Kritiken zum Roman Welterfolg „Die Blechtrommel“ von Günther Grass hat es viele gegeben. Die berühmteste, aber auch die mit Sicherheit umstrittenste Kritik stammt vom populärsten Literaturkritiker unserer Zeit, Marcel Reich-Ranicki. Sie wurde 1960 in „Die Zeit“ veröffentlicht und löste weltweit heftige Diskussionen aus. Unverständnis war die Reaktion vieler Leser und Kritiker, die Grass’ Blechtrommel als eine der größten literarischen Sensationen des Jahres 1959 und als unentbehrliches Werk der Nachkriegsliteratur feierten.Bis heute stört die damals publizierte und gewagte Kritik Reich-Ranickis empfindlich die Beziehungen zwischen dem Kritiker und Grass, der sich durch diese angegriffen und falsch beurteilt fühlte.
Folgender, vielleicht sogar der aussagekräftigste Auszug einer etwas relativierenden Nachfolgekritik Reich-Ranickis im Jahre 1963 soll in dieser Arbeit kritisch erläutert und diskutiert werden:
„Oskar protestiert physiologisch und psychisch gegen die Existenz schlechthin. Er beschuldigt den Menschen unserer Zeit, indem er sich zu seiner Karikatur macht. Der totale Infantilismus ist sein Programm. Er verkörpert jenseits aller ethischen Gesetze und Maßstäbe die absolute Inhumanität.“
Diese Arbeit soll sich mit der Frage beschäftigen, inwieweit diese Ansicht von Marcel Reich-Ranickis dem Werk „Die Blechtrommel“ wirklich gerecht wird. Wie die Kritik vorgibt, werden sich meine Erläuterungen auf die Hauptperson des Schelmenromans, Oskar Matzerath, konzentrieren. Zu diesem Zweck soll in erster Linie werkimmanent gearbeitet und Sekundärliteratur nur ansatzweise miteinbezogen werden, um die Aussage Marcel Reich-Ranickis zu überprüfen.
Mein Vorgehen, die vorliegende Kritik Stück für Stück zu erläutern, geht mit ihrer Chronologie einher. Zuerst soll danach gefragt werden, worin der Protest der Hauptfigur Oskar Matzeraths besteht. Im zweiten Teil der Arbeit soll ersichtlich werden, ob und in wiefern Oskar als Karikatur des modernen Menschen gesehen werden kann. Im Anschluss daran werde ich mich mit seinem Infantilismus beschäftigen und die vorgeworfene Unmenschlichkeit des Erzählers hinterfragen. Zum Schluss folgt ein Fazit, dass resümierend alle beleuchteten Aspekte noch einmal in einen Zusammenhang bringt, um die Kritik umfassend zu erläutern und Stellung zu beziehen.
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung
1. Oskars Protest
1.1 Selbst gewählte Existenz
1.2 Die Welt Oskars
1.3 Die Blechtrommel und das Glaszersingen
2. Oskar, die Karikatur des Menschen?
2.1 Infantilismus
2.2 Oskar - Verkörperung der absoluten Inhumanität?
2.2.1 Die Nicht-Authentizität Oskars
2.2.2 Unmenschlichkeit
3. Fazit
Literaturverzeichnis
0. Einleitung
Kritiken zum Roman Welterfolg „Die Blechtrommel“ von Günther Grass hat es viele gegeben. Die berühmteste, aber auch die mit Sicherheit umstrittenste Kritik stammt vom populärsten Literaturkritiker unserer Zeit, Marcel Reich-Ranicki. Sie wurde 1960 in „Die Zeit“ veröffentlicht und löste weltweit heftige Diskussionen aus. Unverständnis war die Reaktion vieler Leser und Kritiker, die Grass’ Blechtrommel als eine der größten literarischen Sensationen des Jahres 1959 und als unentbehrliches Werk der Nachkriegsliteratur feierten.
Bis heute stört die damals publizierte und gewagte Kritik Reich-Ranickis empfindlich die Beziehungen zwischen dem Kritiker und Grass, der sich durch diese angegriffen und falsch beurteilt fühlte. Folgender, vielleicht sogar der aussagekräftigste Auszug einer etwas relativierenden Nachfolgekritik Reich-Ranickis im Jahre 1963 soll in dieser Arbeit kritisch erläutert und diskutiert werden:
„Oskar protestiert physiologisch und psychisch gegen die Existenz schlechthin. Er beschuldigt den Menschen unserer Zeit, indem er sich zu seiner Karikatur macht. Der totale Infantilismus ist sein Programm. Er verkörpert jenseits aller ethischen Gesetze und Maßstäbe die absolute Inhumanität.“[1]
Diese Arbeit soll sich mit der Frage beschäftigen, inwieweit diese Ansicht von Marcel Reich-Ranickis dem Werk „Die Blechtrommel“ wirklich gerecht wird. Wie die Kritik vorgibt, werden sich meine Erläuterungen auf die Hauptperson des Schelmenromans, Oskar Matzerath, konzentrieren. Zu diesem Zweck soll in erster Linie werkimmanent gearbeitet und Sekundärliteratur nur ansatzweise miteinbezogen werden, um die Aussage Marcel Reich-Ranickis zu überprüfen. Um den Rahmen der Arbeit einzuhalten, werde ich nur die Textstellen des Werkes herausgreifen, die mir am wichtigsten erscheinen, um meine Erläuterungen zu belegen, und mich weitgehend auf der Interpretationsebene bewegen.
Mein Vorgehen, die vorliegende Kritik Stück für Stück zu erläutern, geht mit ihrer Chronologie einher. Zuerst soll danach gefragt werden, worin der Protest der Hauptfigur Oskar Matzeraths besteht. Im zweiten Teil der Arbeit soll ersichtlich werden, ob und in wiefern Oskar als Karikatur des modernen Menschen gesehen werden kann. Im Anschluss daran werde ich mich mit seinem Infantilismus beschäftigen und die vorgeworfene Unmenschlichkeit des Erzählers hinterfragen. Zum Schluss folgt ein Fazit, dass resümierend alle beleuchteten Aspekte noch einmal in einen Zusammenhang bringt, um die Kritik umfassend zu erläutern und Stellung zu beziehen.
1. Oskars Protest
Marcel Reich-Ranickis Kritik wirft die erste große Frage auf, ob und in welcher Art und Weise Oskar physisch und psychisch gegen die Existenz schlechthin protestiert.
Kann man dieser These eindeutig zustimmen? Auf diese Frage will ich in diesem ersten Punkt meiner Arbeit eine Antwort finden.
Oskar protestiert in vielerlei Hinsicht gegen eine Existenz in einer Welt der Immoralität, des Scheins, der Lüge, des Betrugs und in einer Kriegswelt der verbrecherischen Nazis.
Wie Oskar sich gegen die Welt, in der er lebt, auflehnt und worin der Grund seines Protests besteht, will ich näher erläutern um die These Reich-Ranickis zu hinterfragen.
1.1 Selbst gewählte Existenz
Oskar protestiert physiologisch und psychisch gegen eine Welt, in der er nicht mehr wachsen will. Da er als geistlich voll entwickeltes Baby auf die Welt kommt (S.52) „Ich gehöre zu den Hellhörigen Säuglingen, deren geistige Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen ist und sich fortan nur noch bestätigen muss.“[2], entschließt er sich im Alter von drei Jahren zu einem Treppensturz, um der Erwachsenenwelt einen Grund dafür zu liefern, warum er sein Wachstum mit 94 cm einstellt und bis zu seinem 21. Lebensjahr ein kleiner Gnom bleiben wird. Nach Kriegsende und dem Tod seines möglichen Vaters Alfred Matzerath entschließt er sich, sein Wachstum auf 1.23m fortzusetzen (S.533). Da er dieses Schicksal selbst wählt, hat er in frühester Kindheit bereits erkannt, dass er in einer schlechten Welt lebt, die er in einem normalen Menschendasein nicht ertragen kann. (S.72) „Von Anfang an war mir klar: Die Erwachsenen werden dich nicht begreifen (…).“ Oskars selbst gewählter Wachstumsstop ist sein erster und zugleich auch größter Protest gegen diese Welt, weil er mit ihm sein Schicksal selbst festlegt, die Welt zeit seines Lebens von unten zu sehen, mit den Augen eines Kindes
- eines Liliputaners - den keiner in der „Erwachsenenwelt“ richtig ernst nimmt und von dem angenommen wird, dass er nichts versteht.
Nur mit dieser Fassade und durch diesen Blickwinkel fällt ihm die einmalige Chance zu, die schlechte Welt, in der er lebt, als stiller Beobachter distanziert zu sehen, so wie jemand, der außen vor steht, aber trotzdem auch in gewisser Hinsicht Teil dieser Welt ist.
Der Leser hat den Eindruck, Oskar sei nur physisch in dieser Welt vertreten. Er beschreibt alle Erlebnisse als auktorialer Erzähler nüchtern, distanziert und sehr selten emotional.
Ein gutes Beispiel hierfür ist die Beschreibung des Selbstmordes seines Nachbarn Greff. (S.412) „Greffs Anblick normalisierte sich in mir; denn im Grunde ist die Körperstellung eines hängenden Mannes genauso normal und natürlich wie etwa der Anblick eines Mannes, der auf den Händen läuft.“
Den Tod seiner eigenen Familienmitglieder, die alle vor ihm sterben, beschreibt er gefühllos, (S. 518 „Während mein mutmaßlicher Vater die Partei verschluckte und starb, zerdrückte ich (…) zwischen den Fingern eine Laus, die ich (…) kurz zuvor abgefangen hatte.“), genauso wie die schrecklichen Ereignisse, die in der Kriegszeit um ihn herum passieren; z.B. als seine Großmutter stirbt. (S.509 Da Mutter Truczinski sich „aber während des Bombenangriffs in ihrem Stuhl verkrampft hatte und nur mit angezogenen Knien im Sarg liegen wollte“, mussten wir ihr „beide Beine brechen, damit der Sarg vernagelt werden konnte.“)
Durch seine selbst gewählte Existenz hält Oskar die Distanz zur Welt, die seinen Protest markiert, kein Teil von ihr sein zu wollen. Er will weder an der Welt teilnehmen, so wie sie ist, noch sie verbessern. Er beobachtet lediglich und das mit schonungslosester Brutalität. Dies ist durch den ganzen Roman hindurch spürbar.
Reich- Ranickis These ist durchaus berechtigt. Oskar protestiert physiologisch, da er nicht mehr wachsen will und seine Existenz aus Protest selbst bestimmt. Psychisch protestiert er, weil er sich nicht in Gesellschaft und in die Erwachsenenwelt integrieren will.
Doch wo sind die Gründe seines Protestes zu suchen und in welchen konkreten Formen äußert sich sein Protest? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, muss man die Welt Oskars näher untersuchen.
1.2 Die Welt Oskars
Was ist es für eine Welt, in der Oskar lebt, und warum hat er sich so früh entschlossen, kein normaler Teil von ihr zu sein?
Seine nächste Umwelt, seine eigene Familie, präsentiert ihm ein Bild, das Oskar immer wieder bestätigt, dass diese Welt schlecht ist und dass es sich lohnt, an ihr nicht so teilzunehmen, wie es alle anderen tun. Seine Mutter Agnes lebt den Schein einer guten Ehefrau und Mutter in einer kleinbürgerlichen Ehe mit ihrem Mann Alfred, den sie nicht liebt. Stattdessen liebt sie ihren Cousin und hat eine leidenschaftliche Affäre mit ihm. „Oskar weiß nicht, wen von diesen beiden er als seinen Vater zu betrachten hat, vermutet aber wohl mit Recht, er sei die Frucht der ehebrecherischen Beziehung.“[3] Er ist ständig hin und her gerissen zwischen zwei Vaterfiguren, was ihn zermürbt. Er beobachtet das sündhafte Treiben seiner Mutter als ihr kindlicher stiller Voyeur unter dem Deckmantel des autistischen Gnoms; wie sie ihre Triebe und heimlichen Wünsche in ihrer Affäre hemmungslos und manchmal schon dreist auslebt. Gleichzeitig versucht sie immer wieder, ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, indem sie regelmäßig in die Kirche zum Beichten geht. Agnes pendelt zwischen der Ehe, die ihr Sicherheit gibt, und zwischen ihren heimlichen Sehnsüchten hin und her und kann diesem Teufelskreis nicht entkommen. Es ist der Teufelskreis des Kleinbürgertums, in dem sie gefangen ist, und an dem sie verzweifelt. Agnes leidet sehr unter den moralischen Anforderungen der Gesellschaft, die an sie gestellt werden, da sie ihnen nicht entspricht und nicht entsprechen kann. Oskar beobachtet, dass sie immer damit beschäftigt ist, dem guten Bild einer jungen Frau und Mutter hinterherzulaufen. Dies behindert ihr ganzes Leben, ihre Liebe, die Liebe zu ihrem Sohn Oskar, dessen sie sich manchmal schämt und bereitet ihr permanent ein schlechtes Gewissen, Selbstzweifel und Vorwürfe. Nicht zuletzt ist Oskar der Grund, der sie ebenfalls behindert, nicht das Bild von sich zeigen zu können, dass von ihr erwartet wird. Mit einem kleinen zurückgebliebenen Zwerg als Sohn, von dem keine Schulkarriere erwartet werden kann, der nicht kommuniziert und der nur ruhig ist, wenn er seine Blechtrommel in den Händen hält; der später von den Nazis auf das Euthanasieprogramm gesetzt wird, weil er in ihren Augen nicht lebensfähig ist, wie soll sie mit diesem Sohn das Bild einer guten Mutter abgeben? Sie schämt sich oft an seiner Seite und nicht zuletzt benutzt sie ihren Sohn als Alibi für ihre ehebrecherischen Aktivitäten.
[...]
[1] Reich-Ranicki, Marcel: Auf gut Glück getrommelt. In: Die Zeit vom 01.01.1960 (Hamburg). Abgedruckt in: Neuhaus, Volker: Günter Grass. Die Blechtrommel. (Stuttgart: Reclam 1997)
[2] Grass, Günter: Die Blechtrommel. (München: DTV Verlag 61997), S. 52. Anmerkung der Autorin: Für die folgenden Zitate des Primärtextes erfolgen keine Fußnoten. Sie sind durch die Satzzeichen der wörtlichen Rede oder Klammern gekennzeichnet und mit einer Seitenzahl in Klammern versehen, die die explizite Stelle im Primärtext angibt.
[3] Geiger, Hans-Ludwig: Alarm auf einer Blechtrommel. In: Evangelischer Literaturbeobachter vom Dezember 1959 (München)
- Arbeit zitieren
- Linda Neuhaus (Autor:in), 2004, Die Blechtrommel - Zur Kritik von Marcel Reich-Ranicki, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/41382
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