfassung wurde zwar individuelle Gewissens- und Glaubensfreiheit für die Bürger/Bürgerinnen der DDR zugesichert (Artikel 20), allerdings waren die Rechte der Kirche nun noch mehr vom Entgegenkommen des Staates abhängig, da ansonsten kaum Regelungen bezüglich der Kirche festgehalten wurden. Die Staatsführung hielt allerdings an der Aussage „Staatsgrenzen sind auch Kirchengrenzen“ fest und nahm den ostdeutschen Kirchen damit die legale Verbindung zur EKD.

Es folgten nach der Verfassungsänderung viele Diskussionen über den Weg der Kirchen in der DDR. Zwar wollten viele Kirchenleitungen an der Einheit mit der EKD festhalten, doch war auch allen bewusst, dass die Kirchen nun wesentlich selbstständiger handeln mussten, um ihren Problemen gerecht werden zu können.28 Die acht Landeskirchen des Ostens stellten einen Ausschuss, der im Herbst 1968 einen ersten Entwurf einer Ordnung des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) entwickelte. So sollte eine gemeinsame kirchliche Vertretung gegenüber der DDR-Regierung besser wahrgenommen werden können. Im Juni 1969 wurde schließlich der BEK gegründet. Damit wurden Diskussionen entfacht, die beinhalteten, dass möglicherweise nicht genügend Gründe für die Verselbständigung der östlichen Kirchen sprachen, sondern lediglich dem Druck des Staates nachgegeben wurde. Doch für Albrecht Schönherr und andere Theologen ging es hinsichtlich der Gründung des Bundes vielmehr um die „sehr verantwortliche Entscheidung, mit welcher Art von Institution und mit welchen Organen dem Christus-Auftrag der Kirchen [...] am besten zu dienen sei.“ 29

Die bisherigen ostdeutschen Mitglieder des Rates und der Synode der EKD legten mit Gründung des BEK ihr Amt in der EKD nieder und wählten in der Synode im September 1969 Oberkirchenrat Braecklien aus Eisenach als Präses. Die leitenden Gremien des BEK waren ähnlich wie bei der EKD, die Synode und die Konferenz der Kirchenleitung, dessen erster Vorsitzender Albrecht Schönherr wurde. Das Verwaltungszentrum war das Sekretariat in Ost-Berlin, dessen Vorsitz ab 1969 Manfred Stolpe hatte.

Mit der Gründung des BEK machten die Kirchen einerseits deutlich, dass sie die realpolitischen Gegebenheiten anerkannten. Andererseits war der Zusammenschluss der

Kirchen im BEK auch eine Teilniederlage für die SED. Denn eine Dachorganisation der Kirchen entsprach nicht ihrem Ziel der Aufspaltung in Landeskirchen. Gerade der Artikel 4,4, der die „besondere Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit“30 betonte, wich von den Vorstellungen der SED ab. Dies ließ die SED den BEK auch spüren, denn es vergingen eineinhalb Jahre nach Gründung des Bundes, bis dieser vom Staat anerkannt wurde.

4. „Die Kirche im Sozialismus“

4.1. Selbstverständnis

Mit der Trennung der ostdeutschen Kirchen von der EKD und der Gründung des Kirchenbundes entwickelte sich innerhalb der Kirchenleitung auch ein neues Selbstverständnis der evangelischen Kirchen in der DDR. Der Kirchenbund orientierte sich dabei an der Theologie Dietrich Bonhoeffers. So wurde das „Bekenntnis zur Diesseitigkeit des Christentums“31 grundlegend für die Arbeit des BEK. Christen sollten nun keine Randgruppe mehr sein, sondern Teil der verantwortlichen gesellschaftlichen Ordnung. Trotz der Tatsache, dass die evangelische Kirche inzwischen eine Minderheitskirche war, wurde versucht, in Anlehnung an Bonhoeffer, eine neue Volkskirche, im Sinne einer Kirche für das Volk, zu entwickeln. Volkskirche nicht im Sinne einer Kirche für Massen, sondern in Sinne einer „Kirche für andere“. Auf der Eisenacher Synode im Juli 1971 erklärte der Bund bezüglich seines Selbstverständnisses: „Eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft von Kirchen in der DDR wird ihren Ort genau zu bedenken haben: In dieser so geprägten Gesellschaft, nicht neben ihr, nicht gegen sie.“32 Die Staatsordnung der DDR wurde anerkannt und man wollte sich der Verantwortung gegenüber den Menschen in der DDR stellen, sich in der sozialistischen DDR „bewähren“33. Aus dieser Formulierung wurde nach und nach die gekürzte Formel „Kirche im Sozialismus“. In ihrer Vieldeutigkeit und Ungenauigkeit wurde sie seitens der SED als theologische Anpassung an die Staatsführung verstanden und innerhalb der Kirche lediglich als eine Ortsbestimmung, die den evangelischen Kirchen allerdings zu öffentlichem Einfluss verhalf, da sie der SED schmeichelte. Durch die Formel äußerte die Kirche dem Staat gegenüber Kooperationsbereitschaft, dennoch hielt sie gleichzeitig daran fest, dass sich die Kirche nicht mit einem Gesellschaftssystem verbinden kann.

Unangenehm wurde das neue Selbstverständnis der Kirche für den Staat, wenn Theologen aus der Formel ihren Anspruch ableiteten, Kritik am Sozialismus auszuüben, beziehungsweise vom „verbesserlichen Sozialismus“34 sprachen, wie es Heino Falcke tat, als er die Kirche im Sozialismus als „Einwanderungsformel“35 interpretierte, die „Anwesenheit und Teilnahme“36 ausdrücken will.37

4.2. Rechtsstellung der evangelischen Kirchen

In der DDR-Verfassung von 1949 wurden die Formulierungen der Weimarer Verfassung hinsichtlich der Kirchen- und Religionsangelegenheiten (Artikel 41-48) übernommen. Schnell entsprachen die Artikel aber nicht mehr der Realität, denn die Staatsführung ließ die Verfassung weitgehend außer Acht. Beispielsweise wurde noch in Artikel 44 das Recht auf Religionsunterricht in Schulräumen zugesichert und es bestand laut Artikel 46 das Recht zur Seelsorge und der Durchführung von Gottesdiensten in Krankenhäusern und Strafanstalten. Beides war allerdings schon in den fünfziger Jahren unmöglich geworden.38

Die Rechte von Kirchen wurden schließlich in der Verfassung von 1968 zu einem Artikel (Artikel 39) zusammengefasst, damit stark gekürzt und an die gesellschaftliche Wirklichkeit angepasst. Mit dieser Änderung blieb den Kirchen nur noch das unspezifische Recht erhalten, ihre „Angelegenheiten“39 zu ordnen, dies musste aber in „Übereinstimmung mit der Verfassung und den gesetzlichen Bestimmungen der deutschen Demokratischen Republik“40 geschehen. Dieser Absatz sollte den Kirchen deutlich zeigen, dass sie sich dem sozialistischen System unterzuordnen haben. Die Formulierung des Artikels beunruhigte führende Kirchenmitglieder. Denn „ihre Angelegenheiten“ sind nicht definiert gewesen und waren somit Auslegungssache des Staates. Der Zusatz, dass „Näheres“ durch „Vereinbarungen geregelt werden“ konnte, unterlag auch der Interpretation des Staates und verdeutlicht, dass die Gestaltung des Staat-Kirche-Verhältnisses in der Hand der des Staates liegen sollte. Seit einem Spitzengespräch am 6. März 1978 zwischen Honecker und Kirchenvertretern, machte die Staatsführung den Kirchen einige Zugeständnisse, allerdings ergab sich daraus keinerlei Rechtssicherheit für die evangelischen Kirchen. Wage räumte Honecker ein Recht auf Mitgestaltung der gemeinsamen Zukunft ein und lobte die Friedensarbeit in der Völkerversöhnung und die Diakonie der Kirche. Das Gespräch brachte aber dennoch Erleichterung für die kirchliche Arbeit. Dies betraf beispielsweise die Seelsorge in Alters- und Pflegeheimen sowie im Strafvollzug und die Arbeit in kirchlichen Kindergärten oder anderen Einrichtungen. Außerdem wurde der Kirche gestattet, in eigener Verantwortung sechsmal im Jahr Fernsehsendungen und einmal monatlich eine Nachrichtensendung im Rundfunk auszustrahlen.41

4.3. Die evangelischen Kirchen zwischen Verantwortung und Deeskalation

In der Deutschen Demokratischen Republik war es nie die Absicht der evangelischen Kirche eine Oppositionspartei zu sein, doch aufgrund des Spielraumes, den der Staat der Kirche seit den 70er Jahren zugestanden hatte, war die Kirche einer der wenigen Orte, an denen über gesellschaftliche Missstände gesprochen werden konnte. Die Kirche gewährte gesellschaftskritischen Gruppen Raum, denn sie sah es als ihre Verantwortung an, ihnen Gehör zu schenken. Diese gesellschaftskritischen Gruppen bildeten sich teilweise schon als die Kirchen in den frühen 60er Jahren Alternativen zum Waffendienst in der DDR forderten. Diese frühen Friedensinitiativen versuchte die Staatsführung derzeit noch mit der Einführung von Bausoldaten zu besänftigen, um die direkte Auseinandersetzung zu vermeiden. Allerdings führte dies nicht zu einer Auflösung der Initiativen sondern vielmehr dazu, dass die Basisgruppen Friedensdienste und Friedensseminare organisierten und erfuhren, dass zumindest teilweise in den Räumen der Kirche Kritik und Widerstand möglich war. Thematisch bezogen sich die Basisgruppen sowohl auf Rechts- und Menschenrechtsfragen, als auch auf Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.42

In dieser Situation versuchten die Kirchen zwei Aufgaben gerecht zu werden. Einerseits schenkten sie den kleinen Bevölkerungsgruppen Gehör und versuchten, soweit es ihnen möglich schien, das zur Sprache gekommene in Forderungen an den Staat umzusetzen, ohne die sozialistische Gesellschaft grundsätzlich in Frage zu stellen. Andererseits versuchten sie auch die Gruppen vor Konfrontationen mit dem Staat zu bewahren und die Lage zu entschärfen. Diese Rolle der Kirchen kam auch der SED gelegen, da sie in Konfliktfällen dazu beitrug, ihre Herrschaft zu stabilisieren.43

5. Anpassung und/oder Widerstand: Wichtige Persönlichkeiten und ihr Wirken

5.1. Albrecht Schönherr

Vermutlich hat kaum jemand den Weg der evangelischen Kirchen in der DDR so sehr geprägt wie Albrecht Schönherr. Trotz lauter Kritik stand er immer für eine „Kirche im Sozialismus“ ein und sah sich in der Pflicht als Christ in der DDR Mitverantwortung zu tragen und sich nicht aus Angst zu verweigern.

Als Sohn eines Katasteramtdirektors wurde Albrecht Schönherr am 11. September 1911 in Oberschlesien geboren und wuchs als Einzelkind bei seiner Mutter auf, nachdem sein Vater 1918 im Krieg gefallen war. In Neuruppin absolvierte er 1929 sein Abitur und begann daraufhin sein Theologiestudium in Tübingen. 1931 zog er für sein weiteres Studium nach Berlin und lernte dort den jungen Privatdozenten Dietrich Bonhoeffer kennen. Bonhoeffer imponierte Schönherr sehr und beeinflusste ihn in seinem weiteren Weg innerhalb und auch außerhalb des Dienstes der Kirche sehr. Auch das von Bonhoeffer geleitete Predigerseminar in Finkenwalde besuchte Schönherr mit Begeisterung und wurde dort in seinem Kirchenverständnis von der „Kirche für ander e“ geprägt. Als Mitglied der Bekennenden Kirche übernahm Schönherr 1937 das Theologenstudentenamt der Bekennenden Kirche in Greifswald und wurde Pfarrer in Brüssow. Nach seinem Kriegseinsatz und anschließender Kriegsgefangenschaft, in der er als Gefangenenseelsorger den Soldaten zur Seite stand, kehrte er 1945 zu seiner Familie und Gemeinde nach Brüssow zurück.44

Nach kurzer Zeit jedoch hat er Brüssow verlassen und ist nach Brandenburg gegangen, um dort seine Stellen als Gemeindepfarrer, Superintendent, Domdechant und ab 1951 auch als Leiter des Predigerseminares anzutreten. Hier erlebte er von 1946 - 1962 die kirchenfeindliche Politik der SED samt der Unterdrückungen von und Übergriffe auf Christen. Gerade diese Zeit mit gewaltvollen Attacken auf Christen und den Niederschlagungen der Aufstände in der DDR 1953 sowie 1956 in Ungarn und Polen prägten sein zukünftiges Denken und Handeln. 1963 wurde Schönherr Generalsuperintendent des Kirchenkreises Eberswalde und 1967 Verwalter des Bischofsamtes der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg. Nach Erlass der neuen Verfassung wurde er zum Befürworter der Trennung, der ostdeutschen Landeskirchen von der EKD und stand öffentlich dafür ein, die DDR nicht als ein „Wölkchen, das vorüberzieht“45 anzusehen. Er erkannte die Realität der Existenz zweier deutscher Staaten an und vertrat die Ansicht mit der Trennung von der EKD, der Situation besser gerecht werden zu können und für die Christen in der DDR mehr tun zu können. 1969 war er dann Mitbegründer des BEK und übernahm bis 1981 auch den Vorsitz der Konferenz der Kirchenleitung des BEK. Sein moderater Kurs wurde auch zu der Zeit immer wieder kritisiert. Vor allem als der BEK seine Standortbestimmung als „Kirche im Sozialismus“ beschrieb, welches Schönherr in Anlehnung an Bonhoeffer auch als „Kirche für andere“ interpretierte, wurden Stimmen gegen Schönherrs Kurs laut.46

Trotz dessen wurde er 1972 zum Bischof der Ostregion der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg gewählt. Das Spitzengespräch, welches Schönherr mit einer Delegation des BEK und Honecker am 6.März 1978 hielt, markierte den Höhepunkt seines Bemühens.

Nach Schönherrs Ruhestandseintritt 1981 nahm er sich Zeit für seine Familie, hielt aber weiterhin Vorträge im In- und Ausland und setzte sich stark dafür ein, das Erbe Dietrich Bonhoeffers weiterzutragen. Am 9. März 2009 starb Albrecht Schönherr in Potsdam. Seinen Erinnerungen an den Weg der evangelischen Kirche in der DDR gab Schönherr 1993 den Titel „...aber die Zeit war nicht verloren“. Er übernahm damit ein Zitat Dietrich Bonhoeffers aus der NS-Zeit kurz vor seiner Verhaftung. Der Titel stellt nicht nur eine Aussage Schönherrs über das Leben, die Gesellschaft und den Weg der Kirche in der DDR dar, sondern macht auch deutlich, wie sehr Schönherrs Denken und Handeln durch Bonhoeffer geprägt wurde. So setzte sich Schönherr als Vorsitzender der Konferenz der Kirchenleitung sowohl vehement dafür ein, dass Kirche in der DDR „Kirche für andere“ sein sollte, als auch dafür, dass die Situation und die DDR als Ort der Kirche, an dem sie sich bewähren muss, angenommen wird. Kirche sollte Schönherrs Meinung nach gemäß Bonhoeffers Vorstellung für andere da sein und „an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend.“47 Damit dies möglich ist, wurde Schönherr nach dem Inkrafttreten der neuen Verfassung zum Befürworter eines eigenständigen Weges der ostdeutschen Landeskirchen. Denn von 1968 an, war es der EKD kaum noch möglich die Unterstützung zu bieten, welche die Christen beziehungsweise die Bevölkerung im Osten unter völlig anderen sozialen und politischen Verhältnissen dringend brauchten. Außerdem ist mit der neuen Verfassung von 1968 jede Verbindung, die über die Grenzen der DDR hinausging, illegal geworden. Aufgrund seiner Meinung zur Eigenständigkeit der ostdeutschen Kirchen, musste sich Schönherr vielfach der Kritik anderer Theologen stellen. So wurde auch der Vorwurf laut, dass mit der Trennung von der EKD die letzte Verbindung zur Bundesrepublik gekappt wurde.48 Doch seiner Meinung nach war es nicht Mandat der Kirche, einen Kampf an der Grenze zweier Systeme zu führen. Aufgabe der evangelischen Kirchen ist es, dass sie da wo sie sind, „das Evangelium zu vertreten haben durch Wort und Tat“49 und ganz Kirche sind. Mit der Trennung habe man nicht dem Druck der SED nachgegeben, sondern man habe eine der wichtigsten politischen Aufgaben der Kirche wahrgenommen, indem man um Frieden bemüht war und sich nicht in einen Kampf stürzte, der nicht Kampf der Kirche sein konnte.50

Immer wieder wurde die Kritik laut, dass sich Schönherr zu sehr an das Regime der DDR angepasst, zu sehr nachgegeben und sich nicht offen genug gegen die Partei positioniert habe. Doch vielleicht werden die Hintergründe für den moderaten Kurs Schönherrs deutlicher, wenn man seine Beweggründe genauer betrachtet. In all den Jahren, in denen Schönherr für den BEK tätig war, bestimmten neun Hauptgedanken sein Handeln und das des BEKs51:

„1. die Lehren aus dem Kirchenkampf der NS-Zeit zu beherzigen: unser Handeln stets auf die Mitte, auf Christus, zu beziehen; die Freiheit der Kirche, die aus ihrem Auftrag herrührt, unbedingt zu bewahren; die Frage nach der Christuswahrheit als Existenzfrage der Kirche zu verstehen; eine Kirche von Brüdern und Schwestern zu erstreben; Verantwortung auch für Politik und Gesellschaft zu übernehmen; den Staat bei seinen, ihm von Gott gegebenen Aufgaben, für Recht und Frieden zu sorgen, zu behaften und zu unterstützen;
2. den Schwachen aller Art nach Kräften beizustehen; Lobby zu sein für die, die keine Lobby haben; aus dem Kirchenkampf hat sich mir der Satz eingeprägt: „Tue deinen Mund auf für die Stummen“ (Sprüche 31, 8);
3. die eigene Freiheit zu bewahren zugunsten der Freiheit aller;
4. die Relevanz des Evangeliums für den gesamten Lebensbereich theoretisch und praktisch zu bekunden;
5. die Religionskritik des Marxismus („Opium des Volkes“) vor allem durch die Praxis zu widerlegen;
6. Die Handlungsfähigkeit der Gemeinde und der Gesamtkirche zu erhalten;
7. die Bedingungen für die Kommunikation mit der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Ökumene zu bewahren;
8. eine Gesprächsebene mit den Machthabern zu finden und zu verbessern; zu vermeiden dass der Gesprächspartner eine unfruchtbare Klassenkampfposition bezieht;
9. nie zu vergessen, dass Christus nicht gegen die Marxisten, sondern für alle Menschen gestorben ist.“52

Wenn der BEK nun die SED offener kritisiert und Druck auf das Regime ausgeübt hätte, den Staat als solchen nicht anerkannt hätte, wäre er dann noch in der Lage gewesen, seine Freiheit zu wahren, um Verantwortung in Politik und Gesellschaft übernehmen zu können? Bestünde dann in Verhandlungen noch die Möglichkeit für die einzutreten, die keine Lobby haben? Hätten die Kirchen dann das Evangelium noch bekunden, die Menschen erreichen können oder wären die Kirchen dann in den Untergrund gedrängt worden? Es darf nicht vergessen werden, dass die DDR ein Polizeistaat, eine Diktatur gewesen ist. Jede Kritik wurde als Angriff auf das System verstanden.

Um den Menschen, die in dem SED-Staat lebten und zum Teil sehr stark darunter litten, helfen zu können und um überhaupt handlungsfähig zu bleiben, war Albrecht Schönherr also stets bemüht, Verhandlungsebenen aufrecht zu erhalten. Denn die Kirchen waren von Verhandlungen und Vereinbarungen mit der SED abhängig. Dies wollte man nicht gefährden. Die Erfahrung zeigte nämlich, dass das Risiko, dass die Staatsführung ihre Abwehrstellung aufnahm und nicht mehr für Gespräche bereit war, durch Konfrontationen und Druck wuchs.53

Welche Möglichkeiten wären den Kirchen dann noch geblieben, wenn der Staat sich verweigert hätte? Hätten Kirchen dann noch „für den einzelnen Menschen und für die Gesellschaft, in der dieser lebt“ 54 verantwortlich handeln können? Durch Schönherrs Kurs jedenfalls erhielt die Kirche nach und nach ein gewisses Maß an Freiheit und Mitverantwortung gegenüber der sozialistischen Gesellschaft. Er sah die Aufgabe der Kirche nicht darin, die DDR zu zerstören, sondern etwas dazu beizutragen, dass sie „reformiert, liberalisiert wird, vielleicht ein bisschen demokratischer wird“55. Für den Weg der mit „Kirche im Sozialismus“ gemeint ist, war Schönherr „nicht bereit Buße zu tun.“56 Er erklärte dies mit einem Zitat Dietrich Bonhoeffers:

„Wer in Verantwortung Schuld auf sich nimmt - und kein Verantwortlicher kann dem entgehen - , der rechnet sich selbst und keinem anderen diese Schuld zu und steht für sie ein, verantwortet sie. Er tut es nicht in dem frevelndem Übermut seiner Macht, sondern in der Erkenntnis, zu dieser Freiheit genötigt und in ihr auf Gnade angewiesen zu sein.“57

[...]


1 Führer, Christian: Leipzig - Von den Friedensgebeten zur friedlichen Revolution. In: Kirchenamt der EKD (Hrsg.): 20 Jahre friedliche Revolution. Hannover 2010. S. 8-12, S. 11

2 Vgl.: Greschat, Martin : Vorgeschichte. In: Lepp, Claudia/ Nowak, Kurt: Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945-1989/90). Göttingen 2001. S. 17ff.

3 Vgl.: Evangelische Kirche Deutschland: Gründung der EKD zwischen Schuld und Trümmern. Verfügbar über: https://www.ekd.de/aktuell/45522.html Datum des Zugriffs: 11.05.16

4 Schriftendienst der Kanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland: Zur Schuldfrage (mit Stellungnahmen ausländischer Kirchen); KJ 1945 -1948, 1950, S. 26f. Zitiert nach: Krumwiede, HansWalter u.a. (Hrsg.): Kirchen und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. IV Neuzeit. Neukirchen-Vluyn 1989, S.163.

5 Vgl.: Evangelische Kirche Deutschland: Gründung der EKD zwischen Schuld und Trümmern. Verfügbar über: https://www.ekd.de/aktuell/45522.html Datum des Zugriffs: 11.05.16

6 Im Folgenden werde ich der Einfachheit halber nur die männliche Form von Christen nennen. Grundsätzlich sind damit aber auch Christinnen eingeschlossen.

7 Vgl.: Lepp, Claudia. Entwicklungsetappen der Evangelischen Kirche. In: Lepp, Claudia/ Nowak, Kurt (Hrsg.): Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945-1989/90). Göttingen 2001. S. 50

8 Vgl.: Maser, Peter: Die Kirchen in der DDR. Bonn. 2000. S. 21

9 Vgl.: Wallmann, Johannes: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation. Tübingen (6. Auflage) 2006. S. 297

10 Vgl.: Ebd. S.298

11 Vgl.: Falcke, Heino (2014): Konkurrenz zur Konfirmation. [YouTube-Video]Gedächtnis der Nation. Veröffentlicht am 14.04.2016. Verfügbar über: https://www.youtube.com/watch?v=iixcc-gnz6c Datum des Zugriffs: 02.07.2016

12 Vgl.: Ebd. S. 298ff.

13 Lepp, Claudia: Entwicklungsetappen der Evangelischen Kirche. In: Lepp, Claudia/ Nowak, Kurt (Hrsg.): Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945-1989/90). Göttingen 2001. S. 52

14 Besier, Gerhard: Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung. München 1996. S. 279

15 Wallmann, Johannes: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation. Tübingen (6. Auflage) 2006. S.301

16 Lepp, Claudia: Entwicklungsetappen der Evangelischen Kirche. In: Lepp, Claudia/ Nowak, Kurt (Hrsg.): Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945-1989/90). Göttingen 2001. S. 54

17 siehe hierzu: Stüpperich, Robert: Otto Dibelius: Ein evangelischer Bischof im Umbruch der Zeiten. Göttingen. 1989. S. 539ff.

18 Vgl.: Ludwig, Hartmut / Kleinschmidt, Karl: 30. Januar - Landesbußtag! In: Standpunkt. Evangelische Monatsschrift, 11. Jg., 1/1983, S. 24.

19 Vgl.: Wallmann, Johannes: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation. Tübingen (6. Auflage) 2006. S.302 ff.

20 Vgl.: Wallmann, Johannes: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation. Tübingen (6. Auflage) 2006. S.304

21 Vgl.: Maser, Peter: Die Kirchen in der DDR. Bonn 2000. S. 23f.

22 Lepp, Claudia. Entwicklungsetappen der Evangelischen Kirche. In: Lepp, Claudia/ Nowak, Kurt (Hrsg.): Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945-1989/90). Göttingen 2001. S. 63

23 Vgl.: Bulisch, Jens: Evangelische Presse in der DDR. „Im Zeichen der Zeit“(1947-1990). Göttingen. 2006. S. 287 f.

24 Vgl.: Schönherr, Albrecht: ...aber die Zeit war nicht verloren. Erinnerungen eines Altbischofs. Berlin 1993. S. 243ff.

25 Ebd S. 245

26 Ebd. S. 248

27 Ebd.

28 Vgl.: Schönherr, Albrecht: Kirche darf nicht ortlos sein. In: Berliner Gespräche. Berlin 1997. S. 30 Verfügbar über: http://www.luise-berlin.de/bms/bmstxt97/9711spra.htm Datum des Zugriffs: 19.06.2016

29 Schönherr, Albrecht: ...aber die Zeit war nicht verloren. Erinnerungen eines Altbischofs. Berlin 1993. S. 258

30 Maser, Peter: Die Kirchen in der DDR. Bonn 2000. S.26

31 Schönherr, Albrecht: Weder Opportunismus noch Oppsition. Kirche im Sozialismus - Der beschwerliche Weg der Protestanten in der DDR. In: Die Zeit. 07.02.1992. S. 3. Verfügbar über: http://www.zeit.de/1992/07/weder-opportunismus-noch-opposition/seite-3 Datum des Zugriffs: 01.06.2016

32 BEK: Zit.n.: Sekretaeriat des BEK (Hrsg.): Kirche als Lerngemeinschaft. Dokumente aus der Arbeit des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Ost-Berlin 1981. S. 172f.

33 Beckmann, Joachim (Hrsg.): Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 1970. Gütersloh 1972. S.301

34 Falcke, Heino: Christus befreit - darum Kirche für andere. In: Demke, Chrsstioph/ Falkenau, Manfred/ Zeddies, Helmut (Hrsg.): Zwischen Anpassung un d Verweigerung. Dokumente aus der Arbeit des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Leipzig. 1995. S. 28

35 Schönherr, Albrecht: Weder Opportunismus noch Oppsition. Kirche im Sozialismus - Der beschwerliche Weg der Protestanten in der DDR. In: Die Zeit. 07.02.1992. S. 3. Verfügbar über: http://www.zeit.de/1992/07/weder-opportunismus-noch-opposition/seite-3 Datum des Zugriffs: 01.06.2016

36 Ebd.

37 Vgl.: Wallmann, Johannes: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation. Tübingen (6. Auflage) 2006. S. 307

38 Kremser, Holger: Der Rechtsstatus der evangelischen Kirchen in der DDR und die neue Einheit der EKD. Tübingen 1993. S. 33ff.

39 Reitinger, Herbert: Die Rolle der Kirche im politischen Prozess der DDR 1970 bis 1990, tuduvStudien: Politikwissenschaften Band 47, München 1991. S. 26

40 ebd.

41 Vgl.: Wallmann, Johannes: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation. Tübingen (6. Auflage) 2006. S. 309

42 Vgl: Maser, Peter: Die Kirchen in der DDR. Bonn 2000. S.28

43 Vgl: Hartmann, Matthias: Bedeutungsverlust oder Bedeutungsgewinn? Die Rolle der Kirche unter veränderten Umständen. In: Wewer, Göttrilk: DDR - Von der freidlichen Revolution zur deutschen Vereinigung. Opladen. 1990. S. 89-106, S.95f.

44 Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Hrsg.): Schönherr, Albrecht. Verfügbar über: http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html?ID=3137 Datum des Zugriffs: 09.06.2016

45 Heise, Joachim: Wer war Schönherr? Verfügbar über: http://www.politische-bildungbrandenburg.de/node/8071 Datum des Zugriffs: 12.06.2016

46 Vgl: Ebd.

47 Gremmels, Christian; Betge, Eberhard u. Renate (Hrsg.): Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Werkausgabe Band 8. Gütersloh 1997. S. 560

48 Vgl.: Schönherr, Albrecht: Kirche darf nicht ortlos sein. In: Berliner Gespräche. Berlin 1997. S. 30 Verfügbar über: http://www.luise-berlin.de/bms/bmstxt97/9711spra.htm Datum des Zugriffs: 19.06.2016

49 Schönherr, Albrecht: Kirche darf nicht ortlos sein. In: Berliner Gespräche. Berlin 1997. S. 30 Verfügbar über: http://www.luise-berlin.de/bms/bmstxt97/9711spra.htm Datum des Zugriffs: 19.06.2016

50 Vgl.: Ebd.

51 Vgl.: Schönherr, Albrecht: ...aber die Zeit war nicht verloren. Erinnerungen eines Altbischofs. Berlin 1993. S. 366 f.

52 Ebd. S. 367 f.

53 Vgl.: Schönherr, Albrecht: Weder Opportunismus noch Oppsition. Kirche im Sozialismus - Der beschwerliche Weg der Protestanten in der DDR. In: Die Zeit. 07.02.1992. S. 3. Verfügbar über: http://www.zeit.de/1992/07/weder-opportunismus-noch-opposition/seite-3 Datum des Zugriffs: 01.06.2016

54 Schönherr, Albrecht: Horizont und Mitte. München. 1979. S. 54

55 Schönherr, Albrecht: Kirche darf nicht ortlos sein. In: Berliner Gespräche. Berlin 1997. S. 31 Verfügbar über: http://www.luise-berlin.de/bms/bmstxt97/9711spra.htm Datum des Zugriffs: 19.06.2016

56 Schönherr, Albrecht: ...aber die Zeit war nicht verloren. Erinnerungen eines Altbischofs. Berlin 1993. S. 418 f.

57 Bonhoeffer, Dietrich: Ethikfragmente. Zit. n.: Schönherr, Albrecht: ...aber die Zeit war nicht verloren. Erinnerungen eines Altbischofs. Berlin 1993. S. 419

Ende der Leseprobe aus 67 Seiten

Details

Titel
Evangelische Kirchen in der DDR. Die Kirche im Sozialismus. Oppositionelle Bewegung in den 1980er Jahren
Hochschule
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
67
Katalognummer
V413271
ISBN (eBook)
9783668642652
ISBN (Buch)
9783668642669
Dateigröße
603 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
evangelische, kirchen, kirche, sozialismus, oppositionelle, bewegung, jahren
Arbeit zitieren
Verena Steigelt (Autor:in), 2016, Evangelische Kirchen in der DDR. Die Kirche im Sozialismus. Oppositionelle Bewegung in den 1980er Jahren, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/413271

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