Der Einfluss eines Interviewers in qualitativen Interviews

Der Befragte und dessen Wahrnehmung eines qualitativen Interviews als gemeinsam geteilte Wirklichkeit zwischen ihm und einem erfahrenem/unerfahrenem Interviewer


Diplomarbeit, 2010

169 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theorie und Methode
2.1 Grundlagen zur qualitativer Sozialforschung und die besondere Rolle eines Interviewers im qualitativen Interview
2.1.1 Qualitative Sozialforschung
2.1.2 Das qualitative Interview
2.1.3 Das problemzentrierte Interview als geeignete Methode der Untersuchung
2.1.4 Der Zusammenhang zwischen Kompetenz, Erfahrung und Einfluss eines Interviewers
2.2 Ansprüche an einen Interviewer zur Durchführung eines qualitativen Interview
2.2.1 Kontaktaufnahme, Begegnung mit dem Befragten; Begrüßung
2.2.2 Die Hinführung zum Interview
2.2.3 Der Verlauf des Interviews
2.2.3.1 Erzählgenerierende Einstiegsfrage
2.2.3.2 Zur Gestaltung von Fragen
2.2.3.3 Aktives Zuhören
2.2.3.4 Fragen zur Maximierung der Reichweite, Spezifizität, Tiefe und personaler Kontext von Fragen
2.2.3.5 Anforderungen, die eine Frage erfüllen muss
2.2.3.6 Typen und Wirkung von Fragen
2.2.4 Sonstige Ansprüche an ein Interview
2.2.5 Abschluss eines Interviews
2.3 Das Forschungsdesign der Untersuchung
2.3.1 Erstes Interview – Befragung zum Thema Versorgungsmöglichkeiten im Alter
2.3.2 Zweites Interview – Nachbefragung
2.3.3 Die Interviewer
2.3.4 Das Sample der Untersuchung
2.3.5 Durchführung der Interviews

3. Auswertung
3.1 Gespräch - Gedanken zum Interview als Gespräch
3.1.1 Einbringen des Wortes „Gespräch“ in die Nachbefragung
3.1.2 Definition eines Gesprächs durch die Befragten
3.1.2.1 Gespräch in Abgrenzung zu typischem Interview
3.1.2.2 Gespräch durch das Aufgreifen von Gesagtem
3.1.2.3 Kriterien eines Gesprächs bezogen auf die Entwicklung des Gesprächs
3.1.3 Befragung als Gespräch gestaltet - Überprüfung
3.1.3.1 Gespräch in Abgrenzung zu typischem Interview - Überprüfung
3.1.3.2 Gespräch durch das Aufgreifen von Gesagtem - Überprüfung
3.1.3.3 Kriterien eines Gesprächs bezogen auf die Entwicklung des Gesprächs - Überprüfung
3.2 Weitere für die Befragten relevante Themen in der Beurteilung des Interviews
3.2.1 Erfahrung und bisherige Gedanken zum Thema, sowie die Möglichkeit diese im Interview zu entwickeln
3.2.1.1 Erfahrung zu dem Thema aus Sicht der Befragten
3.2.1.2 Erfahrung zu dem Thema – Überprüfung
3.2.1.3 Bisherige Gedanken zum Thema
3.2.1.4 Bisherige Gedanken zum Thema – Überprüfung
3.2.1.5 Entwicklung der Gedanken im Interview
3.2.1.6 Entwicklung der Gedanken im Interview - Überprüfung
3.2.2 Hilfe durch Input seitens der Interviewerin
3.2.2.1 Hilfe durch Input seitens der Interviewerin aus Sicht der Befragten
3.2.2.2 Hilfe durch Input seitens der Interviewerin - Überprüfung
3.2.3 Persönliches Thema
3.2.3.1 Persönliches Thema aus Sicht der Befragten
3.2.3.2 Persönliches Thema - Überprüfung
3.2.4 Pausen nach Antworten
3.2.4.1 Pausen nach Antworten aus Sicht der Befragten
3.2.4.2 Pausen nach Antworten - Überprüfung
3.2.5 Situation vor dem Interview, Einstieg in das Interview, Erwartungen an die Befragten
3.2.5.1 Situation vor dem Interview, Einstieg in das Interview, Erwartungen an die Befragten aus Sicht der Befragten
3.2.5.2 Situation vor dem Interview, Einstieg in das Interview, Erwartungen an die Befragten - Überprüfung
3.2.6 Wahrnehmung der Interviewerin, optimaler Interviewer
3.2.6.1 Wahrnehmung der Interviewerin, optimaler Interviewer aus Sicht der Befragten
3.2.6.2 Wahrnehmung der Interviewerin, optimaler Interviewer - Überprüfung

4. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Bilden einer neuen Wirklichkeit in Abhängigkeit verschiedener Faktoren

Abbildung 2: Mindmap Nachbefragung

Abbildung 3: Kategoriensystem Nachbefragung

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Erfahrung der Interviewerinnen.

Tabelle 2: Strukturdaten der Befragten.

Tabelle 3: Strukturdaten der Interviews

Tabelle 4: Kurzfragebogen Befragung

Tabelle 5: Leitfaden Befragung – Bevölkerungsentwicklung

Tabelle 6: Leitfaden Nachbefragung

Tabelle 7: Transkriptionsregeln in Anlehnung an GAT

Tabelle 8: Nachfragen, Aufgreifen von Gesagtem

Interviewausschnittverzeichnis

Interviewausschnitt 1: Zwang zu Vertiefen - Marah.

Interviewausschnitt 2: Beurteilung Aufgreifen.

Interviewausschnitt 3: Professionelle, erfahrene Interviewerin - Vivien.

Interviewausschnitt 4: Offenheit des Interviews – Marah.

Interviewausschnitt 5: Zwang zu vertiefen, Überprüfung – Marah.

Interviewausschnitt 6: Verpasste Gelegenheiten zur Nachfrage – Christoph.

Interviewausschnitt 7: Geschlossenheit – Marah.

Interviewausschnitt 8: Verstehen der Fragen – Christoph.

Interviewausschnitt 9: Abschweifen – Vivien. xxviii

Interviewausschnitt 10: Pausenverhalten. xxviii

Interviewausschnitt 11: Offenheit, Überprüfung – Marah.

Interviewausschnitt 12: Bsp. Unkonkrete Frage – Marah.

Interviewausschnitt 13: Abschlusssituation – Christoph.

Interviewausschnitt 14: Balance – Simon.

Interviewausschnitt 15: Erfahrung zum Thema – Christoph.

Interviewausschnitt 16: Gedanken zu dem Thema.

Interviewausschnitt 17: Konkrete Antwort –Vivien.

Interviewausschnitt 18: Unkonkrete Antwort – Vivien.

Interviewausschnitt 19: Hilfe der Interviewerin für die Befragten.

Interviewausschnitt 20: Persönliches Thema. xxxix

Interviewausschnitt 21: Stille nach Antworten – Simon.

Interviewausschnitt 22: Angemessenheit von Pausen – Simon.

Interviewausschnitt 23: Situation vor dem Interview.

Interviewausschnitt 24: Erwartungen an die Befragten.

Interviewausschnitt 25: Überleitung zwischen Kurzfragebogen und Interview

Interviewausschnitt 26: Wahrnehmung der Interviewerin, optimaler Interviewer.

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Ein grundlegendes Prinzip der qualitativen Sozialforschung ist, dass der Befragte im Mittelpunkt der Untersuchungen steht. Die Bedeutung des Interviewers[1] sollte dennoch nicht vernachlässigt werden, denn er besitzt, ebenso wie der Befragte, eine gewichtige Rolle im Interview. Das qualitative Interview ist eine Kommunikationssituation, in der die Daten „in einer hochkomplexen und die Subjektivität der Beteiligten einbeziehenden Situation erzeugt“ (Helfferich 2005: 7) werden. Dabei muss der Interviewer flexibel und situativ Entscheidungen treffen, welche Methoden eingesetzt werden sollen, um die Bedeutungsrelevanzen des Befragten, sowohl für die Forschungsfrage als auch für den Befragten angemessen, zu erarbeiten. Die Erhebungssituation wird dabei durch den Befragten und den Interviewer gleichermaßen bestimmt und die im Interview entstehenden Daten werden in Abhängigkeit beider Mitwirkenden produziert. In dem Maß, wie es einem Interviewer gelingt, gemeinsam mit dem Befragten eine hohe Qualität an Daten zu erarbeiten, wird folglich auch die Qualität der Auswertung und der Ergebnisse bestimmt. (Vgl. ebd.) Da es zu einem großen Teil vom Interviewer beeinflusst wird, in welcher Qualität Daten produziert werden, benötigt er ein gewisses Maß an Kompetenz und Erfahrung, um eine hohe Qualität zu erreichen.

Dass Interviewen eine Kunst ist, die es gilt zu erlernen, wird durch verschiedene Autoren, in ihren Titeln und durch die Listung zahlreicher und teilweise komplexer Ansprüche, die es für einen Interviewer zu erfüllen gilt, dargestellt. (Vgl. u. A. Gorden 1980, 1992, Sheatsley 1972, Kvale 2009, Helfferich 2005, Hopf 1978, Keats 2000, Fontana/Frey 2005) Aus der Logik des Interviewens als Kunst folgen zwei Aspekte: der Interviewer besitzt einerseits eine gewisse Veranlagung, um ein qualitatives Interview den wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht durchzuführen, und kann diese andererseits durch theoretisches und praktisches Lernen, sowie Anwendung und Übung (weiter)entwickeln. (Vgl. Gorden 1980: 90) Andere Autoren argumentieren jedoch, dass ein Interviewer nur wenig besondere Kompetenzen benötigt, um ein qualitatives Interview durchzuführen. (Vgl. Helfferich 2005: 9) Es stellt sich hier die Frage, ob das Maß an Kompetenz, Wissen und Erfahrung, welche ein Interviewer zur Durchführung eines qualitativen Interviews besitzt, bedeutend ist oder nicht. Falls dieses Maß wichtig ist, müsste dies anhand der Interviewführung und durch das unterschiedliche Erfüllen der Ansprüche zur Durchführung eines qualitativen Interviews deutlich werden.

Neben der Darstellung der verschiedenen Ansprüche an einen Interviewer, existieren in der Literatur auch Aussagen, wie ein erfahrener und kompetenter bzw. ein unerfahrener und weniger kompetenter Interviewer diese Ansprüche erfüllt. Inwieweit es jedoch auch für einen Befragten relevant ist, dass die verschiedenen Ansprüche erfüllt werden oder nicht, ist in der Literatur nicht präsent. Da der Befragte im Mittelpunkt der Untersuchungen steht, ist es auch interessant zu erfahren, inwieweit die Ansprüche an einen Interviewer nicht nur durch die Wissenschaft vorgegeben sind, sondern auch durch den Befragten wahrgenommen, beurteilt oder verlangt werden. Es ist bedeutsam, zu wissen, wie er die gemeinsam geteilte Wirklichkeit in einem Interview wahrnimmt und was einen Einfluss auf ihn, seine Antwort und somit das Ergebnis hat.

In dieser Arbeit soll die Beziehung zwischen dem Befragten und dem Interviewer betrachtet werden. Wie der Befragte den Interviewer und die Interviewsituation als gemeinsam geteilte Wirklichkeit wahrnimmt, welche Kompetenz und Erfahrung ein Interviewer hat und wie dieser die Ansprüche eines qualitativen Interviews umsetzt. Auf der einen Seite sollen Unterschiede zwischen einem erfahrenen, kompetenten und einem eher unerfahrenen und weniger kompetenten Interviewer dargestellt werden. Es werden Hypothesen (weiter)entwickelt, ob und unter welchen Aspekten die Erfahrung des Interviewers deutlich wird. Dabei wird die Frage verfolgt, inwieweit es für die Durchführung eines qualitativen Interviews, für den Interviewer und dessen Erfüllung der Ansprüche bedeutend ist, die verschiedenen Kompetenzen und Erfahrung zu besitzen. Auf der anderen Seite soll der Befragte eine Interviewsituation und den Interviewer beschreiben, welche Aspekte der Interviewführung er wahrnimmt, wie er sie beurteilt und welche Aspekte für ihn eher angenehm oder eher störend sind. Die Beschreibungen des Befragten sollen dann einen Rückschluss darauf geben, ob der Befragte generell die Ansprüche an einen Interviewer wahrnimmt, was er sich von einem Interviewer wünscht bzw. nicht wünscht und was für ihn ein (weniger) optimales Interview ausmacht. Dies gibt einen Hinweis darauf, was auf den Interviewten und seine Antworten, und damit auch auf das Ergebnis, einen positiven als auch negativen Einfluss hat. Durch die Unterscheidung von einem erfahrenen, kompetenten und einem unerfahrenen, weniger kompetenten Interviewer können diese Wahrnehmungen der gemeinsam geteilten Wirklichkeit und diese Beurteilungen auch in Bezug zu der Kompetenz eines Interviewers gebracht werden.

Die Beurteilung des Befragten sowie die Unterschiede in der Erfüllung der Ansprüche durch die Interviewer zeigen, welche Anforderungen an einen Interviewer eine zentrale Rolle spielen, damit sich einerseits der Befragte wohlfühlt und andererseits relevante Ergebnisse erzielt werden. Wenn sich ein Interviewer seines Einflusses, abhängig von der Erfüllung der verschiedenen Anforderungen bewusst ist, kann er die Kompetenzen dafür systematisch trainieren, die Interviewsituation bewusst gestalten und somit relevante und optimale Daten erarbeiten. Wie Maindok (2003: 175) beschreibt, sind viele Fragen über die konkreten Anforderungen und deren Relevanz in der Interviewführung noch offen, weshalb die Gestaltung von Schulungsinhalten ebenso unbestimmt ist. Die Ergebnisse der Arbeit sollen erste Hinweise geben, welche Anforderungen abhängig von der Erfahrung eines Interviewers erfüllt werden und welche Kompetenzen gezielt geschult werden sollten.

Falls ein Unterschied in der Durchführung eines Interview zwischen einem erfahrenen, kompetenten und weniger erfahrenen, kompetenten Interviewer existiert, muss dieser auch während der Untersuchung und Auswertung berücksichtigt werden. Um eine Forschungsfrage den wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht zu erarbeiten, müsste darauf geachtet werden, Interviewer einzusetzen, welche die Kompetenzen erfahrener Interviewer aufweisen. Besitzt ein Interviewer diese Kompetenzen weniger ausgeprägt, hätte dies Einfluss auf die Ergebnisse und muss in der Auswertung diskutiert werden.

Um diesen Fragen nachzugehen werden zu Beginn der Arbeit die grundlegenden und für diese Arbeit bedeutenden Kriterien der Sozialforschung dargestellt und die besondere Rolle eines Interviewers in einem qualitativen Interview herausgearbeitet. Es werden die verschiedenen Ansprüche, die in der Literatur beschrieben werden und Aussagen, inwieweit ein erfahrener und unerfahrener Interviewer diese Ansprüche erfüllt, zusammengetragen. Mit Hilfe eines zweiteiligen Interviews soll die Grundlage zur Auswertung erarbeitet werden. Im ersten Teil, d.h. der Befragung, werden Interviews jeweils mit einem erfahrenen, kompetenten und einem unerfahrenen, weniger kompetenten Interviewer durchgeführt. Diese Interviews dienen für die Befragten als Grundlage des zweiten Teils, der Nachbefragung. Hier sollen sie beschreiben, wie sie das erste Interview, die Situation sowie den Interviewer wahrnahmen, wie sie diese beurteilen und welche Aspekte sie als angenehm oder störend empfanden. Anhand dessen sollen Kategorien gebildet werden, welche Aspekte ein Befragter in welcher Form wahrnimmt. Diese Aspekte werden in der Auswertung näher erläutert und in Bezug zu den Ansprüchen an einen Interviewer im qualitativen Interview gesetzt. Es wird hierbei betrachtet, inwieweit sich die Befragten in ihrer Wahrnehmung und Beurteilung einerseits der Ansprüche an den Interviewer, andererseits auch der Interviewer und die Interviewsituation unterscheiden. Es wird überprüft, ob und wie sich die in der Nachbefragung geschilderten Aspekte der Befragten in der Befragung darstellen. Aufschlussreich, u. A. auch für die Forschungsfrage, wird sein, inwieweit die Befragten durch ihre Beschreibungen einen Hinweis auf die unterschiedlichen Kompetenzen geben und wie sich diese Unterschiede in der tatsächlichen Interviewführung wiederspiegeln.

2. Theorie und Methode

In diesem Kapitel der Arbeit werden zu Beginn grundlegende Kriterien zur qualitativen Sozialforschung und die besondere Rolle eines Interviewers im qualitativen Interview diskutiert. Anschließend werden die Ansprüche an einen Interviewer aufgezeigt, die er in den einzelnen Phasen eines qualitativen, speziell auch problemzentrierten, Interviews beachten sollte, um für die Auswertung qualitativ hochwertige Daten gemeinsam mit dem Befragten zu erarbeiten. Im nächsten Abschnitt wird das der Arbeit zugrundegelegte Forschungsdesign dargestellt.

2.1 Grundlagen zur qualitativer Sozialforschung und die besondere Rolle eines Interviewers im qualitativen Interview

Das qualitative Interview ist eine Form der Datenerhebung in der (qualitativen) Sozialforschung. Als Basis der Anforderungen an ein qualitatives Interview, sollen die folgenden wesentlichen Merkmale qualitativer Sozialforschung dienen. Um die Entscheidung für die Untersuchung geeignetste Form eines qualitativen Interviews zu unterlegen, werden anschließend die verschiedenen Formen qualitativer Interviews in ihren Besonderheiten beschrieben. Die besondere Rolle des Interviewers wird herausgestellt, in der Beschreibung verschiedener Basisqualifikationen und der Analyse des Zusammenhangs zwischen Kompetenz, Erfahrung und Einfluss eines Interviewers.

2.1.1 Qualitative Sozialforschung

Eine zentrale Grundlage qualitativer Sozialforschung ist der Zugang zur sozialen Realität[2] des Untersuchten mit Hilfe offener Methoden. (Vgl. Hopf 1993: 14) Die Forschungsinstrumente sind möglichst nicht standardisiert, um sich dem Untersuchungsobjekt und -gegenstand flexibel anpassen zu können. (Vgl. ebd.: 14f.) Die Offenheit der Erwartungen und theoretischen Überzeugungen zu Beginn der Untersuchung ermöglichen eine weitgefächerte und auf Veränderung flexibel reagierende Exploration der sozialen Wirklichkeit des untersuchenden Gegenstands. (Vgl. ebd.: 15) Der Forscher und der Beforschte stehen während der Untersuchung in Kommunikation, in der kommunikative Regeln des alltäglichen Handelns beachtet werden müssen. (Vgl. Lamnek 2005: 22) Die qualitative Forschung möchte die grundlegende individuelle Sicht des Befragten bzw. dessen Erfahrungen mit der Welt ermitteln und dazu die komplexen Zusammenhänge verstehen. Das heißt, sie will durch ein methodisch kontrolliertes Fremdverstehen die Perspektive des Anderen nachvollziehen. (Vgl. Flick et. al. 2005: 23, Kvale 2009: 29) Interessant sind deshalb die Formen und Inhalte der Herstellungsprozesse von sozialer Wirklichkeit der Untersuchten. „[S]ubjektive Sichtweisen und Deutungsmuster der sozialen Akteure“ (Flick et. al. 2005: 20) sollen über eine „kommunikative[], dialogischen[]“ (Ebd.:21) Vorgehensweise rekonstruiert werden. Deshalb kommt dem „Prozess des gegenseitigen Aushandelns der Wirklichkeitsdefinition zwischen Forscher und Erforschtem“ (Lamnek 2005: 22) während der Untersuchung eine zentrale Bedeutung zu. Im Laufe des Prozesses der Forschung sollen neue Erkenntnisse und Entwicklungen beständig mit dem theoretischen Vorverständnis im Austausch stehen, sodass die Möglichkeit besteht dieses Vorverständnis zu präzisieren, zu modifizieren oder zu revidieren. (Vgl. Hopf 1993: 15) Die Flexibilität des Forschungsprozesses erlaubt es, erworbene Erkenntnisse in die nächsten Untersuchungsschritte mit einzubeziehen. (Vgl. Lamnek 2005: 26) Auf der Basis der rekonstruierten sozialen Realität des zu untersuchenden Feldes können Hypothesen und Theorien generiert werden. (Vgl. Lamnek 1995a: 129) Diese stehen repräsentativ nur für den untersuchten Bereich. Verallgemeinerungen darüber hinaus, können nur theoretisch begründet werden. (Vgl. Hopf 1993: 15)

Hopf (1993: 17) fasst die aufgezeigten Prinzipien folgendermaßen zusammen:

„Kennzeichnend für das qualitative Vorgehen ist jedoch, daß das jeweilige theoretische Vorverständnis die Erkenntnis- und Frageinteressen zunächst nur in sehr allgemeiner Form steuert und daß die Präzisierung deskriptiver Kategorien ebenso wie die Entwicklung neuer oder differenzierterer Kategorien in einem Prozeß der schrittweisen Klärung und Auseinandersetzung mit der untersuchten sozialen Realität erfolgt.“

2.1.2 Das qualitative Interview

Es gibt verschiedenste Methoden, die zur Datenerhebung in der qualitativen Sozialforschung angewandt werden, z.B. die Beobachtung, Inhaltsanalysen oder qualitative Interviews. Schwerpunkt dieser Arbeit ist das letztere. Ein Interview wird definiert als „eine Gesprächssituation, die bewußt und gezielt von den Beteiligten hergestellt wird“ (Lamnek 1995b: 35), in der Einer die Fragen stellt, die von dem Anderen beantwortet werden. Qualitative Interviews sind „im Vergleich zu anderen Forschungsverfahren in den Sozialwissenschaften besonders eng mit Ansätzen der verstehenden Soziologie verbunden.“ (Hopf 2005: 350) Charakterisieren lassen sich diese dadurch, dass sie mündlich, persönlich und nicht standardisiert, d. h. situativ angepasst sind. Sie bestehen aus offenen Fragen, der Interviewerstil ist dabei neutral bis weich. Es gibt vermittelnde und ermittelnde Interviews. (Vgl. Lamnek 2002: 172f.) Fuhs (2007: 70) hält als Bestimmungskriterien eines qualitativen Interview folgendes fest: „Das qualitative Interview ist als wissenschaftlich konstituierte Kommunikation eine besondere Form der Beziehung, da der Forscher oder die Forscherin die Form des Interviews gemäß eines Forschungsplans und vorausgegangener methodischer Überlegungen bestimmt. Qualitative Interviews sind somit Gespräche, die grundsätzlich asymmetrisch sind, von der Wissenschaft bestimmt und mit den sprachlichen Mitteln der Alltagskommunikation geführt werden.“

Formen des qualitativen Interviews sind das fokussierte Interview, das halbstandardisierte Interview, das Experteninterview, das Tiefeninterview, das problemzentrierte Interview, das episodische Interview, das narrative Interview das rezeptive Interview aber auch die Gruppendiskussion als spezielle Form eines Interviews. Die Forschungsfrage soll in einem qualitativen Interview mit Hilfe des erzählten Wissens aus der Lebenswelt des Befragten beantwortet werden. (Vgl. Flick 2009: 224, Hermanns 2000: 367f.) Die Untersuchung in dieser Arbeit soll mit Hilfe einer Art des qualitativen Interviews durchgeführt werden. Um eine Entscheidung fundiert zu fällen, sollen zunächst alle Formen kurz in ihren Eigenschaften beschrieben werden.

Das fokussierte Interview: konzentriert sich auf „einen vorab bestimmten Gesprächsgegenstand bzw. Gesprächsanreiz (. . .) (z.B.) einen Film, den die Befragten gesehen haben, einen Artikel, den sie gelesen haben oder eine bestimmte soziale Situation, an der sie teilhatten“. (Hopf 2005: 353) Diese Form von Befragung ist, verglichen mit den anderen qualitativen Interviewformen, theoretisch und methodologisch am höchsten standardisiert. Der tatsächliche Forschungsablauf ist dabei qualitativ ausgerichtet. (Vgl. Lamnek 2002: 173) Die Beobachtungen der o.g. Situation des Probanden werden inhaltsanalytisch ausgewertet, wesentliche Bedeutungsinhalte herausgefiltert und anschließend Hypothesen entwickelt. (Vgl. Merton, Kendall 1993: 172) Diese Erkenntnisse werden dann zu einem durch offene Fragen gekennzeichneten Leitfaden formuliert. (Vgl. Lamnek 2002: 174) In dem anschließenden zurückhaltenden und nicht-direktiven Gespräch können spezifische Informationen sowie gegenstandsbezogene Erklärungen von Bedeutungen erhoben werden. (Vgl. Hopf 2005: 354) So kann man auch spontane und vorher nicht erwartete Bedeutungselemente auffinden und die vorher formulierten Hypothesen dementsprechend modifizieren. (Vgl. Lamnek 2002: 173f.) Die vorherhergehende Analyse ist insofern von Vorteil, da der Interviewer die objektiven Merkmale des Falls von den subjektiven Definitionen des Gesprächsgegenstands unterscheiden kann, sowie den Befragten durch konkrete Stichpunkte zu weiteren Erzählungen anregen kann. (Vgl. Merton/Kendall 1993: 172f.) Dabei dürfen die vorherigen Überlegungen des Forschers jedoch nicht an den Befragten herangetragen werden. (Vgl. Lamnek 2002: 174)

Das halbstandardisierte Interview: hierbei wird über offene Fragen das komplexe Wissen eines Befragten zu einem bestimmten Thema erhoben. Ein Unterschied zu den anderen Formen des qualitativen Interviews ist, dass die auf die offene Frage folgende Antwort mit Konfrontationsfragen direkter Kritik ausgesetzt werden. Der Befragte soll den in diesen Fragen enthaltenen Annahmen zustimmen oder sie ablehnen. Das Interview wird transkribiert und grob inhaltsanalytisch ausgewertet. Während eines zweiten Interviews, nach ca. ein bis zwei Wochen, werden wesentlichen Aussagen daraus, mit Hilfe der sogenannten Struktur-Lege-Technik, dem Befragten vorgelegt und er kann diese wenn nötig umformulieren oder ergänzen. Abschließend wird die subjektive Theorie des Befragten graphisch festgehalten und erneut vom ihm reflektiert. Dem Befragten muss die Vorgehensweise plausibel erläutert werden, um ihn durch die Konfrontation nicht zu verunsichern und er seine subjektive Theorie nach eigenem Empfinden gestalten kann. (Vgl. ebd.: 175) Ein bedeutender Vorteil dieser Art von Interview ist die Ermittlung von explizitem und implizitem Wissen und gleichzeitig die Möglichkeit, implizites Wissen in explizites Wissen zu überführen. (Vgl. ebd.)

Das Experteninterview: der Befragte steht hier „als Experte für einen spezifischen Handlungsbereich“ (Lamnek 2002: 176) im Mittelpunkt und repräsentiert dadurch eine spezifische Gruppe. Der Experte kann auf verschiedenen Ebenen Wissen bereitstellen; Wissen über „Abläufe, Regeln und Mechanismen in institutionalisierten Zusammenhängen (. . .,) Deutungswissen (. . .) (oder) Kontextwissen“. (Przyborski/Wohlrab-Sar 2009: 135) Durch die Vorgaben eines Leitfadens werden das zu erhebende Wissensgebiet und damit auch der Datenumfang von vorneherein begrenzt. Der soll Befragte konkrete Daten liefern, sodass vom Thema abweichende Inhalte abgeblockt werden müssen. (Vgl. Lamnek 2002: 176)

Das Tiefeninterview: in dieser Form der Befragung sollen Bedeutungszusammenhänge aufgedeckt werden, die dem Interviewten anfangs nicht bewusst bzw. zugänglich sind. Der Forscher analysiert und interpretiert Gesagtes anhand theoretischer, meist psychologischer Ansätze, um die Bedeutungszusammenhänge des Befragten aufzuspüren. (Vgl. ebd.) Meist handelt es sich bei dieser Form um „psychoanalytische Ansätze, mittels derer die Bedeutungsstrukturierung der Aussagen vorgenommen wird“ (Ebd.: 177). Die Bedeutungszusammenhänge werden hier somit nur begrenzt vom Befragten bestimmt. (Vgl. ebd.)

Das problemzentrierte Interview: kombiniert einen vorher vom Forscher ausgearbeiteten Leitfaden mit Erzählphasen des Befragten. Der Leitfaden wird auf der Grundlage des vom Forscher erarbeiteten theoretisch-wissenschaftlichen Vorverständnisses entwickelt. (Vgl. ebd.) Damit „dient (er) in der Erhebungsphase als heuristisch-analytischer Rahmen für Frageideen im Dialog zwischen Interviewer und Befragten.“ (Witzel 2000: 3) Obwohl der Leitfaden im Vorhinein festgelegt wird, bleibt er gegenüber Veränderungen und Ergänzungen während der Erhebungsphase offen. Falls die Bedeutungsstrukturierung der sozialen Wirklichkeit des Interviewten von den Vorüberlegungen des Forschers abweicht, werden diese mit in die Auswertung aufgenommen. (Vgl. Lamnek 2002: 177) Der Erkenntnisgewinn befindet sich während der Erhebungs- und der Auswertungsphase in einem induktiv-deduktivem Wechselverhältnis. (Vgl. Witzel 2000: 3) Eine entscheidende Herausforderung während des Interviews ist der versierte Umgang mit dem Leitfaden: es muss eine Balance zwischen Offenheit, indem die speziellen Relevanzsysteme des Befragten besonders durch Narrationen angeregt werden, und der theoretischen Vorstrukturierung des Leitfadens gehalten werden. (Vgl. Lamnek 2002: 177) Ein Vorteil dieser Balancefindung ist, dass der Interviewer das Gewicht, abhängig von der Persönlichkeit des Befragten, eher auf die Unterstützung des Befragten durch Nachfragen im Dialogverfahren oder auf Narrationen legen kann. (Vgl. Witzel 2000: 5) Das Interview wird in fünf Phasen eingeteilt:

1. Erklärungsphase: dem Befragten werden die Erwartungen an ihn erläutert, der Themenbereich eingegrenzt und die Tonbandaufnahme gestartet. (Vgl. Lamnek 2002: 178)
2. Einleitung: als Gesprächseinstieg dient eine vorformulierte offene Einleitungsfrage. Diese zeigt das zu betrachtenden Problem auf und der Befragte kann nach eigenem Ermessen antworten. (Vgl. Ebd.)
3. Allgemeine Sondierung: der Interviewer „greift die thematischen Aspekte der auf die Einleitungsfrage folgenden Erzählsequenz auf, um mit entsprechenden Nachfragen den roten Faden aufzugreifen und zu detaillieren, den die Befragten in dieser Sequenz angeboten haben“. (Witzel 2000: 15)
4. Spezifische Sondierung: der Interviewer generiert durch Paraphrasieren, Verständnisfragen oder Konfrontationen mit Widersprüchen das Verständnis für das Erzählte. (Vgl. Lamnek 2002: 178) Dies ermöglicht schon während der Befragung eine Interpretation der subjektiven Sichtweise des Interviewten und die Zuspitzung auf das eigentliche Forschungsproblem. (Vgl. Witzel 2000: 4)
5. Ad-hoc-Fragen: es werden direkte Fragen zu nicht angesprochenen Inhalten gestellt. (Vgl. Lamnek 2002: 178)

Vor oder nach dem Interview kann man einen standardisierten Kurzfragebogen ausfüllen lassen, um demographische Daten schneller zu erfassen. Wird der Fragebogen vorangestellt, kann das für einen einfacheren Einstieg ins Thema hilfreich sein, z.B. indem eine Frage als Aufhänger für die Einstiegsfrage genutzt wird. (Vgl. ebd.) Im Anschluss an die Befragung sollte der Interviewer ein Postskript ausfüllen, in welchem „Gesprächsinhalte, Anmerkungen zu den [. . .] situativen und nonverbalen Aspekten sowie zu den Schwerpunktsetzungen des Interviewpartners [. . .,] thematische Auffälligkeiten und Interpretationsideen“ (Witzel 2000: 10) festgehalten werden. Die Auswertung erfolgt mit Hilfe flexibler Konzepte, das theoretische Wissen wird über eine empirische Analyse weiterentwickelt und am Datenmaterial erhärtet. Durch dieses Vorgehen überdeckt das Vorwissen des Wissenschaftlers nicht die Problemsicht des Befragten, d.h. den Daten wird keine Theorie aufgesetzt. (Vgl. ebd: 0-3) Das Erkenntnisinteresse liegt bei einem problemzentrierten Interview vor allem bei kollektiven Handlungsmustern, Typisierungen und subjektiven Theorien. Es findet vor allem in stärker theoriegeleiteter Forschung mit spezifischeren Fragestellungen Anwendung. (Vgl. ebd.: 19ff.)

Das episodische Interview: hier werden die Erzählgenerierung durch den Befragten und ein Leitfaden mit einem Befragungsschema kombiniert. (Vgl. Helfferich 2005: 24) Dadurch können zwei verschiedene Typen von Wissen erfasst werden: das narrativ-episodische Wissen, welches „aus unmittelbarer Erfahrungsnähe hervorgegangen ist und einen Erinnerungsfundus an konkreten Begebenheiten beinhaltet“ (Lamnek 2002: 179), sowie „das aus den Erfahrungen abgeleitete [semantische] Wissen“ (Ebd.). Zu Beginn des Interviews wird der Befragte aufgefordert, eine oder mehrere zusammengehörende Situationen zu erzählen. Die Zwischenfragen des Interviewers regen entweder die Phantasie des Befragten an oder sind zielgerichtet, um Informationen über subjektive Definitionen oder abstraktere Zusammenhänge zu erlangen. Diese Form der Befragung wird vor allem genutzt, um gruppenspezifische Unterschiede über Erfahrungs- und Alltagswissen festzustellen. (Vgl. ebd.)

Das narrative Interview: wird für Fragestellungen bevorzugt, die auf die Lebensgeschichte oder alltägliche Abläufe abzielen. (Vgl. Hopf 2005: 355) Der Forscher konstruiert vor der Durchführung eines narrativen Interviews praktisch kein wissenschaftliches Konzept. (Vgl. Lamnek 2002: 182) Die theoretischen Vorstellungen werden erst auf der Basis der festgehaltenen Aussagen des Befragten entwickelt. (Vgl. ebd.) Diese Art von Interview stützt sich auf den Detailierungszwang einer Erzählung; Zusammenhänge müssen ausführlich beschrieben werden, damit der Gesprächspartner die Erzählung verstehen kann. (Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sar 2009: 93f.) Durch die zeitliche Eingrenzung werden die Erzählungen abhängig von dem Relevanzsystem des Befragten festgelegt, kondensiert und abgeschlossen. (Vgl. ebd.: 94) Vorteil dabei ist, dass die Erzählung „stärker an konkreten Handlungsfolgen und weniger an den Ideologie und Rationalisierungen der Befragten orientiert ist“. (Hopf 2005: 357) Nachdem dem Befragte der Sinn des Interviews erklärt wurde, liegt das Gewicht auf spontanen Erzählungen des Befragten. (Vgl. Lamnek 2002: 181) Der Interviewer nimmt das Erzählte ausschließlich auf, es erfolgen vorerst keine Zwischenfragen oder Kommentare. (Vgl. ebd.) Erst im Nachfrageteil werden Unklarheiten und Widersprüche angesprochen und offen gebliebene Fragen aufgegriffen. (Vgl. Hopf 2005: 356) Abschließend kann eine Bilanz aus dem Erzählten gezogen werden, in der die Sichtweise des Befragten besonders thematisiert wird. (Vgl. Lamnek 2002: 182)

Das rezeptive Interview: „ist die Aufnahme einseitiger, alltäglicher Mitteilung nach wissenschaftlichen Regeln zur Exploration von Sachverhalten“ (Kleinig 1988: 1). Es ist die offenste Befragungsart, da der Forscher weder Fragen noch Antwortvorgaben stellt. (Vgl. ebd.: 3) Diese Form der Befragung ist für eine verdeckte Untersuchung geeignet, die Einflussnahme durch den Interviewer ist verringert und der Forscher kann über das eigentliche Ziel hinaus explorieren, um zum Beispiel Hypothesen zu generieren oder zu überprüfen. (Vgl. Lamnek 2002: 183)

2.1.3 Das problemzentrierte Interview als geeignete Methode der Untersuchung

Grundsätzlich wäre jeder Interviewform zur Bearbeitung der Forschungsfrage dieser Arbeit angemessen. Die Grundkompetenzen, die ein Interviewer zur Durchführung eines qualitativen Interviews benötigt, sind für alle Formen äquivalent.[3] (Vgl. Helfferich 2005: 11) Überdies werden „die unterschiedlichen Varianten qualitativer Interviews in der Praxis der Sozialforschung vielfach kombiniert verwendet“ (Hopf 2005: 353) und zwischen ihnen nicht explizit unterschieden. Unabhängig von der verwendeten Form des qualitativen Interviews sind also die aus der Untersuchung gewonnenen Erfahrungen und Ergebnisse allgemein für die explorative Forschung interessant. (Vgl. Hopf 1978: 98) Bezogen auf den Forschungsaufbau und das Ziel der Interviewformen wäre auch ein fokussiertes oder halbstandardisiertes Interview geeignet. Das hierbei verfolgte Forschungsdesign ist für den begrenzten Zeitrahmen und Mitteln einer Diplomarbeit jedoch zu aufwendig. Unter diesem Gesichtspunkt ist zur Bearbeitung der Forschungsfrage dieser Arbeit das problemzentrierte Interview obligat. Diese Interviewart vereint im gleichen Maß die Offenheit und Standardisierung: es soll auf die für den Befragten relevanten Themen eingegangen und gleichzeitig vorgegebene Fragen erarbeitet werden. Diese besondere Herausforderung für den Interviewer, den Ausgleich zwischen Offenheit und Standardisierung zu halten macht die Forschungsfrage umso interessanter. Durch die Kombination offener und standardisierter Elemente im problemzentrierten Interview, lassen sich Teile der Ergebnisse sowohl auf ein standardisiertere Interviews, wie das fokussierte, aber auch auf offenere, wie das narrative Interview, übertragen. Die Form des problemzentrierten Interviews ist zudem geeignet, da in der Untersuchung eine spezifische Fragestellung verfolgt wird, für die es einen theoretischen Hintergrund gibt. Ein Leitfaden kann auf dieser Grundlage entwickelt und mit Hilfe der darin festgehaltenen Leitfragen die Bedeutungsrelevanzen des Befragten erarbeitet werden.

Das problemzentrierte Interview führt den Befragten anhand eines Leitfadens gezielt durch die verschiedenen Aspekte eines vom Forscher vorher festgelegten Themas und unterstützt ihn, damit er relativ frei erzählt, was für die Forschungsfrage relevant ist. (Vgl. Holstein, Gubrium 1995: 47, Fuhs 2007: 71) Durch verschiedene Fragen soll der Befragte die Möglichkeit erhalten auf alle für den Forscher interessanten Aspekte aus seiner Lebenswelt und aus seiner Sicht heraus in einem möglichst breiten Spektrum zu antworten. (Vgl. Hopf 1978: 100) Die Daten stammen dabei zwar direkt aus der Lebenswelt des Befragten, werden jedoch mit Hilfe des Interviewers produziert und gelten dadurch als kein reines Abbild der Lebenswelt, sondern als „prozesshafte Ausschnitte der Reproduktion und Konstruktion sozialer Realität“ (Lamnek 2005: 23). Es wird somit in einem aktiven Prozess mit Hilfe funktionsbezogener und partnerbezogener Äußerungen durch die Beziehung zwischen Befragtem und Fragendem Wissen produziert und eine eigene Wirklichkeit ausgehandelt und erschaffen. (Vgl. Kvale 2009: 17f., Fuhs 2007: 68, Ecker 1977: 23)

„[I]nterviews are not neutral tools of data gathering but active interactions between two (or more) people leading to negotiated, contextualy based results.“ (Fontana/Frey in Denzin 2005: 645)

Ergeben sich während des Interviews vorher nicht erwartete Aspekte, die in der Lebenswelt des Befragten eine Rolle spielen, sollen auch diese aufgegriffen, spezifiziert und vertieft werden. (Vgl. Hopf 1978: 100) Der Interviewer sollte mit Hilfe von etwas Naivität der Lebenswelt des Befragten gegenüber offen stehen. Das heißt, er darf sich nicht sicher sein, dass ihm bekannte Begriffe für den Befragten die gleiche Bedeutung haben und muss deshalb auch Selbstverständlichkeiten aufgreifen und erfragen. Um den Befragten so wenig wie möglich in seinen Antworten zu beeinflussen, sollen die Fragen so neutral und offen wie möglich sein, ohne ihn in bestimmte Richtung zu drängen. Damit trotzdem alle für die Forschungsfrage relevante Informationen erhoben werden können, sollte der Interviewer ein bestimmtes Maß an Wissen und Qualifikationen zu dem Thema besitzen und die Fragen sollten so präzise sein, dass der Befragte alle relevanten Informationen geben kann. (Kvale 2009: 32) Von dem Interviewer wird zusammengefasst eine Art Balance im Sinne einer qualifizierten Naivität erwartet. Auf der einen Seite steht der Anspruch der Erhebung von relevanten, validen und kompletten Informationen zu einen vorgegebenen Thema in einer bestimmten Zeit und auf der anderen Seite der Anspruch, dem Befragten Raum für seine individuellen Erzählungen seiner Bedeutungsrelevanzen seiner Wirklichkeit zu geben, ohne ihn einzuschränken. Diese Balance zu halten gilt als zentrale Anforderung aber auch als zentrales Problem für diese Art des qualitativen Interviews. (Vgl. Hopf 1978: 100ff.) Es ist die Aufgabe des Interviewers diese Balance während des Interviews zu halten, um eine hohe Qualität an Daten zu produzieren. (Vgl. Kvale 2009: 82)

2.1.4 Der Zusammenhang zwischen Kompetenz, Erfahrung und Einfluss eines Interviewers

Inwieweit diese im vorhergehenden Abschnitt beschriebene Balance gehalten werden kann, ist, neben zahlreichen in der Literatur (u. A. Gorden 1980, 1992, Helfferich 2005, Hopf 1978, Kvale 2009, Keats 2001) beschriebenen Anforderungen, abhängig von der Kompetenz und Erfahrung des Interviewers. (Vgl. Kvale 2009: 84) Allgemein existieren zwei konträre Ansichten. Die eine meint, dass das „Führen qualitativer Interviews keine besonderen Kompetenzen bedarf" (Helfferich 2005: 9) und die andere Ansicht zeigt die "Tendenz, die Bestimmung der notwendigen Kompetenz von Interviewenden zu überfrachten" (ebd.). Insgesamt lässt sich jedoch sagen, dass es ein Mindestmaß an Kompetenz und Erfahrung des Interviewers braucht, um ein qualitatives Interview, den Ansprüchen gerecht, durchzuführen. (Vgl. ebd.: 10ff., König 1995: 17). Ohne diese Kompetenzen würde ein Interviewer „unbewusst und unkontrolliert den Kommunikationsprozess so [. . .] beeinflussen, dass die Kommunikation gestört und das Ziel des Interviews gefährdet wird.“ (Helfferich 2005: 95) Das bedeutet, dass ein Einfluss des Interviewers nicht nur allgemein vorhanden ist, sondern auch abhängig von seinen Fähigkeiten positiv oder negativ Auswirkungen haben kann. (Vgl. ebd. 10, Deppermann 2008: 64) Dieser sollte den Einfluss im Interview möglichst „kompetent, reflektiert, kontrolliert auf einer der Interviewform und dem Forschungsgegenstand angemessene Weise(. . .) gestalten“ (Ebd.). Stört der Interviewer durch „unbewusste und unkontrollierte Verhaltensweisen (. . .) den Kommunikationsprozess“ (Ebd.: 10f.), so wird auch das Interviewziel – „dem Befragten Raum zur Darstellung seiner Relevanzsysteme geben“ (Maindok 2003: 79) im Rahmen des interessierenden Themas - negativ beeinflusst und/oder gestört.

Der Interviewer muss neben der Kontrolle seines Einflusses im Interview weitere Basisqualifikationen aufweisen. Notwendig ist eine „grundlegende Haltung der Offenheit für Fremdes, der Zurückstellung der eigenen Deutungen und der Selbstreflexion sowie schlicht und einfach die Fähigkeit zum Zuhören [. . .] Damit verbunden ist eine Art von Verlangsamung der Kommunikation und ‚Impulskontrolle‘: Der unbewusste, spontane und unkontrollierte Reflex auf das Gehörte hin weicht einer zurückhaltenden Reflexion als Voraussetzung und Kontrolle in der Erhebungssituation.“ Helfferich (2005: 10) Der Interviewer muss sich also beobachtend zu dem Prozess des Interviews verhalten, in dem er selbst involviert ist. Das beansprucht eine hohe Aufmerksamkeit und Konzentration. (Vgl. Maindok 2003: 183) Desweiteren benötigt der Interviewer das Wissen um die Thematik und eine professionelle Einstellung zum Interview. (Vgl. ebd.: 176ff.)

Schlussfolgernd lässt sich zusammenfassen: „[s]tärker als andere Interviewformen bleibt das qualitative, der sozialwissenschaftlichen Exploration dienende Interview Kategorien fachlicher und persönlicher Kompetenz vorbehalten.“ (Hopf 1978: 98) Das Interviewen wird auch als Kunst bezeichnet, die es gilt zu erlernen. Auf der einen Seite gelingt dies durch das Aneignen von Wissen über qualitative Interviews und die Grundstrukturen von Sprache. „Wesentlich schwieriger und langwieriger ist hierbei der Prozeß, in welchem der Interviewer es nach und nach lernt, dieses Wissen auch in sein eigenes kommunikatives Verhalten umzusetzen.“ (Maindok 2003: 187) Deshalb ist auf der anderen Seite vor allem praktische Erfahrung notwendig. Das qualitative Lernen ist dabei bedeutender als quantitatives. Das heißt, idealerweise sollte ein qualitatives Interview geplant, durchgeführt, objektiv betrachtet, analysiert, evaluiert und reflektiert werden. Erst nach diesen Schritten sollte ein nächstes Interview durchgeführt werden. (Vgl. Gorden 1992: 225) Durch wiederholtes Üben und Reflektieren erlangt man das Wissen um das Handwerk des Interviewens und dessen Anwendung und kann die eigenen Fähigkeiten zur Durchführung eines Interviews verbessern. Erst durch diesen Prozess und in Abhängigkeit des Umfangs und des Wertes des erarbeiteten Wissens ist es dem Interviewer möglich, sich auf das Wissen des Befragten zu konzentrieren und eine hohe Qualität der Daten zu erlangen. (Vgl. Kvale 2009: 17 und 87, Gorden 1992: 226) Den Befragten kontinuierlich zur Produktion von „Daten einer bestimmten Qualität, d.h. eines bestimmten Typs und eines bestimmten Detailierungsgrades“ (Maindok 2003: 180) zu veranlassen, ist eine der grundlegendsten Anforderungen an einen Interviewer. Dafür muss der Interviewer sich aktiv engagieren und in der Lage sein, die Antworten des Befragten zu beurteilen. (Vgl. Helfferich 2005: 33) Darunter fallen folgende Fähigkeiten: die Fragen akkurat zu kommunizieren, das Maximieren der Fähigkeit und des Willens des Befragten, zu antworten, aktives Zuhören, um zu ermitteln inwieweit die Antworten relevant sind, Nachfragen um die Validität zu erhöhen, sowie Antworten klären und komplementieren. (Vgl. Gorden 1980: 535)

Ein Interviewer gilt also als erfahren, in Abhängigkeit von der Anzahl und Länge durchgeführter Interviews, wo, wie viel und was er gelernt hat, den Schulungen, die er erhalten hat und der Durchführung eigener Studien oder Interviews. Relevant dafür ist auch, inwieweit der Interviewer eigene Gespräche transkribiert, vercodet, analysiert und eigene Leistungen reflektiert hat. (Vgl. Gorden 1992: 3) Die bisherigen Ausführungen lassen sich in einem vereinfachten Schaubild darstellen:

Abbildung 1: Bilden einer neuen Wirklichkeit in Abhängigkeit verschiedener Faktoren

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eigene Darstellung.

Befragter und Interviewer gehen mit ihrer „eigenen“ Wirklichkeit und als „Träger sozial gestalteten Wissens“ (Cropley 2002: 67) in das Interview. Beide sind gleichermaßen in die Erhebungssituation und in den meaning-making Prozess eingebunden und konstituieren somit auch das Ergebnis, die „neue“ Wirklichkeit. (Vgl. König/Zedler 2002: 166) Während der Erhebungssituation entwickelt sich eine durch sie bestimmte und dadurch auch durch sie beeinflusste Beziehung zwischen dem Befragten und dem Interviewer. In dieser Situation beeinflusst die Erfahrung und Kompetenz des Interviewers das eigene Verhalten, wie zum Beispiel das Frageverhalten. Der Befragte erlebt und bewertet dieses Verhalten und die Fragen und reagiert, abhängig von dieser Bewertung, mit einer Antwort darauf. Der Interviewer wiederum erlebt und bewertet das Verhalten und die Antworten des Befragten. Diese Bewertung fließt teilweise in seine Erfahrungen und Kompetenzen mit ein. Der beschriebene Ablauf setzt sich im Interview so fort. Die neue Wirklichkeit und dadurch auch die Qualität der Daten werden durch den Erhebungsprozess bestimmt. Schlussfolgernd lässt sich sagen, dass der Interviewer mit seinem durch Erfahrung und Kompetenz geprägtem Verhalten einen umfassenden Einfluss auf die Erhebungssituation, den Befragten und somit auch auf die Ergebnisse hat. (Vgl. Holstein, Gubrium 1995: 44; Steinke 1999: 28ff.; Gorden 1992: 225)

In diesem Abschnitt wurde dargestellt, dass in einem Interview der Einfluss eines Interviewers vorhanden ist. Die Art und Weise des Einflusses und damit verbunden die Qualität der erhobenen Daten, ist abhängig von der Kompetenz und somit auch Erfahrung eines Interviewers. Im Folgenden werden die verschiedenen Ansprüche an einen Interviewer zur Durchführung eines qualitativen Interviews dargestellt.

2.2 Ansprüche an einen Interviewer zur Durchführung eines qualitativen Interview

Als Grundlage zur Bearbeitung der Forschungsfrage dienen die Ansprüche an einen Interviewer. Mit Hilfe dieser Grundlage soll beurteilt werden

1) inwieweit die Anforderungen durch den erfahrenen und unerfahrenen Interviewer erfüllt werden; 2) inwieweit der Einfluss durch die unterschiedliche Erfüllung dieser Anforderungen variiert; 3) welche Ansprüche und wie der Befragte Ansprüche wahrnimmt und bewertet; 4) inwieweit unterscheiden sich die Befragten in der Wahrnehmung und Beurteilung dieser Ansprüche und 5) welche Ansprüche sind deshalb besonders wichtig für das Interview und das Bilden einer neuen Wirklichkeit.

Die Anforderungen an den Interviewer sollen im nächsten Teil erst allgemein und dann bezogen auf die einzelnen Phasen eines Interviews, dargestellt werden. Es werden dazu im ersten Schritt die Ansprüche an einen Interviewer ausgeführt. Anschließend soll auf Grundlage von Literatur[4] gezeigt werden, inwieweit jeweils der erfahrene und unerfahrene Interviewer diese Ansprüche umsetzte.

Auf die in den vorhergehenden Kapiteln beschriebenen Basisqualifikationen eines Interviewers bauen die detaillierteren Kompetenzen der einzelnen Interviewphasen auf. Folgende Bereiche eines Interviews werden im Zusammenhang mit diesen Kompetenzen betrachtet: erster Kontakt/Begrüßung, Einführung in das Interview, Schaffen einer guten Atmosphäre, Fragen stellen, zuhören, Antworten beurteilen, nachfragen. (Vgl. Gorden 1992: 3)

2.2.1 Kontaktaufnahme, Begegnung mit dem Befragten; Begrüßung

Allgemein kann eine Kontaktaufnahme zum Befragten über einen Aushang, über das Telefon und Email oder auch über eine persönliche Ansprache erfolgen. Die erste Begegnung kann vor dem Interview stattfinden, also während der ersten Kontaktaufnahme und Terminvereinbarung, aber auch erst am Anfang des Interviews, wenn der Termin durch eine andere Person vereinbart wurde.

Der Ort des Interviews sollte eine ungestörte Aufmerksamkeit für Interviewer und Befragten ermöglichen. Ideale Räumlichkeiten wären z.B. das zu Hause oder Büro des Befragten bzw. des Interviewers, wenn an diesen Orten keine weiteren Personen das Interview stören können. Auch ein Café kann eine gute Umgebung für ein Interview sein, wenn die Möglichkeit besteht, sich relativ ungehört und evtl. auch unbeobachtet zu unterhalten, um eine freie Artikulation der Gedanken des Befragten zu ermöglichen. (Vgl. Helfferich 2005: 157)

Die Beziehung zwischen Interviewer und Befragten ist zu großen Teilen schon vor dem Interview festgelegt. Einen weiteren Einfluss auf diese Beziehung, und somit auch auf das Interview, haben unter anderem die Uhrzeit in der das Interview stattfindet, der Ort, die Kombination von Befragtem und Interviewer aber auch die Einstellung des Befragten zum Interview. (Vgl. Gorden 1980: 72) Die erste Kontaktaufnahme bzw. erste Begegnung ist deshalb nicht nur für den Befragten, sondern insbesondere für den Interviewer von großer Bedeutung. Hier wird nicht nur dem Befragten ein erster Eindruck über den Interviewer und den Ablauf des Interviews vermittelt, sondern auch der Interviewer gewinnt einen ersten Eindruck über den Befragten. (Vgl. Keats 2000: 22) Bei diesem ersten Kontakt muss sich der Interviewer (falschen) Beurteilungen oder Stereotypen über den Befragten bewusst werden und sie reflektieren. Eine mögliche negative Einstellung zum Befragten kann dadurch in eine positive umgestaltet werden, um in das Gespräch mit wissenschaftlicher Objektivität hineinzugehen. (Vgl. Gorden 1980: 84, 331) Inwieweit der Interviewer in der Lage ist, dem Befragten einen positiven ersten Eindruck zu vermitteln, aber auch sich selbst eine positive Einstellung zum Befragten zu schaffen[5], ist entscheidend für das Verhältnis zwischen Interviewer und Befragten sowie für die Atmosphäre im Interview. (Vgl. Keats 2001: 22) Falls es vor dem Interview keinen Kontakt zwischen Befragten und Interviewer gab, findet die erläuterte erste Begegnung während der Begrüßung zum Interview statt. Es erfolgt eine Begrüßung des Teilnehmers und eine gegenseitige Vorstellung. Anschließend oder auch währenddessen wird für das Interview Platz genommen. Idealerweise findet das Gespräch an einem Tisch statt, das Aufnahmegerät, Leitfaden oder Getränke können abgestellt werden und es besteht die Möglichkeit sich während des Gesprächs auf dem Tisch abzustützen. Optimal sitzen Interviewer und Befragter in einem rechten Winkel zueinander, um Distanz aber auch Nähe zu ermöglichen. Dadurch kann der Blick des Befragten den Interviewer erfassen und gleichzeitig sich leicht einen freien Raum neben dem Interviewer suchen. Wenn der Befragte zudem mit der Blickrichtung auf den Ausgang bzw. auf die Tür sitzt wird ihm das Gefühl eines jederzeit möglichen Auswegs aus dem Interview gegeben. (Vgl. Gorden 1992: 58f.) Eine für den Befragten angenehme Sitzanordnung zu schaffen, ist einer der ersten Ansprüche an den Interviewer.

2.2.2 Die Hinführung zum Interview

Allgemein dient die Einführung in das Interview dazu einen „Erzählhintergrund aufzuspannen“ (Hermanns 1981 zit. nach: Maindok 2005: 118) und die Erwartungen des Interviewers an den Befragten aufzuzeigen. (Vgl. ebd.) Zuerst sollte dem Befragten für die Teilnahmebereitschaft gedankt werden, und der Interviewer sowie das Projekt, in welchem Rahmen das Interview stattfindet, vorgestellt werden. Um ein begründetes Vertrauensverhältnis aufzubauen und den Befragten vollständig aufzuklären, sollte der Interviewer offen und ehrlich sagen wer er ist, was mit dem Interview erreicht werden soll und wer davon profitieren wird. (Vgl. Keats 2001: 28f.) Der Interviewer muss den Zeitrahmen und das genaue Vorgehen des Interviews mitteilen.

Die Rollenverteilung des Fragenden und des Antwortenden muss offen und klar kommuniziert werden. (Vgl. Hopf 1978: 110) Der Befragte sollte einen klaren Auftrag erhalten und genau wissen, was von ihm erwartet wird. (Vgl. Keats 2001: 23; Hermanns 2003: 363) Der Befragte soll zum vorgegebenen Thema möglichst ausführlich und nach seiner ganz individuellen und persönlichen Sicht erzählen. Eine klare Vorgabe zeigt dem Befragten auf, wie er auf die Fragen des Interviewers reagieren soll, damit sie dem Ziel des Interviews gerecht werden. Ohne diese konkreten Vorgaben würde ein Befragter sich nach eigenem Ermessen verhalten, was nicht mit den tatsächlichen Vorgaben übereinstimmen muss. (Vgl. Phillips 1971: 98)

Vor dem Beginn der Audio- oder Videoaufnahme muss der Befragte auf die Einhaltung von Anonymität und Datenschutz hingewiesen und sein Einverständnis dazu eingeholt werden. (Vgl. Gläser 2009: 170f.) Er muss wissen, dass seine Daten vertraulich behandelt, alle persönlichen Daten anonymisiert, wie seine Daten im Endeffekt weiterverarbeitet werden, wer zu den Informationen Zugang haben wird und wie die Aufnahmen im Nachhinein aufbewahrt werden. (Vgl. Keats 2001: 28f., 230f.) Danach wird die Aufnahme gestartet. Falls ein Befragter Bedenken gegen eine Aufnahme hat, kann der Interviewer folgendes kommunizieren: mit Hilfe der Aufnahme gehen keine Informationen verloren, ein Auswertung kann sehr präzise erfolgen kann, der Interviewer kann sich voll auf das Gespräch konzentrieren, eine erneute Zusicherung von Anonymität und Datenschutz. (Vgl. Froschauer/Lueger 2003: 68) Durch das gemeinsame Anhören einer Probeaufnahme kann ebenfalls die Angst vor der Aufnahme reduziert werden. (Vgl. Gorden 1980: 395f.) Will der Befragte partout keine Aufnahme, muss das Gespräch handschriftlich protokolliert werden und durch das am Interview anschließende Gedächtnisprotokoll ergänzt werden. (Vgl. Gläser 2009: 171)

- Der unerfahrene Interviewer hat eher Probleme im Umgang mit dem Tonband als der erfahrene. Unerfahrene Interviewer hören sich selbst nicht gern auf dem Tonband sprechen, aus Angst, unprofessionell wirken zu können. Diese Angst wird dann oftmals auf den Befragten verschoben bzw. ihm unterstellt, z.B. in dem das Gerät erst angeschaltet wird, wenn der Befragte zu sprechen beginnt. (Vgl. Hermanns 2005: 362)

Vor dem Start des eigentlichen Interviews kann ein Kurzfragebogen, für standardisierte demographische Daten und wichtige Faktfragen über das Interviewthema, vom Befragten ausgefüllt werden. Für den Befragten dient der Kurzfragebogen zur ersten Einstimmung auf das Interview. Nachdem der Interviewer die Antworten kurz überfliegt, kennt er die verschiedenen Fakten und muss sie im späteren Interview nicht noch einmal zu erfragen bzw. kann sein Frageverhalten den Fakten angemessen ausrichten. (Vgl. Witzel 2000: 7) Sofern auftretende Fragen des Teilnehmers nicht das direkte Interviewthema betreffen, sollten diese im Vorfeld beantwortet werden. Durch eine gewissenhafte Beantwortung dieser Fragen, fühlt sich der Befragte ernst genommen. (Vgl. Cropley 2002: 100; Kvale 2009: 166)

In dem einführenden Teil des Interviews sollte der Interviewer eine gute Beziehung aufbauen und eine angenehme Atmosphäre herstellen. (Vgl. Keats 2000: 23) D.h. der Interviewer sollte „in den ersten Minuten eine Situation herstellen, die so entspannt und offen ist, dass Menschen darin ohne Befürchtungen die unterschiedlichsten Aspekte ihrer Person und ihrer Lebenswelt zeigen können.“ (Hermanns 2005: 363)

- Ein unerfahrener Interviewer wird die Situation weniger klar und deutlich definieren, sowie eher verlegen und unsicher sein. (Vgl. Maindok 2003: 181)

2.2.3 Der Verlauf des Interviews

In diesem Teil der Arbeit sollen die einzelnen Elemente aufgezeigt werden, die für den Verlauf des Interviews und somit auch die Erstellung einer neuen Wirklichkeit während des Interviews grundlegend sind.

2.2.3.1 Erzählgenerierende Einstiegsfrage

Die Einstiegsfrage wird zur Hinführung auf das zu untersuchende Thema genutzt. Diese Frage muss durch den Befragten potentiell leicht zu beantworten sein, sowie einen relativ angenehmen Gegenstand ansprechen. (Vgl. Witzel 2000: 14) Eventuelle Spannungen auf der Seite des Befragten, z.B. die Unsicherheit, in der Lage zu sein die Fragen beantworten zu können, können dadurch gelöst werden. Insbesondere Befragten, die zum ersten Mal an einem Interview teilnehmen, muss das Gefühl vermittelt werden, dass sie in der Lage sind, die Situation meistern zu können. (Vgl. Kvale 2009: 135) Falls der Befragte die Einstiegsfrage[6] nicht versteht und eine Nachfrage stellt, sollte die Frage in etwas anderen Worten umformuliert, aber in gleicher Offenheit und Neutralität belassen werden. (Vgl. Gläser2009: 131)

Dem Interviewer muss bewusst sein, dass die Art der Frage die Art der Antwort beeinflusst. Deshalb sollte der Interviewer Wissen darüber verfügen, welche Arten von Fragen es gibt, wie sie wirken und welche Ziele sie haben, um relevante Antworten zu produzieren. (Vgl. Kvale 2009: 138)

2.2.3.2 Zur Gestaltung von Fragen

Die Fragen in einem qualitativen Interview sollten klar, einfach und verständlich formuliert werden. (Vgl. Liebherr 1983 in Maindok 2003: 79) Die gewählten Worte sollten sich der Alltagssprache annähern und sich auf der Ebene des Befragten befinden. Fremdbegriffe gilt es zu vermeiden. (Vgl. Gorden 1992: 30) Wenn der Interviewer sogenanntes Insider Vokabular nutzt, erkennt der Befragte, dass der Interviewer bestimmte Begriffe kennt bzw. weiß, wovon die Rede ist, was vorteilhaft für die Beziehung zwischen Befragtem du Interviewer sein kann. (Vgl. ebd.: 31) Indem bewusst bestimmte Worte und Ausdrücke, z.B. aus der Jugendsprache, genutzt werden, können Hemmungen, diese evtl. als unangemessen eingeschätzte Begriffe zu nutzen, abgebaut werden. (Vgl. ebd.: 31f.) Grammatikalisch schwierige Konstruktionen, wie z.B. doppelte Verneinungen, sollten vermieden werden. (Vgl. Gläser2009: 140) Pro Frage darf nur ein Gegenstand angesprochen bzw. nur ein Informationsbedürfnis geäußert werden. (Vgl. Keats 2000: 40f.) Mehrere Fragen in einer, meist durch ein „oder“ gekennzeichnet, überlassen dem Befragten die Entscheidung, welchen er beantwortet. Dies kann einerseits den Befragten überfordern oder Unsicherheit und Stress auslösen und andererseits verfügt der Interviewer dadurch keine Kontrolle über die Richtung, in welche die Antwort gelenkt wird. Wenn die vom Befragten getroffene Entscheidung nicht deutlich wird ist dies nachteilig, da folglich in der Auswertung kein Wissen darüber existiert, auf welchen Aspekt sich der Befragte bezieht. (Vgl. Gläser 2009: 132) Auch bei multiple Fragen, d.h. Fragen, die hintereinander gestellt werden, besteht dieses Problem. Diese Aneinanderreihung mehrerer Fragen ist eine unbewusste Übernahme aus der Alltagskommunikation. (Vgl. ebd.: 141f.)

Dass Fragen erzählgenerierend gestaltet werden müssen, ist ein weiterer allgemeiner Anspruch. Durch ihre Formulierung lösen sie längere Beschreibungen, Begründungen und Erklärungen aus, die das Wissen des Befragten und die Bedeutungen, die er dem Wissen gibt, freigeben. (Vgl. ebd.: 125f.) Eine Frage, die mit Ja oder Nein beantwortet werden kann, entspricht nicht diesem Prinzip und ist nur für eventuelle Filterfragen angebracht. (Vgl. ebd.: 132) Um diesem Prinzip gerecht zu werden, sollte eine Frage offen und neutral formuliert und dem Befragten viel Spielraum für seine Antwort gelassen werden. Zu ungenau oder zu offen formulierten Fragen können den Befragten verunsichern. Er wird um eine Spezifizierung der Frage bitten oder im schlimmsten Fall die Frage falsch interpretieren und mit einer irrelevanten Antwort reagieren. D.h. die Frage muss nicht nur so offen wie möglich, sondern auch so zielgerichtet und strukturiert wie für das Forschungsziel notwendig, formuliert werden. (Vgl. Gläser2009: 131f., Helfferich 2005: 181) Ein Beispiel für eine offene, jedoch zu weite Frage ist die Frage „Warum?“. Diese Frage verlangt offen eine Ursache als Antwort, jedoch zeigt sie nicht die Richtung, in der sie erläutert werden soll. Aus den Unmengen an Motiven für Handlungen wird sich der Befragte nur eines herausnehmen. Dabei ist ungewiss, dass die gewählte Ursache auch für das Forschungsziel von Relevanz ist. Angemessener an dieser Stelle ist es, eine konkretere Frage zu formulieren. (Vgl. Gläser 2009: 141)

Die vom Interviewer gestellte Frage sollte keinen Einfluss auf die Art der Inhalte der Antwort ausüben. Suggestivfragen entsprechen diesen Vorgaben. Die Antwort wird suggeriert und enthält explizit oder implizit die Antwort, die der Interviewer vom Befragten erwartet. Dabei beziehen sich die Erwartungen jedoch nicht auf vorher Gesagtes. (Vgl. Gorden 1992: 33) Suggestivfragen können auch durch die Betonung mit Hilfe von Tonlage und Stimme oder wenn emotional- oder wertgeladene Begriffe, wie z.B. das negativ geladene Wort Skandal, genutzt werden, entstehen. (Vgl. Gorden 1992: 32; Maindok 2003: 90) Antworten, die man auf eine Suggestivfrage erhält, können als ein Artefakt bzw. als ein Ergebnis gesehen werden, welches nur durch die Erhebungsmethode erzeugt wurde. Mit dem Befragten müssen sie jedoch in keinem bekannten Zusammenhang stehen und geben nicht unbedingt dessen reale Meinung wieder. (Vgl. Gläser2009: 137) Eine Suggestivfrage ist dennoch auch eine geeignete Methode zu neuem fundiertem Wissen zu gelangen und in Ausnahmefällen bzw. wohlüberlegt durchaus angebracht: zum Einen, wenn eine relevante Antwort offensichtlich im Gedächtnis des Befragten ist, er sie aber vergessen hat, durcheinander ist oder dazu neigt, die Antwort zurückzuhalten und zum Anderen, wenn die Antwort eher sozial unerwünscht ist. (Vgl. Kvale 2009: 173, Gorden 1992: 39) Durch eine Suggestivfrage können Erinnerungen geordnet oder auch ein sozial nicht akzeptierter Fakt suggeriert werden, um dem Befragten die Antwort zu erleichtern. Wichtig ist, dass man die Antwort auf eine Suggestivfrage anschließend detailliert sondiert, um die Validität der Antwort sicherzustellen. (Vgl. ebd.: 40)

Prinzipiell können die genannten unerwünschteren Frageformen unter der Ausnahme gestellt werden, dass sie wohlüberlegt sind und zu einem ganz bestimmten wohl bedachten Zweck dienen. Hier liegt der Anspruch an den Interviewer, Fragen gezielt und ihrer Wirkung nach einzusetzen. (Vgl. Gläser 2009: 133f.)

2.2.3.3 Aktives Zuhören

Jeder Befragte interpretiert die vom Interviewer gestellte Frage individuell nach seinem Wissenshorizont. Gleichermaßen entwickelt er seine Antworten aus diesem Wissen. Es ist nicht auszuschließen, dass er infolgedessen die Frage nicht in dem Maß beantwortet, wie der Interviewer dies vorgesehen hat. (Vgl. Holstein/Gubrium 1995: 58) Daraus resultiert eine weitere Anforderung an den Interviewer: das aktive Zuhören und Beurteilen, inwieweit die Antwort des Befragten relevant, komplett und valide ist. (Vgl. Gorden 1980: 90) Ziel aktiven Zuhörens ist, das Gesagte an sich aber auch dessen Bedeutung zu verstehen und diese Informationen auf Relevanz, Validität und Komplettierung zu überprüfen. Um die Relevanz einer Antwort einzuschätzen, muss der Interviewer wissen, worauf seine gestellte Frage abzielt und welche Informationen damit erhoben werden sollen. Dazu ist die Kenntnis des Ziels der Untersuchung erforderlich. Der Interviewer muss zudem einschätzen können, inwieweit seine Fragen einen räumlichen, zeitlichen und personenbezogenen Bezug verlangen und die Antworten des Befragten dementsprechend ausgerichtet sind. (Vgl. Gorden 1992: 90f.) Die Validität einer Antwort ergibt sich, wenn sie wahr und genau ist. (Vgl. ebd.: 91) Komplett ist eine Antwort, wenn alles, was der Befragte zur entsprechenden Frage weiß, erfasst wurde. (Vgl. ebd.: 91f.) Der Interviewer muss dem Befragten aktiv zuhören, um dessen Antwort auf Relevanz, Validität und Komplettierung zu überprüfen. (Vgl. ebd.: 81) Für das Zuhören, d.h. für das Interpretieren, Verstehen, Einschätzen, Anerkennen und Rückmelden der Antwort, benötigt man neben einer hohen Konzentration auch Willen und Bemühung. (Vgl. ebd.: 82) Infolgedessen ist es für den Interviewer wichtig, bereits zu Beginn des Interviews aufmerksam zu sein und in Ruhe das Interview zu starten. Der Interviewer muss sich Gesagtes zu merken, um im späteren Verlauf entsprechend Fragen stellen und Erzähltes in Fragen einbauen zu können. Um die Merkfähigkeit zu unterstützen, inwieweit Aspekte besprochen wurden oder welche sondiert werden sollte, ist es durchaus legitim Notizen und Markierungen diesbezüglich zu machen. (Vgl. ebd.: 94f.) Während des Zuhörens muss sich der Interviewer zusätzlich auf seine nächste Frage vorbereiten. (Vgl. ebd.) Er muss erkennen, was der Befragte sagen will, was er nicht sagen möchte und was er nicht ohne Hilfe sagen kann und dementsprechend seine Nachfragen gestalten. (Vgl. Kvale 2009: 45) Das aktive Zuhören soll auch durch die Körpersprache, Mimik, Gestik, offene Körperhaltung gegenüber dem Befragten, ausgedrückt werden, um dem Befragten Interesse und Aufmerksamkeit zu zeigen.[7] (Vgl. Gorden 1992: 137)

- Gorden (1992: 94, 137) beschreibt, dass ein Interviewer vor allem durch die Erfahrung lernt, aktiv zuzuhören und das auch zu zeigen. Weiterhin gelingt es einem erfahrenen Interviewer eher sich alle Aspekte der Antwort des Befragten zu merken, Erzähltes in seine Fragen einzubauen oder Gesagtes zusammenzufassen.
- Kvale (2009: 45) legt dar, dass es vor allem durch Erfahrung und Übung möglich ist, zu hören was der Befragter sagen will, was er nicht sagen möchte und was er nicht ohne Hilfe sagen kann. Durch diese Einschätzung kann der Interviewer seine Fragen für den Befragten angenehm ausrichten und formulieren.

Es gibt verschiedene Hindernisse, die ein aktives Zuhören und entsprechendes Vorbereiten einer Nachfrage erschweren. Diese Hindernisse sind: 1) äußerliche Faktoren wie z.B. Hintergrundgeräusche oder Murmeln und Flüstern des Befragten; 2) ein unterschiedliche soziokulturelle Hintergrund von Befragten und Interviewer (Vgl. Gorden 1992: 93); 3) Worte haben für den Befragten eine andere Bedeutung als für den Interviewer (Vgl. ebd.: 85f.); 4) der existierenden Bedarf einer Nachfrage wird nicht gesehen (Vgl. ebd.: 146); 5) die Antwort fällt wie vom Interviewer erwartet aus zw. Wird intuitiv durch seine eigene Meinung ergänzt (Vgl. ebd.: 87f.); 6) Desinteresse des Interviewers am Thema und am Befragten (Vgl. ebd.: 86f.); 7) das Bestreben des Interviewers, die eigene Meinung dem Befragten mitzuteilen[8] (Vgl. ebd.: 88f.); 8)Fähigkeit auch mit emotional und Werte geladenen Worten des Befragten umgehen zu können. (Vgl. ebd.: 88); sowie 9) Angst des Interviewers vor der Durchführung des Interviews, aber auch vor der eigenen Leistung, z.B. wenn die Kontrolle über das Interview entgleitet und der Befragte die Führung übernimmt. (Vgl. ebd.: 88f.)

- Gorden (1980: 336) und Keats (2000: 63) gehen davon aus, dass es dem unerfahrenen Interviewer schwerer fällt, aktiv zuzuhören. Er lässt den Befragten nicht ausreichend erzählen, unterbricht ihn an ungeeigneten Stellen und unnötigerweise oder fällt ihm ins Wort.
- Laut Kvale (2009: 166) gelingt es dem erfahrenen Interviewer eher dem Befragten zu zeigen, dass auch sozial unerwünschte oder provozierende Meinungen erzählt werden können.

Während des aktiven Zuhörens sollte sich der Interviewer auf seine nächste Frage vorbereiten. Hier hat der Interviewer verschiedene Methoden aber auch Ansprüche zu beachten, die im nächsten Teil der Arbeit ausführlicher dargestellt werden. (Vgl. Gorden 1992: 145)

2.2.3.4 Fragen zur Maximierung der Reichweite, Spezifizität, Tiefe und personaler Kontext von Fragen

Der grundlegendste Anspruch an Nachfragen bzw. Fragen ist: „Kommunikation fördern [und] zum Erzählen motivieren“ (Helfferich 2005: 32) und dabei dem Befragten aufzuzeigen, welche weiteren Informationen noch benötigt werden. (Vgl. Gorden 1992: 145) Der Interviewer hat in einem problemzentrierten Interview die Aufgabe, die Äußerungen des Befragten als für das Forschungsziel ausreichend, d.h. als relevant, komplett und valide, zu beurteilen. Falls die Antwort diesen Ansprüchen nicht genügt, muss der Interviewer durch gezieltes Nachfragen[9] dem Befragten die Möglichkeit geben die Inhalte zu ergänzen, zu vervollständigen und gegebenenfalls richtig zu stellen. (Vgl. Helfferich 2005: 33) Hier gilt es für den Interviewer vier Ansprüche zu erfüllen.

1. Die Reichweite der Antworten soll erhöht werden, d.h. „das Spektrum der im Interview angeschnittenen Probleme“ (Hopf 1978: 99), maximiert werden. Der Interviewer kann die Reichweite der Antworten maximieren, indem er ein neues Thema einführt oder die nächste Frage aus dem Leitfaden stellt. Diese Vorgehenswiese bietet sich an, wenn das Gespräch stockt oder das gegenwärtige Thema nicht ergiebig genug ist. (Vgl. Flick 2009: 210) Die Reichweite kann auch durch den Befragten erweitert werden, indem er für sich und das Thema relevante Aspekte einbringt, die nicht auf dem Leitfaden festgehalten sind. Der Interviewer sollte deshalb offen für neue Aspekte sein und sie weiterverfolgen, um das Themenspektrum zu erweitern. (Vgl. Kvale 2009: 167; Przyborski/Wohlrab-Sar: 142)

2. Die Spezifizität der Antwort soll maximiert werden, da „(e)rst die Spezifizierung bestimmter Stellungnahmen, Entscheidungen, Optionen und die Erläuterung ihres Hintergrunds (.) ein sinnhaftes Verstehen von Reaktionen (ermöglicht)“ (Hopf 1978: 100).

3. Die Tiefe der Antworten soll vergrößert werden. Der „Befragte soll unterstützt werden bei der Darstellung der affektiven, kognitiven und wertbezogenen Bedeutung bestimmter Situationen und bei der Darstellung seiner Involviertheit“ (Hopf 1978: 99f.). Die Themen und Fragen im Interview können durch den Interviewer spezifiziert und vertieft werden, indem die angesprochenen Themen und Fragen aufgegriffen werden. (Hopf 1978: 99) Dem Befragten soll mit Hilfe von Nachfragen ermöglicht werden z.B. „Stellungnahmen, Entscheidungen, Optionen und die Erläuterung ihres Hintergrunds“ (Ebd.: 100) zu spezifizieren.

4. Der personale Kontext muss vorhanden sein, d.h. inwieweit steht der Befragte mit den Deutungen und Reaktionen im persönlichen und sozialen Kontext. (Vgl. Hopf 1978: 100) Dies kann durch aufmerksames Zuhören aber auch durch Nachfragen beurteilt werden. Daneben können Filterfragen bei der Entscheidung helfen, ob der Befragte an den angesprochenen Prozessen teilgenommen bzw. beobachtet hat und sie erläutern oder beurteilen kann. (Vgl. Gläser 2009: 128)

Die vier Ansprüche der Reichweite, Spezifizität, Tiefe und personaler Kontext sollten weitestgehend erfüllt werden, um ein optimales Ergebnis durch ein Interview zu erzielen. Unvereinbar für ein qualitatives Interview sind allerdings die Zielvorgaben der Tiefgründigkeit und der Reichweite. (Vgl. Hopf 1978: 101) Je nach Interviewsituation und Verlauf des Interviews müssen relativ spontane Entscheidungen vom Interviewer getroffen werden, inwieweit er eher in die Tiefe oder in die Breite des Erzählten gehen sollte. „Diese Einzelentscheidungen, die nur in der Interviewsituation selbst getroffen werden können, verlangen vom Interviewer ein großes Maß an Sensibilität für den konkreten Interviewverlauf und für den Interviewten. Darüber hinaus verlangen sie ein großes Maß an Überblick über das bereits Gesagte und seine Relevanz für die Fragestellung der Untersuchung. Dabei ist eine permanente Vermittlung zwischen dem Interviewverlauf und dem Leitfaden notwendig.“ (Flick 2009: 223) Für das Fällen dieser Entscheidungen benötigt der Interviewer daher eine sogenannte „ situative Kompetenz “ (Ebd.: 200). Die situative Kompetenz des Interviewers „lässt sich durch Erfahrungen mit den notwendigen Entscheidungen in Interviewsituationen in Probeinterviews und Interviewtrainings erhöhen.“ (Ebd.)

Einer der obersten Ansprüche an einen Interviewer ist es, eben diese Balance zwischen Reichweite und Tiefe bzw. Spezifizität zu halten. (Vgl. Hopf 1978: 103) Einerseits muss er den Befragten durch die für das Forschungsziel relevanten Themen führen und auf der anderen Seite die Themen so spezifisch behandeln, dass die für den Befragten bedeutenden Relevanzen herausgestellt werden. (Vgl. Kvale 2009: 140; Gorden 1992: 9, Maindok 2003: 178f.) Für das Halten dieser Balance, hilft auch der korrekte Umgang mit dem Leitfaden. Der Interviewer sollte sich hierbei „weder zu fest an ihn klammern noch sich munter über ihn hinweg setzen.“ (Hopf 1978: 101) Um der Offenheit und Reichweite eines qualitativen Interviews gerecht zu werden, sollte der Befragte in seinem Gedankenfluss nicht unterbrochen werden. Der Interviewer muss eine bestimmte Menge an irrelevanten Informationen akzeptieren. Gleichzeitig muss er aber auch abwägen, inwieweit der Befragte durch eine Frage auf das eigentliche Thema zurück gelenkt werden sollte. (Vgl. Gorden 1992: 150) Soll der Befragte wieder auf das Thema zurückgeführt werden, so versucht man ihn höflich zu unterbrechen, indem man eine Atempause abwartet oder Rückkopplungen, wie nicken, verringert. (Vgl. Gläser 2009: 180) Dann kann man durch Aussagen wie z.B. „Das ist sehr interessant, aber was ich wissen muss. . .“ den Fokus in die richtige Richtung lenken. (Vgl. Gorden 1992: 94)

- Ein ausführliches Interviewtraining ist notwendig, um die beschriebene Balance zu halten. (Vgl. Flick 2009: 223) Dabei tendiert ein unerfahrener Interviewer entweder dazu, zu viel oder zu wenig Kontrolle über das Interview zu haben. (Vgl. Gorden 1980: 167)
- Zu viel Kontrolle: laut Hopf (1978: 103f.) vernachlässigt der unerfahrene Interviewer eher neue, durch den Befragten eingebrachte Aspekte und nutzt die Chance auf die Erweiterung der Reichweite nicht. Entweder er ignoriert die Informationen oder er geht scheinbar darauf ein und signalisiert dem Befragten, sich nicht zu lang daran aufzuhalten. Die Reichweite wird eher mit Hilfe des Leitfadens und nicht durch den Befragten erweitert.
- Zu wenig Kontrolle: der unerfahrene Interviewer geht zu sehr auf den Befragten ein. Dies ist problematisch, da viele irrelevante Informationen erhoben werden und die Interviewzeit nicht effektiv genutzt wird. (Hopf 1978: 107f.) Der erfahrene Interviewer kennt das genaue Ziel der Befragung und unterbricht den Befragten angemessen, wenn notwendig. (Vgl. Kvale 2009: 167)
- Kvale (2009: 167) beschreibt, dass sich der erfahrene Interviewer eher an die verschiedenen Aspekte der Antwort erinnern kann, sie dementsprechend eher weiterverfolgt und sie mit Gesagtem in Zusammenhang setzt.
- Einem unerfahrenen Interviewer fällt das Aufgreifen von Gesagtem für Nachfragen schwerer. (Vgl. Hopf 2005: 359). Das Sondieren gelingt einem erfahrenen Interviewer besser als einem unerfahrenem. (Vgl. Witzel 1982: 92f.; Maindok 2003: 173)
- Durch den unerfahrenen Interviewer werden nicht alle relevanten Aspekte erfasst und die Inadäquatheit von Antworten wird nicht gesehen. (Vgl. Gorden 1980: 498)
- Laut Hopf (1978: 105) wechselt der unerfahrene Interviewer schneller die Themen, eine Art „bürokratisches [A]bhaken der Leitfragen“ erfolgt.

Allgemein und den konkreten Nachfragen übergeordnet sind also die einzelnen Entscheidungen im Interview über eine Maximierung der Reichweite oder der Tiefe und auch die Führung des Befragten durch die Themenstellung. Im folgenden Teil werden die allgemeinen Ansprüche an Nachfragen aufgezeigt, welche Arten von Nachfragen existieren, welche Folgen Nachfragen haben und welche Probleme beim Nachfragen auftauchen können.

2.2.3.5 Anforderungen, die eine Frage erfüllen muss

Grundlegend ist, dass die Art und Weise wie eine Frage formuliert wird, dem Befragten zeigt, wie seine Antwort ausfallen soll. Je nach Bedeutung werden Fragen formuliert, aber dann auch entsprechend ihrer Bedeutung aufgefasst. Der Rahmen der Antworten bzw. der Rahmen der im Interview interessanten Themen wird durch die Fragen des Interviewers vorgegeben. Der Interviewer „lehrt“ sozusagen dem Befragten die Art der erwarteten Antwort. (Vgl. Mishler 1986: 53ff.) Da die Formulierung einer Frage einen solch großen Einfluss auf die Antwortdarstellung des Befragten hat, muss sie wohlüberlegt und durchdacht gewählt werden.

Bei der Formulierung einer Nachfrage muss der Interviewer unterscheiden, was er wissen will und was er fragen muss, um relevante Antworten zu bekommen. Der Interviewer möchte das Wissen des Befragten zu seiner Forschungsfrage erfahren. Den Befragten würde es überfordern, wenn er diese Forschungsfrage während des Interviews gestellt bekäme. Deshalb muss diese relativ spezifische Forschungsfrage zu sehr konkreten, aber dennoch offenen, Fragen operationalisiert werden, damit sie durch den Befragten zu beantworten sind. (Vgl. Gorden 1992: 14) Da der Interviewer sich auf die Antworten des Befragten bezieht, muss er die Forschungsfrage während des Interviews ständig und spontan, auf die Ansprüche und Antworten des Befragten abstimmen operationalisieren und formulieren. (Vgl. Hopf 1978: 111)

Die Fragen müssen sich zudem auf den richtigen Zeithorizont, auf das richtige Thema und auf die richtige Dimension der Erfahrung beziehen. (Vgl. Gorden 1992:16) Die drei Dimensionen von Erfahrung sind Handeln, Gedanken und Gefühle. (Vgl. ebd.: 15) Jede einzelne davon sollte durch Fragen angesprochen werden. Die Annahme, dass Fakten leichter zu erzählen sind als Gedanken und Gefühle ist nicht korrekt. Es ist von der Situation abhängig, inwieweit es einem Befragten leichter oder schwerer fällt. Der Interviewer muss demzufolge abgleichen, welche Dimension erfasst werden muss, welche schon erfasst wurde, wo noch nachgefasst werden muss und anschließend entsprechend reagieren. (Vgl. ebd.: 154) Idealerweise beziehen sich die Nachfragen auf die Antworten und Vorgaben des Befragten und werden flexibel aus dessen Antworten und aus den Antwortrichtungen entwickelt. (Vgl. Seidman 2006: 81, Kvale 2009: 140) Durch dieses Vorgehen erreicht man, dass sich die Abfolge des Interviews eher nach den Antworten des Befragten richtet, als nach der Reihenfolge der Fragen auf dem Leitfaden. (Vgl. Hopf 1978: 104)

- Hopf (1978: 104) beschreibt, dass ein unerfahrener Interviewer die Struktur des Leitfadens dem Befragten aufgedrängt und die geplante Abfolge einhält. Äußerungen des Befragten werden „in dem spezifischen Gesprächszusammenhang blockiert beziehungsweise zurückgestellt“ (Ebd.).

Der Interviewer sollte in seinen Nachfragen die Worte des Befragten nutzen. (Vgl. Dean 1954: 290) Da die Begriffe dem Befragten bekannt sind, weiß er, worauf er sich im Folgenden beziehen soll. Durch die Entwicklung der Fragen aus den Antworten und die Verwendung der Begriffe des Befragten, zeigt der Interviewer dem Befragten, dass er zuhört, die Antworten für ihn von Interesse sind und , dass er mehr über die Gedanken und Erfahrungen des Befragten wissen möchte. Diese Aufmerksamkeit seitens des Interviewers motiviert den Befragten, weiter zu antworten. (Vgl. Gorden 1992: 145, Dean 1954: 297, Maindok 2003: 182) Fragen des Interviewers sollen den Befragten zu Antworten motivieren. Dies ist ein weiterer Anspruch an das Frageverhalten des Interviewers. Dadurch wird der Befragte eher Willens aber auch in der Lage sein, Fragen zu beantworten. (Vgl. Gorden 1992: 23) Dementsprechend sollte alles, was den Willen oder die Fähigkeit des Befragten eine Antwort zu geben, negativ beeinflusst und damit die Antwort hemmt, vermieden werden. Folgende Elemente können Antworten hemmen: 1) Unfreiwillige Teilnahme (Vgl. Gorden 1980: 92); 2) Konkurrenz zu anderen Beschäftigungen, denen in dieser Zeit nachgegangen werden könnte; (Vgl. ebd.); 3) Bedrohung des Selbstwertgefühls: die wahre evtl. auch unangenehme Antwort ist vor dem Befragten selbst versteckt, da sie das Selbstwertgefühl bedroht. Oder der Befragte antwortet nicht, da die Antwort seinen öffentlichen Status in Frage stellen würde. (Vgl. ebd.: 93); 4) Etikette, verhindern, dass in bestimmten Situationen bestimmte Dinge, wenn sie den Etiketten nicht entsprechen, erzählt werden. (Vgl. ebd.: 96f.); 5) Vergessen, Erinnerungen sind dem Befragten nicht präsent (Vgl. Seidman 2006: 88); 6) Nicht Wissen, besonders bei Fragen, die sich auf die Zukunft beziehen oder nach Zahlen und Fakten (Vgl. Gläser 2009: 184); 7) Das Wort „wichtig“: der Interviewte soll nicht nur Wichtiges erzählen, sondern sich auch gerade an Unwichtiges erinnern und dies mitteilen. (Vgl. Helfferich 2005: 98)

Ähnlich, wie bestimmte Elemente Antworten des Befragten hemmen können, gibt es Elemente, die Antworten des Befragten anregen können. Das sind 1) Überlegte Fragen des Interviewers, regen den Befragte an, sich mit seinen Antworten genauso überlegt und intensiv zu beschäftigen. (Vgl. Mishler 1986: 97); 2) Selbsterfüllende Prophezeiung: wenn der Interviewer die Erwartung signalisiert, Informationen vom Befragten zu erhalten, wird diese Erwartung erfüllt. (Vgl. Gorden 1980: 108, 323f.); 3) Anerkennung des Wissens des Befragten und seine Bedeutungsrelevanzen und Loben der Antworten und Bemühungen des Befragten. (Vgl. Gorden 1980: 110); 4) Selbstlosigkeit des Befragten fördern: verdeutlichen, dass das Preisgeben für den Befragten unangenehmer Informationen anderen helfen kann. (Vgl. Gorden 1980: 110); 5) Empathie zeigen: verdeutlicht, dass die Antworten gehört und geschätzt werden bzw. bedroht das Selbstwertgefühl des Befragten weniger. (Vgl. Gorden 1992: 26f., Gorden 1980: 112); 6) Interview als neue Erfahrung für den Befragten: wird dem Befragten der Sinn und die Bedeutung des Interviews gegeben, wird er motiviert zu antworten. (Vgl. Gorden 1980: 112-117)

Um relevante, komplette und valide Antworten vom Befragten zu erhalten sollten in einem Interview die antworthemmenden Elemente reduziert und die antwortfördernden Elemente verstärkt werden. Optimal wäre es z.B. die Bedrohung des Selbstwertgefühls sowie das Vergessen zu minimieren und gleichzeitig die Fragen mit Bedacht zu wählen, die Antworten des Befragten anerkennen und Empathie gegenüber dem Befragten zu zeigen.

- Laut Gorden (1980: 108) gelingt es dem unerfahrenen Interviewer nicht so gut, die antwortfördernde selbsterfüllende Prophezeiung einzusetzen. Er stellt zwar seine Frage, zeigt jedoch z.B. durch seine Körpersprache, dass er nicht so selbstbewusst ist, eine Antwort zu erwarten.
- Ein erfahrener Interviewer nutzt eher die Möglichkeit, den Befragten seine aufrichtige Anerkennung zu zeigen, lobt die Antworten eher und erklärt die Einzigartigkeit des Wissens des Befragten. (Vgl. ebd.: 110)

Zusammengefasst sollen Fragen relevante, komplette und valide Antworten des Befragten ermöglichen. Die Reichweite, Spezifizität und Tiefe der Antworten sollte maximiert werden und der personale Kontext zu den Antworten herausgearbeitet werden. Dabei ist die Balance zwischen Reichweite und Tiefe bzw. Spezifizität zu halten. Dem Befragten soll durch nicht zu spezifische, aber dafür konkrete Fragen aufgezeigt werden, welche Informationen noch benötigt werden. Weiterhin sollen für die Forschungsfrage und dem Befragten relevante Fragen gestellt werden. Die Nachfragen sollten möglichst aus den Antworten und Antwortrichtungen des Befragten heraus entwickelt werden und den Befragten in die Lage versetzen und seinen Willen stärken, zu antworten.

Im nächsten Teil der Arbeit sollen konkrete Arten von Fragen und ihre Folgen bzw. Bedeutungen erläutert werden.

2.2.3.6 Typen und Wirkung von Fragen

Die Fragen des Interviewers aber auch sein Verhalten beeinflussen die Antworten des Befragten. Beide Sachverhalte regulieren die Beziehung zwischen Interviewer und Befragten, den Kommunikationsfluss und haben eine instrumentelle Wirkung. (Vgl. Maindok 91ff.) Wie auch für die einleitende Frage gültig, gibt es auch keine richtigen und keine falschen Nachfragen. Abhängig von der Nachfrage werden unterschiedliche Antwortmöglichkeiten eröffnet. (Vgl. Kvale 2009: 140) Je nach Antwort des Befragten und der zu erfassenden Informationen müssen vom Interviewer passende Fragen gestellt werden. Das Wissen um die Wirkung von Fragen und um die Wirkung von bestimmten Verhaltensweisen ermöglicht dem Interviewer, Fragen und auch das Verhalten besser zu regulieren und bewusster anzuwenden. (Vgl. Gorden 1980: 76) Durch dieses Wissen und durch Erfahrung wird der Interviewer dazu befähigt, Fragen im Interview spontan so zu stellen, dass er eine adäquate Antwort erhält. (Gläser 2009: 120)

Insgesamt gibt es die unterschiedlichsten Arten von Nachfragen, welche die Darstellungsform des Wissens des Befragten beeinflussen. (Vgl. Maindok 2003: 178f.) Allgemein können Fragetypen nach inhaltlichen und nach funktionalen Aspekten unterschieden werden. (Vgl. Gläser 2009: 130)

Inhaltliche Aspekte einer Frage können nach dem Gegenstand der Frage und nach dem Inhalt der Frage untergliedert werden. (Vgl. Gläser 2009: 130) Gegenstandsbezogene Fragen können realitätsbezogen und hypothetisch sein. Realitätsbezogene Fragen beziehen sich auf einen realen Gegenstand. Hypothetische Fragen verlangen nach der subjektiven Theorie des Befragten bzw. die Meinung und Prognose des Befragten über einen angenommen Sachverhalt. Eine hypothetische Frage ist daher an Stellen angebracht, an der Erzählungen angeregt bzw. Antworten ausgelöst werden sollen, die nicht mit direkten Fragen zu erhalten sind, z.B. wenn man Annahmen des Befragten über Kausalzusammenhänge im Untersuchungsfeld bzw. Wertvorstellungen erfahren möchte. Zu beachten ist hier, dass sich die Antwort nicht auf die tatsächlich erlebte Realität bzw. eine bewusste Einstellung des Befragten beziehen, sondern lediglich freie Spekulationen bleiben. Das tatsächliche Handeln oder auch Denken in einer realen Situation wird dabei nicht erfasst, denn Gedanken weichen meist vom tatsächlichen Handeln ab. Als hypothetische Frage gilt die sogenannte Simulationsfrage. Hier wird dem Befragten durch die Simulation einer Beobachtung eine starke Erzählanregung gegeben. Schwer kommunizierbare Sachverhalte, wie z.B. informelle Regeln in einer Lerngruppe können somit einfacher erfasst werden. (Vgl. Gläser 2009: 124f.) Unterscheidet man die Fragen nach dem Inhalt, so können Meinungsfragen und Faktfragen gestellt werden. Faktfragen beziehen sich meist auf nachprüfbare Gegebenheiten, wie Erfahrungen, Wissen und Hintergründe bzw. demographische Fakten. Soweit die Fakten in kurzen Frage-Antwort-Sequenzen erfasst werden können, sollten sie in einem Kurzfragebogen erfasst werden. (Vgl. Gläser 2009: 122f.) Meinungsfragen verlangen eine subjektive Stellungnahme des Befragten, z.B. über seine Einstellungen oder Bewertungen von Personen, Situationen und Prozessen. Diese Antworten sind kaum überprüfbar, da sie persönliche Konstruktionen darstellen. Zu beachten ist hier, dass Meinungsfragen nach einer Antwort verlangen, die Aspekte der Persönlichkeit des Befragten freigeben. Die Gefahr der sozialen Erwünschtheit ist somit bei solchen Fragen relativ groß. (Vgl. ebd.: 123f.)

Auf der anderen Seite gibt es Fragen, die nach funktionellen Aspekten untergliedert werden können. Diese Fragen können genutzt werden, um die Reichweite oder Spezifizität und Tiefe des Gesagten zu vergrößern. Dadurch bestimmen diese Fragen wesentlich die Struktur und Thematik des Interviews. Wie in den vorherigen Kapiteln erläutert, ist es optimal, dem Befragten einen großen Freiraum zuzulassen und ihm die Führung durch die Themen zu überlassen, sodass alle für ihn relevanten Aspekte und Bedeutungen ausreichend dargestellt werden können. Gleichzeitig sollen alle Gedanken zum forschungsrelevanten Thema durch den Befragten ausgedrückt werden. Diese Steuerung sollte der Interviewer mit Hilfe funktionaler Nachfragen übernehmen. (Vgl. Gorden 1992: 147)

Eine erste Methode für den Interviewer den Befragten zu Antworten zu verleiten, ohne ihn in eine besondere Richtung zu lenken, ist das bewusste Einsetzen von Pausen. Vorteile davon sind: dem Befragten wird ausreichend Zeit für eine überlegte Antwort gelassen, er wird nicht in seinem Gedankenfluss unterbrochen bzw. nicht in eine bestimmte Antwortrichtung gelenkt, das Frage-Antwort-Tempo wird deutlich reduziert und eine Atmosphäre, die zum Nachdenken anregt wird geschaffen. (Vgl. ebd.: 149) Für den Interviewer ist diese Pause hilfreich, um über seine folgende Art der Nachfrage nachzudenken. Hat der Befragte zu seiner Antwort nichts weiter zu ergänzen, kann der Interviewer die nächste Nachfrage stellen. (Vgl. ebd.: 150) Stille kann auch entstehen, nachdem eine Frage gestellt wurde. Eine Pause nach einer Frage ist nichts Ungewöhnliches, es kann nicht davon ausgegangen werden, dass dem Befragten die Antwort sofort präsent ist. Da in einem qualitativen Leitfadengespräch überlegte Antworten erwünscht sind, muss der Interviewer an dieser Stelle geduldig sein und die Überlegungen des Befragten abwarten. (Vgl. Hermanns 2005: 365)

- Maindok (2003: 172) und Gorden (1992: 72,147) stellen dar, dass der unerfahrene Interviewer unsicherer ist, mit dieser Stille umzugehen, Pausen kann er schwer tolerieren. Er unterbricht den Befragten eher in seinen Überlegungen durch eine Nachfrage oder neue Frage.
- Nach einer Frage lässt der unerfahrene Interviewer dem Befragten oft nicht ausreichend Zeit zum Nachdenken, bevor er seine Frage noch einmal stellt, ergänzt oder ein Beispiel gibt. (Vgl. Maindok 2003: 172)

Auch die Ermunterung durch Worte, Laute und Gesten seitens des Interviewers kann den Befragten zu einer weiteren Antwort anregen bzw. den Erzählfluss aufrechterhalten, ohne ihn zu stark zu lenken. Dem Befragten wird damit gezeigt, dass der Interviewer zuhört, akzeptiert was der Befragte erzählt und der Befragte weiter erzählen soll. (Vgl. Gorden 1992: 150)

Nachfragen, die um ein sofortiges Vervollständigen bestimmter Aspekte der Antwort bitten, kontrollieren das Thema deutlicher. Dabei wird dem Befragten mitgeteilt, dass er mehr Details oder Beispiele zum relevanten bzw. aktuellen Thema erzählen soll. (Vgl. ebd.: 151)

Da man die vom Befragten erzählten „Sachverhalte und Problemsichten in ihrem situativen Kontext und ihrem Sinnzusammenhang (. . .) verstehen bzw. (. . .) rekonstruieren“ (Przyborski/Wohlrab-Sar 2009: 143) möchte, ist es notwendig, die Antworten des Befragten von Zeit zu Zeit zusammenzufassen und zu interpretieren, sowie Verständnisfragen zu stellen. (Vgl. Flick 2009: 211) Für die Zusammenfassung sollte das Gesagte mit den Worten des Befragten durch den Interviewer zeitweise subsumiert werden. Der Interviewer kann damit aufzeigen, inwieweit das Wissen des Befragten bisher rekonstruiert wurde. Wird die Zusammenfassung als Frage formuliert kann der Befragte darauf reagieren. Er kann die Zusammenfassung bestätigen bzw. ein Feedback geben inwieweit der Interviewer das Gesagte richtig verstanden hat oder nicht und gegebenenfalls die Zusammenfassung ergänzen oder berichtigen. (Vgl. Maindok 2003: 171) Für die Interpretation gilt Ähnliches wie für die Zusammenfassung. Der einzige Unterschied ist, dass dem Gesagten eine Schlussfolgerung bzw. ein anderer Bezugsrahmen hinzugefügt wird. (Vgl. Gorden 1992: 162) Um diese Form der Nachfrage erfolgreich einzusetzen, muss die Interpretation auf dem Gesagten basieren, vorsichtig formuliert werden und der Befragte muss bereit sein, das Gesagte offen zu reflektieren. Nicht jeder Befragte wird Interpretationen des Interviewers als falsch aufzeigen, wenn das der Fall ist. Dadurch können die Interpretationen einen starken Einfluss auf die Antwort des Befragten haben und müssen deshalb mit Bedacht eingesetzt werden. (Vgl. ebd.: 163) Sofortige Verständnisfragen sollen gestellt werden, wenn der Interviewer etwas nicht genau versteht. Dafür wird der Befragte um weitere und/oder speziellere Informationen bzw. Details zu einem bestimmten Aspekt oder Situation gebeten. (Vgl. ebd.: 151f.) Um die Sinneszusammenhänge zu verstehen, ist es nicht nur wichtig die offensichtliche Verständnisfragen zu klären, der Interviewer muss auch „scheinbare[n] Selbstverständlichkeiten und Verallgemeinerungen auf den Grund (. . .) gehen“ (Vgl. Froschauer/Lueger 2003: 60).

- Laut Gorden (1992: 163) sind die Interpretationen des unerfahrenen Interviewers weniger vorsichtig und eventuell mit unbegründeten Vorurteilen und Annahmen durchsetzt.
- Kvale (2009: 164ff.) beschreibt, dass ein erfahrener Interviewer die Bedeutungen der Antworten schon im Verlauf des Gesprächs klärt, d.h. er bietet Interpretationen an und lässt sie bestätigen, erweitern und/oder zurückweisen. Dadurch ist das Interview fast selbsterklärend, keine weiteren Erläuterungen zu dem Gesagten sind notwendig.
- Kvale (2009: 164) stellt dar, dass ein unerfahrener Interviewer die Bedeutungen der Antworten des Befragten weniger umfangreich klärt.

Das sofortige Vervollständigen von Fragen bzw. eine sofortige Verständnisfrage resultiert oft in Detailfragen und kurze Antworten können hier die Folge sein. Der Interviewer sollte nicht zu viele detaillierte Fragen stellt, um den Erzählfluss des Befragten aufrecht zu erhalten. (Vgl. Gläser 2009: 125f.) Um das Problem von Detailfragen und daraus folgenden knappen Antworten des Befragten zu umgehen, können Fragen zur Vervollständigung bzw. zum Verständnis rückblickend gestellt werden. Das rückblickende Vervollständigen heißt, der Befragte soll etwas zu dem an einem früheren Zeitpunkt Gesagten erzählen bzw. auf vorher genannte Aspekte ausführlicher eingehen. Das ist vor allem notwendig, wenn sich anfangs weniger wichtige Inhalte als, für den Befragten bzw. die Forschungsfrage, relevant herausstellen. Bei rückblickenden Verständnisfragen wird der Befragte um mehr Details zu zurückliegenden Antworten gebeten. Die Aufgabe des Interviewers ist, sich wesentliche Aspekte merken zu können, bzw. sich Notizen zu machen, zu welchen Inhalten an späterer Stelle nachgefasst werden sollte. Der Interviewer muss während des Interviews entscheiden, inwieweit er sofort nachfasst, wenn es z.B. den Redefluss nicht stört oder die Nachfrage für einen späteren Zeitpunkt aufhebt. (Vgl. Gorden 1992: 152)

Wenn die Antwort des Befragten durch den Interviewer als relevant, komplett und valide eingeschätzt wird, kann ein neues bzw. produktiveres Thema eingeführt werden. Dazu kann entweder zu einem anderen bzw. neuen Thema übergeleitet werden oder ein schon besprochenes Thema wiederaufgenommen werden. Da der Befragte an dieser Stelle umdenken muss, ist es wichtig eine adäquate Überleitung zu finden, die möglichst an das Erzählte anschließt. (Vgl. Gorden 1992: 152, Dean 1954: 292f.)

- Der unerfahrene Interviewer hält sich eher an den Leitfaden, als auf die Antworten des Befragten einzugehen. (Vgl. Gorden 1992: 12) Die Struktur und Richtung des Interviews wird durch den unerfahrenen Interviewer stärker geprägt als durch den Befragten. (Hopf 2005: 359) Aus Unsicherheit hängt der Unerfahrene starrer am Leitfaden und arbeitet ihn, an den Relevanzstrukturen des Befragten vorbei, ab. (Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sar 2009: 141) Dadurch produziert der unerfahrene Interviewer mehr Brüche innerhalb eines Themas und einen häufigeren Themenwechsel. (Vgl. Gorden 1992: 94)
- Der unerfahrene Interviewer nutzt eher weiterführende Fragen und hakt die Antworten geschäftsmäßig mit einem „gut“ ab. (Vgl. Helfferich 2005: 95) Dadurch ist das Interview kürzer, weniger komplett, valide und oberflächlicher. (Vgl. Gorden 1992: 152)
- Laut Gorden (1992: 146ff.) schafft der unerfahrene Interviewer durch viele, spezifische und detaillierte Nachfragen eine Abhängigkeit des Befragten. Er lässt ihm kaum Raum zum Nachdenken und die Antworten des Befragten fallen kürzer aus.

Die Entscheidungen über die Art der Nachfragen und die damit verbundene Strukturierung des Gesprächs für den Befragten sollten von dem Interviewer während des Gesprächs flexibel und spontan getroffen werden. Inwieweit der Befragte Strukturierungsvorgaben benötigt, hängt von seiner Persönlichkeit ab. Da der Befragte den Verlauf des Gesprächs steuern sollte, muss abgewartet werden, „ob und in welche Maße ein Befragter von sich aus verbalisiert und strukturiert“(Hopf 1985: 165) und im nächsten Schritt kann „dann die entsprechende Strukturierung in ihrer Dosierung darauf abgestimmt“ (Helfferich 2005: 34) werden. (Vgl. Maindok 2003: 79, Helfferich 2005: 34) In diesem Zusammenhang ist es zum Beispiel wichtig, dass der Interviewer Abschlussmarkierungen - „Ich wüsste nicht, was ich da jetzt noch sagen soll.“ -, indirekte Markierungen - „So war das dann eben.“ -, und teilweise indirekte Weiterfrag-Aufforderungen - „Darüber kann man noch viel mehr erzählen.“ - des Befragten erkennt und entsprechend darauf reagiert. (Vgl. Helfferich 2005: 62)

Es gibt verschiedene Arten von spezielleren Nachfragen. Sie sind speziell, da sie ganz bewusst und durchdacht in einem Interview angewandt werden müssen. Dazu zählen neben den in den vorherigen Kapitel erläuterten Nachfragen, wie z.B. die Interpretation, Plattformfragen, das Rekapitulieren, Gefühle/Laute reflektieren, die indirekte Provokation, die Konfrontation und heikle Fragen.

Plattformfragen bestehen aus zwei Teilen. Im ersten Teil wird eine Aussage getätigt, z.B. eine Definition von Fraginhalte, um daran anschließend die eigentliche Frage zu stellen. Diese Art der Frage dient dazu, den Befragten in eine andere Zeitperspektive hineinzuversetzen, ihm einen räumlichen Bezug oder Fakten zu geben, die er zur Beantwortung seiner Frage benötigt. (Vgl. Gorden 1992: 28f.)

Das Rekapitulieren bezieht sich auf bereits erzählte Inhalte, indem eine ähnliche, aber im Wortlaut etwas anders formulierte Frage gestellt wird. Das Erzählte wird noch einmal rekapituliert, jedoch mit neuen Informationen und Details versehen, die beim ersten Erzählen noch nicht relevant waren. Mit Hilfe diese Frageform müssen vermindert Nachfragen gestellt werden, der Befragte wird weniger unterbrochen und er kann nach eigenem Ermessen das Erzählte detaillieren. (Vgl. ebd.: 158f.)

Um Gefühle des Befragten zu reflektieren, sollte das genannte, gefühlsgeladene Wort (bzw. Wortgruppe, z.B. traurig und erschöpft) vom Interviewer wiederholt und nach dessen Detaillierung gefragt werden. Indem der Interviewer das für den Befragten wichtige Wort aufnimmt, zeigt er Sympathie mit dessen Gefühlen. Der Befragte kann, bezogen auf das Wort, nach seinem eigenen Bedeutungshorizont ins Detail gehen. (Vgl. ebd.: 159f.)

Es kommt vor, dass der Befragte auf eine Nachfrage oder einen Kommentar des Interviews lacht, ein Schnaufen oder andere Laute von sich gibt. Indem der Interviewer den Hintergrund dieser Laute erfragt, z.B. „Sie haben nach meiner Frage gelacht?“, können wertvolle Bedeutungen erfasst werden. (Vgl. Seidman 2006: 90)

Eine Konfrontation ist eine Aussage, die Widersprüche und Ungereimtheiten in Erzählungen des Befragten aufzeigt. Anschließend wird der Befragte aufgefordert, jene Aussage zu klären. Diese Art der Nachfrage soll den Befragten nicht attackieren, sondern ihm helfen, Gesagtes noch einmal zu rekapitulieren. (Vgl. Flick 2009: 211) Grundsätzlich hat der Befragte immer recht hat, weshalb dessen Aussagen nicht als Unwahrheit dargestellt werden dürfen. In der Auswertung sollte auf solche Widersprüche geachtet werden, denn diese Falschinformationen werden meist nicht zufällig gegeben. Der Sinn dieser Falschinformation muss daher in der Interpretation herausgearbeitet werden. (Vgl. Froschauer/Lueger 2003: 59)

- Ein erfahrener Interviewer nimmt nicht alles was der Befragte erzählt unreflektiert auf, sondern fragt auch kritisch. (Vgl. Kvale 2009: 167)

Eine indirekte Provokation kann den Befragten mit Problemen oder Positionen konfrontieren, die dessen Ansichten widersprechen, indem z.B. Dritte oder der Forschungsstand zitiert wird. Der Befragte gerät damit in einen Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck die ihn zu einer Wertung eines Sachverhaltes zwingt. Diese Form der Frage sollte nur zu bestimmten Zwecken und sparsam eingesetzt werden, da ein hohes Risiko bezogen auf die Reaktion des Befragten, wie z.B. ein Abbruch des Interviews, besteht. (Vgl. Gläser 2009: 126f.)

Heikle Fragen beziehen sich meist auf ein Thema oder einen Gegenstand, über den nicht gern gesprochen wird. Der Interviewer sollte hierzu Hilfen zur Hand nehmen, wie er mit einem eventuellen Widerstand des Befragten, relevante Informationen zu geben, umgehen kann. (Vgl. Gorden 1980: 541) Die heiklen Themen können enttabuisiert werden, indem sie als weniger heikel dargestellt werden. Der Interviewer kann naiv fragen oder zeigen, dass bereits Informationen zu diesem Thema vorhanden sind, z.B. durch andere Befragte. Die Antwort auf eine heikle Frage wird erleichtert, wenn die Anonymität der Daten zugesichert wird oder auch angeboten wird, die Aufnahme zu unterbrechen. Wenn es sich anbietet, kann der Interviewer den heiklen Gegenstand erst einmal nicht weiter verfolgen, um ihn im späteren Verlauf des Interviews noch einmal aufzugreifen. Dadurch wirkt der heikle Gegenstand vertrauter und weniger heikel. (Vgl. Gläser 2009: 182f.) Falls der Befragte trotzdem eine Antwort verweigert, muss der Interviewer dem Befragten das Gefühl vermitteln, dass dies akzeptiert wird, dadurch weder für ihn noch für das Gesprächsklima negative Konsequenzen folgen werden und weiter im Interview fortfahren. (Vgl. ebd.: 186) Weniger angebracht ist es, auf ein heikles Thema nicht einzugehen, um den Befragten zu schonen. Erstens wird ihm dadurch das Gefühl vermittelt, dass er im Interview nicht alles sagen sollte und zweitens können die so nicht erfassten Inhalte relevant für die Forschungsfrage sein. (Vgl. Hermanns 2005: 365) Der Interviewer sollte dem Befragten an dieser Stelle zeigen, dass er in der Lage ist, die Wahrheit des Befragten professionell aufzunehmen. (Vgl. ebd.: 368)

- Ein unerfahrener Interviewer besitzt noch nicht die Fähigkeit, die Fragen spontan zu stellen um eine adäquate Antwort zu erhalten. (Vgl. Gläser 2009: 120)

Diese in dem Teil der Arbeit aufgeführten Fragearten und ihre Folgen muss der Interviewer kennen und in der Lage sein, sie durchdacht einzusetzen. Dadurch können nicht nur die für die Forschungsfrage relevanten Themen erfasst werden, sondern auch die des Befragten. Abgesehen von dem richtigen Einsetzen verschiedener Fragtypen, sind noch weitere Aspekte für ein erfolgreiches Interview zu beachten und zu diskutieren.

2.2.4 Sonstige Ansprüche an ein Interview

Weitere Anforderungen die der Interviewer in einem qualitativen Interview beachten sollte betreffen die Art und Weise des Sprechens, die Beziehung zwischen Interviewer und Befragten, die Einstellung und Meinung des Interviewers, sowie den Umgang mit auftretenden Problemen.

Unter die Art und Weise des Sprechens fallen die Lautstärke und das Tempo des Erzählens. Beides sollte den Umständen angemessen sein. Je nach Notwendigkeit und an den Befragten angepasst, kann der Interviewer das Tempo des Gesprächs durch das eigene Sprechtempo zurücknehmen oder beschleunigen. Insgesamt sollte die Geschwindigkeit weder dauerhaft zu schnell noch zu langsam sein, damit das Interview weder hektisch noch ermüdend für den Befragten wirkt. (Vgl. Gorden 1992: 72) Der Interviewer sollte weder zu leise noch zu lautem reden, sondern so, dass der Befragte alles deutlich versteht, aber auch keinem Stress durch zu lautes Reden ausgesetzt wird. Da durch die Betonung von Worten und durch die Stimmlage und Lautstärke werden Emotionen und Bedeutungen weitergegeben, sollte der Interviewer auf die eigene Betonung und Lautstärke aber auch die des Befragten achten und gegebenenfalls darauf reagieren. (Vgl. Gorden 1980: 318f.)

- Ein angemessenes Tempo zu halten, ist erlernbar. (Vgl. Gorden 1992: 75)
- Dem erfahrenen Interviewer gelingt es besser, den Befragten seine eigene Art und Weise des Sprechens finden zu lassen. (Vgl. Kvale 2009: 166)
- Weiterhin hört der erfahrene Interviewer nicht nur was der Befragte sagt, sondern auch wie er es sagt und geht darauf ein. (Vgl. ebd.: 166f.)

Der Interviewer muss sich bewusst sein, dass die Beziehung zwischen ihm und dem Befragten nur zum Zweck des Interviews aufgebaut wird und mit dem Ziel, Wissen über die menschliche Situation des Befragten zu erlangen. (Vgl. ebd.: 54) Eine gute Beziehung und gleichzeitig maximaler Informationsgewinn wäre für den Interviewer und Befragten aber auch für das Forschungsziel optimal. Eine gute Beziehung kann der Interviewer herstellen, indem er keine weiteren einseitigen Fragen stellen würde, was mit dem Ziel des Interviews nicht vereinbar wäre. Deshalb muss die Beziehung zwischen Interviewer und Befragtem nur so gut gestaltet werden, dass der Informationsfluss nicht gestört wird und gleichzeitig relevante Informationen erarbeitet werden können. (Vgl. Gorden 1980: 85) In dem Maß, wie die Fragen und das Verhalten des Interviewers die Antworten und das Verhalten des Befragten beeinflussen, haben Fragen, Antworten und Verhalten einen Einfluss auf die Beziehung zwischen dem Befragten und dem Interviewer. (Vgl. ebd.: 71f.) Diese am Anfang, durch strukturelle, d.h. soziale, kulturelle, kognitive und emotionale, Faktoren bestimmte Beziehung, kann sich somit im Lauf des Gesprächs sowohl ins Positive als auch ins Negative ändern. (Vgl. Keats 2001: 22) Nicht nur am Anfang des Interviews sondern vor allem im Verlauf können Situationen entstehen, welche die Sympathie oder Empathie gegenüber dem Befragten vermindern. Genauso wie zu Beginn des Interviews, muss sich der Interviewer diesen Emotionen oder auch Antipathie gegenüber dem Befragten bewusst werden und durch ein professionelles Verhalten Empathie und Sympathie aufrecht erhalten. Es ist nicht notwendig das Handeln oder Verhalten des Befragten zu entschuldigen. Für ein professionelles Verhalten muss aber Verständnis für die Situationen des Befragten entwickelt und Mitgefühl gezeigt werden. (Vgl. ebd.: 26f.)

[...]


[1] Die nachfolgend verwendete männliche Form bezieht selbstverständlich die weibliche Form mit ein. Auf die Verwendung beider Geschlechtsformen wird lediglich mit Blick auf die bessere Lesbarkeit des Textes verzichtet. Ausnahme: bezieht sich die Bezeichnung auf eine konkrete Person, wird demensprechend die männliche oder weibliche Form genutzt.

[2] Unter Realität wird in dieser Arbeit verstanden, dass sie unabhängig von der menschlichen Existenz und Psyche besteht. Der Begriff der Wirklichkeit bezeichnet die individuell konstruierte und subjektiv empfundene Realität. (Vgl. Steinke 1999: 89ff.)

[3] Deshalb wird im weiteren Verlauf auf allgemeine Literatur zu einem qualitativen Interview, vor allem auch zu den Ansprüchen an einen Interviewer, herangezogen.

[4] Das spezielle Verhalten von unerfahrenem und erfahrenem Interviewer muss explizit in der Literatur genannt werden, um aufgeführt zu werden. Wird nur der Anspruch an sich dargestellt, so wird davon ausgegangen, dass der erfahrene Interviewer sich an diese Ansprüche hält und der unerfahrene nicht.

[5] Falls die erste Begegnung zu Beginn des Interviews ist, muss das Schaffen einer positiven Einstellung zum Befragten in kurzer Zeit gelingen.

[6] Da „Einstiegs-“ und „Nachfragen“ Unterkategorien von „Fragen“ darstellen, gelten sowohl für „Fragen“, also auch für „Einstiegs-„ und „Nachfragen“ ähnliche Ansprüche. Der Begriff „Nachfrage“ bzw. „Einstiegsfrage“ wird synonym zu dem Begriff „Frage“ verwendet. In diesem Abschnitt werden zuerst die Ansprüche an eine „Einstiegsfrage“ dargestellt, die auch auf andere Formen von Fragen zutreffen. Nach dem Abschnitt über das aktive Zuhören werden die Anforderungen, welche nicht auf die spezielle Form der „Einstiegsfrage“ jedoch generell auf „Fragen“ bzw. „Nachfragen“ zutreffen, diskutiert.

[7] An dieser Stelle sei vermerkt, dass der Interviewer auch auf die Körperhaltung des Befragten im Einklang oder Widerspruch zum Gesagten achten und dementsprechend eingehen sollte. Da die Interviews nur durch Tonband aufgezeichnet werden, wird nicht überprüft, inwieweit der Interviewer diesem Anspruch nachgeht.

[8] Das Darstellen der eigenen Meinung im Interview ist zudem nicht angemessen, da der Befragte in seinen Antworten dadurch beeinflusst wird. Auf diese Problematik wird im nachfolgenden Abschnitt noch genauer eingegangen.

[9] Witzel (2000: 15ff.) untergliedert die Nachfragen in allgemeine und spezifische Sondierung. Die allgemeine Sondierung soll das Erzählte durch entsprechende Fragen weiter detaillieren und durch Erfahrungsbeispiele ergänzen. Die spezifische Sondierung nutzt „das vorgängige oder im Interview selbst erworbene Wissen für Frageideen“ (Ebd.: 17). Die Äußerungen des Befragten werden hier durch Verständnisfragen oder Zurückspiegelung korrigiert oder bestätigt. In dieser Arbeit liegt der Schwerpunkt auf den einzelnen verschiedenen Fragearten und ihre Wirkung und Ansprüche, weshalb keine Unterteilung zwischen allgemeiner oder spezifischer Sondierung erfolgt.

Ende der Leseprobe aus 169 Seiten

Details

Titel
Der Einfluss eines Interviewers in qualitativen Interviews
Untertitel
Der Befragte und dessen Wahrnehmung eines qualitativen Interviews als gemeinsam geteilte Wirklichkeit zwischen ihm und einem erfahrenem/unerfahrenem Interviewer
Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Note
1,3
Jahr
2010
Seiten
169
Katalognummer
V414380
ISBN (eBook)
9783668651364
Dateigröße
1538 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Qualitative Interviews, problemzentriertes Interview, Interviewer, Erfahrung des Interviewers, Wahrnehmung eines qualitativen Interviews als gemeinsam geteilte Wirklichkeit, Einfluss eines Interviewers
Arbeit zitieren
Anonym, 2010, Der Einfluss eines Interviewers in qualitativen Interviews, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/414380

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