Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Universität und Arbeitsmarkt – (k)eine Wahlverwandtschaft
2.1. Neuhumanismus als Leitbild der europäischen Universitätsmodelle
2.2. Motoren der Bildungsexpansion: Chancengleichheit und Wettbewerbsfähigkeit
2.3. Der „aktivierende Staat“ als „Europäisches Sozialmodell“
3. Europäische Hochschulpolitik zwischen Intergouvernementalismus und Supranationalität
3.1. Agenda-Setting
3.2. Startschuss: Die „Sorbonne-Deklaration“
3.3. Bologna und die Folgekonferenzen
4. Vom Selbstzweck zur Selbstverantwortung: Hochschulbildung im „aktivierenden Staat“
4.1. Latente Funktionen der Hochschulreform
4.2. Humboldts Alptraum
5. Zusammenfassung/Fazit 38
Literaturverzeichnis 40
1. Einleitung
„Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“ – so steht es in Artikel 5 des deutschen Grundgesetztes. Was aus heutiger Perspektive so einfach und selbstverständlich klingt, ist in Wahrheit das Ergebnis jahrhundertelanger Auseinandersetzungen um den gesellschaftlichen Stellenwert von Wissenschaft. Dabei gehen einige Universitäten auf eine Zeit zurück, die weit vor der Gründung der Bundesrepublik und anderer moderner Staaten liegt. Seit der Entdeckung des heliozentrischen Weltbildes durch Nikolaus Kopernikus im ausgehenden Mittelalter musste sich das höhere Wissen in Europa immer wieder gegen die Machtansprüche von Kirche, Staat und Adelsfamilien zur Wehr setzten.
Beide Systeme bewegen sich in einer gegenseitigen Abhängigkeit. Während die Herrschenden gerne auf die Errungenschaften der Wissenschaft zurückgreifen, um ihre Macht abzusichern, waren die Forschenden auf eine unterstützende Haltung gegenüber ihrer Lebensweise angewiesen. Damit sie ihrer Arbeit, die für sich allein genommen nur selten zum Broterwerb taugte, ungehindert nachgehen konnten, mussten ihnen die benötigen Mittel und der erforderliche Freiraum bereitgestellt werden. Gleichzeitig waren die Herrschenden darum bemüht, das wissenschaftliche Engagement in einem Maße zu halten, in dem es sich nicht gegen sie wenden konnte. Schon die Verurteilung Sokrates‘ in der griechischen Antike zeigt, wie die philosophische Lehre den Mächtigen gefährlich werden kann - und wer im Zweifelsfall am längeren Hebel sitzt. Autokratische Regime verstanden es, mit entsprechenden Druckmitteln herrschaftskonforme Haltungen zu erzwingen und wissenschaftliche Kapazitäten für ideologische- oder militärische Zwecke zu nutzen. Als Alternative blieb den Wissenschaftlern dann meist nur noch das Exil. Wenn Wissenschaft jedoch als anteilig an bestimmten Interessen wahrgenommen wird, steht der moralische Wert der Wahrheitssuche um ihrer selbst Willen und seine Anwendung zur nachhaltigen Veränderung der Welt in Frage. (vgl. Ben-David 1971: 180). In solchen Fällen litt mit der Integrität des Forschers auch der gesellschaftliche Glaube in die Wissenschaft als Ganzes.
Seither ist die Wissenschaft dazu verdammt, einen Mittelweg zwischen erkenntnistheoretischer Freiheit und der Instrumentalisierung durch die Herrschenden zu finden. Dabei mussten oft Kompromisse gefunden und Zugeständnisse gemacht werden. Anders als Sokrates ging Galileo Galilei, der am 22. Juni 1633 sein Einverständnis mit den Lehren Kopernikus‘ vor der katholischen Kirche widerrufen musste, nicht als Märtyrer in die Geschichtsbücher der Wissenschaft ein. Die einzige öffentlich tolerierte Weltanschauung war damals einer streng religiösen Dogmatik unterworfen. Anhand der Schwierigkeiten, mit dem die Wissenschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt zu kämpfen hat, sind insofern auch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse ablesbar. Wieviel Platz der Wissenschaft letztendlich eingeräumt wird, ist insofern eine Frage von spezifisch- historischen Entwicklungen.
Glücklicherweise gehören Inquisition und drittes Reich mittlerweile dem unschönen Teil der Vergangenheit Europas an. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs stellte die überstaatliche Zusammenarbeit ein Ende der fortwährenden Konflikte in Aussicht. Die hohen Erwartungen an ein europäisches Bündnis stützen sich vor allem auf die Friedensverheißungen von funktionierenden Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Ländern. So sollen auch die gebündelten wissenschaftlichen Ressourcen zentral organisiert und finanziert werden. Alle Bemühungen um eine koordinierte „Modernisierung“ des Wissenschafts- und Hochschulsystems liefen und laufen immer noch unter der Schirmherrschaft des „Bologna-Prozesses“. Seit seinem Beginn im Jahre 1999 ist er Gegenstand der öffentlichen wie wissenschaftlichen Auseinandersetzung.
Dabei wird immer wieder eine Bürokratisierung und Verschulung des akademischen Lehrbetriebs bemängelt, vor deren Hintergrund sich die Universitäten zu modernen „Ausbildungsfabriken“ für Akademiker entwickelt hätten[1]. Anstatt den wissenschaftlichen Fortschritt voranzutreiben, würde die Hochschulreform vor allem der kapitalistischen Wirtschaft zugutekommen. Trotz aller Berechtigung geht diese Kritik jedoch am wahren Kern des hochschulischen Wandels vorbei. Dabei ist neben der Forschung die Berufsausbildung als gesellschaftlicher Funktion von Universität in Europa schon immer existent gewesen, wenn auch in unterschiedlich starker Gewichtung. Ein Schwerpunkt auf letzteres wäre insofern nur eine zeitlich bedingte Variation des Altbekannten. „Aus institutioneller Sicht bleibt die Bestimmung der „public virtues“, der Ausrichtung am Gemeinwohl, der verantwortungsethischen Dimension noch offen, - zumindest solange der universitäre „Output“ nicht auf die ökonomische Zweck-Mittel-Relation reduziert wird, i.e. die Aufgabe der wissenschaftlichen Bildung sich nicht in der passgenauen Befriedigung gesellschaftlicher Qualifikationserfordernisse erschöpft“ (Steinhübel 2011: 164). Ebenjene Reduktion scheint jedoch im Zuge des Bologna Prozess stattgefunden zu haben.
Die Umstellung auf „unternehmerische Universitäten“ (Münch 2011) beschreibt eine Veränderung des Hochschulwesens hin zu einem System permanenter Anpassung an ökonomische Erfordernisse, die mit der wirtschaftlichen Annäherung zum zentralen Thema gesamteuropäischer Politik erhoben worden sind. Auf eine nie zuvor dagewesene Weise ist Hochschulbildung damit in den gesellschaftlichen Produktionsprozess eingebunden. Alle vorangegangenen Auseinandersetzungen, all die Kämpfe um den Stellenwert von Wissenschaft und Universität, werden von den Reformen des „Bologna-Prozesses“ überschattet. Dabei stellt sich die Frage, wie innerhalb weniger Jahre ein politisches Aktionsprogramm eine derartige Wirkung entfalten konnte. „Das Modell einer neuen Universität taucht nur dann auf, wenn eine neue Bildungsidee größere Integrationskraft als die bisher maßgebliche zu entfalten beginnt und weitere Bedingungen, z.B. politische (Athen), soziale (Cluny), theologische (Luther), erkenntnistheoretische (Kant), dies erzwingen.“ (Fischer-Appelt 2011: 92, Hervorheb. im Orig.). Im Folgenden wird die These vertreten, dass die „unternehmerische“ Universität dem politisch- normativen Leitbild der „Aktivierung“ folgt, dass seit den 90er Jahren die Richtung der Sozial- und Bildungspolitik in Europa vorgibt (vgl. Lessenich 2009a). Indem es die Frage nach der Verwertbarkeit und Legitimität von Wissenschaft von der politischen- auf eine subjektive Ebene transportiert, hat es maßgeblich dazu beigetragen, den „europäischen Hochschulraum“ als ein Regime aktivierender Selbstverwaltung neu zu erschaffen.
2. Universität und Arbeitsmarkt – (k)eine Wahlverwandtschaft
2.1. Neuhumanismus als Leitbild der europäischen Universitätsmodelle
Ausgangspunkt für die Entwicklung der europäischen Hochschullandschaft war Ende des 18. Jahrhunderts die gewaltsame Ablösung der theologischen Deutungshoheit durch ein anthropozentrisches Verständnis der Weltzusammenhänge in der Französischen Revolution. Unter dem Regime Napoleons wurden in Frankreich die Universitäten des „Ancien Régime“, die noch eng im Zusammenhang mit der christlichen Kirche gestanden hatten, vollständig abgeschafft und durch staatlich kontrollierte Spezialschulen ersetzt. An den „grandes écoles“ sollte die „Funktionselite“ ausgebildet werden, die die Einheit Frankreichs nach der Revolution politisch wie sozial festigen sollte. Später wurden die Funktionsbereiche weiter ausdifferenziert und die Ausbildung unter spezialisierten Hochschuleinrichtungen aufgeteilt. Während an den Universitäten Rechtswissenschaften, Medizin, Natur- und Geisteswissenschaften gelehrt wurden, waren die „grandes écoles“ für Ingenieurs-, Verwaltungs- und Wirtschaftswissenschaften zuständig. An diesen Ausbildungsstätten wusste man durch strenge Überwachung aller Aktivitäten das Aufkeimen von antiautoritären Strömungen zu verhindern. Im Napoleonischen Hochschulmodell waren Wissenschaftlichkeit, Forschung und Innovation eindeutigen herrschaftlichen Zielen untergeordnet. Weitere europäische Länder, darunter Österreich, Spanien, Italien und Portugal, nahmen sich diesen Ansatz der radikal säkularisierten Hochschule zum Vorbild (vgl. Hehlgans 2010: 277).
Auch in Deutschland sollte zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Hochschulsystem nach französischen Vorbild installiert werden. Dem neu ernannten Leiter des preußischen Unterrichtswesens, Wilhelm von Humboldt, war das Modell jedoch offenkundig zu pragmatisch gestrickt. Humboldt sah im Hochschulwesen vielmehr ein Vehikel der philosophischen Aufklärung und eine Chance für das neuhumanistische Bildungsideal. Nach seiner Vorstellung würde der „höheren Lehranstalt“ in Deutschland bei dem von Immanuel Kant beschworenen „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ als einer von den Interessen der Herrschenden und der Dogmatik der Kirche befreiten Institution eine Schlüsselrolle zukommen. Wo zuvor Gelehrtes meist einfach akzeptiert werden musste, versetze nun die Universität den Bürger dazu in die Lage, den tradierten Wissensstand zu durchdringen, zu hinterfragen und selbst mitzugestalten. Die Art der Wissensvermittlung sollte sich grundsätzlich von der hierarchisch geprägten Schulbildung unterscheiden (vgl. Schelsky 1971: 73). Auch erschöpfen sich Sinn und Zweck der Universität „nicht in der Vermittlung eines unmittelbaren Berufsbezuges, nicht in Ausbildung von Staatsdienern und Untertanen sowie für die speziellen Erfordernisse eines Berufs qualifizierten Fachkräften“ (Würmseer 2010: 28). In dieser Hinsicht sollten die Hochschulen in Deutschland ein Pendant zu den berufspraktisch orientierten Akademien und den Spezialschulen Napoleons darstellen (vgl. Ebert-Steinhübel 2011: 57).
Humboldt möchte spezielle Berufsausbildungen prinzipiell von der Universität ferngehalten wissen, wo man sich einzig und allein dem „reinen Erkenntnisgewinn“ verschrieben hatte. Unabhängig von jeder Zweckbestimmung wird dabei „die Einsicht in das Wahre als etwas immer wieder und unendlich selbst zu Produzierendes erfahren“ (Schelsky 1971: 67). Indem so „das neue Lebens- und Weltgefühl einer „Offenheit“ der Welt, des Menschen und der Zukunft“ (ebd.) transportiert würde, erhält der Mensch einen ungetrübten Zugang zu sich selbst und zu seiner Umwelt. Gleichzeitig bedeute die wissenschaftliche Betrachtungsweise für den Einzelnen zunächst den Zerfall von tragenden Gewissheiten in einer ständig an Komplexität zunehmenden Lebenswelt. Auf seine eigene geistige Fähigkeit zurückgeworfen gebe sich der aufgeklärte Mensch einem permanenten Prozess der geistigen Auseinandersetzung hin, der ihn mit der Erfahrung einer gewissen „Einsamkeit“ in Bezug auf das Weltliche konfrontiert. Nach Humboldt leitet sich hieraus eine gewisse „normative Grundeinstimmung des Lebens“ (ebd.) ab, die Ausgangspunkt der sogenannten „Selbstwerdung“ des Menschen ist: Der freien Entfaltung der Persönlichkeit als einer an den eigens abgeleiteten Idealen ausgerichtete Selbsterziehung zum bewussten und verantwortungsvollen Individuum. Dementsprechend sei die Universität des Neuhumanismus die Geburtsstätte von Kritik, von Widerstand sowie eines freien und öffentlichen Denkens (vgl. Mielich et al. 2011: 15).
„Zentrale Kategorien, mit denen das neu-humanistische Bildungskonzept zu Anfang des 19. Jahrhunderts begründet wurde, waren der mündige Staatsbürger, Nation und Öffentlichkeit – also Gegenkonzepte zu der damals in Deutschland noch vorherrschenden ständischen Ordnung, der Vielstaaterei und der Beschränkung des Zugangs zu sozialer und politischer Teilhabe“ (Bauer et al. 2014: 10). Die Etablierung des höheren Bildungswesens zählt also zu den Voraussetzungen dafür, dass die mit der Idee der Demokratie verbundenen persönlichen Freiheits- und Mitbestimmungsrechte überhaupt gewissenhaft wahrgenommen werden können. Die schrittweise Herbeiführung eines freien und objektiven Blickwinkels und der Austausch in einer „Gemeinschaft der Gelehrten“ an der Universität sind Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung als einem gesamtgesellschaftlichen Emanzipationsprojekt. Eine Aufklärung im Kleinen also, aus deren Saat eine selbstbestimmte Gesellschaft erwachsen kann. Das Saatgut weiterzutragen, ihm ausreichend Zeit und Raum zum Wachsen zu geben, ist die selbsternannte Aufgabe der Universität Humboldts. Umgeben von Gleichgesinnten kann es hier sein volles Potential entfalten. Aus diesem Grund leitet sich die „akademische Einsamkeit“ als notwendige Rahmenbedingung aus dem wissenschaftlichen Auftrag ab. Jeglicher Versuch des „Abrichtens“ des Forschenden zu pragmatischen Zwecken läuft Gefahr, die Entwicklung eines freien Geistes im Keim zu ersticken. Der Versuch der Instrumentalisierung der wissenschaftlichen Praxis hebe unweigerlich die Einsamkeit des „Gelehrten“ auf, weil sie ihn an praktische Interessens- und Berufsgruppen bindet. Daran würde auch das gesellschaftliche Projekt der „reinen“ Wahrheitssuche zu Grunde gehen (vgl. Schelsky 1971: 91).
Einsamkeit bedeutet die Abwesenheit des Gesellschaftlichen. Das Prinzip der „Einsamkeit“ müsse sich von daher über die Hochschule als Ganzes erstrecken. Humboldts Anspruch auf ihre Alleinstellung im politisch-institutionellen Gefüge ist insofern logische Konsequenz des Selbstverständnisses von Universität. An die Herrschenden appellierte er, den entsprechenden Rahmen abzusichern, um den Erhalt der erforderlichen Freiräume nicht zu gefährden. Im Idealfall sollten Hochschulbildung und -forschung unabhängig vom Staatshaushalt direkt durch Beiträge der Bürger finanziert und so ihr Eigenwert dem Volk nähergebracht werden (vgl. Steinhübel 2011: 64). Seiner Forderung nach finanzieller Unabhängigkeit wurde allerdings nie in vollem Umfang stattgegeben. Um zu vermeiden, dass sich an den Universitäten eine um sich selbst kreisende „geistige „Mußeklasse“ absetzen würde behielten sich Autoritäten vor, akademische Bildung in letzter Konsequenz der Wohlfahrt des Staates unterzuordnen. Ein Studium müsse stets auch mit dem Ziel verbunden sein, später einen ordentlichen Platz in der Gesellschaft einzunehmen.
Anders als manch romantische Verklärung nahelegt, war der Zusammenhang von Hochschulbildung und Beruf aber auch schon zu Humboldts Zeiten ins Auge gefasst worden. Ausbildung und Arbeitsfeld waren vielmehr eng miteinander gekoppelt. Ähnlich wie an der „grande école“ bestand die Aufgabe der Universität um 1800 darin, diejenigen Staatsdiener hervorbringen, die in der Justiz, in der Medizin oder an Schulen die Grundwerte des deutschen Rechtsstaates verkörpern (vgl. Münch 2011: 329). Diese sollten jedoch nicht unmittelbar in der universitären Lehre an sie herangetragen werden, sondern würden sich im Laufe der Zeit als Nebeneffekt der akademischen Ausbildung verfestigen. Die Hochschule an sich sei daher Ort der Reifung von Interessen, Bedürfnissen und Fähigkeiten, die dann auf eine bestimmte Berufslaufbahn lenken. „Bildung sollte sein, was dem freien, im eigenen Bewußtsein gründenden, aber in der Gesellschaft fortwirkenden und seine Triebe sublimierenden Individuum rein als dessen eigener Geist zukäme.“ (Adorno 1962: Hervorheb. im Orig,). Wurde den Hochschulen unter Humboldt also weitestgehend freie Hand überlassen, was Aufbau und Verwaltung angeht, so geschah dies im Vertrauen darauf, dass sie im Streben nach ihrem wissenschaftlichen Endzweck auch die „Zwecke der Gesellschaft als Ganzes erfüllen“ würde (Steinhübel 2011: 59). Mit der Einführung der Diplomstudiengänge an den „Technischen Universitäten“ wurden im Jahre 1899 diese Zecke um die Ausbildung von Ingenieuren und Fachpersonal ergänzt. Wie beim Staatsexamen etablierten sich auch in den Naturwissenschaften monopole Berufsbilder mit enger Kopplung zwischen Ausbildung und Beruf, die sowohl den betreffenden zukünftigen Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber ein hohes Maß an Sicherheit boten (vgl. Pollmanns 2016: 42).
Humboldts Universität wurde zum Erfolgsmodell in Europa. Die deutschen Universitäten genossen ab etwa 1860 höchstes Ansehen und brachten Pionierleistungen hervor, welche sich später auch in der hohen Anzahl von Nobelpreisträgern niederschlugen. Grund für diesen Erfolg war die große Vielfalt in der deutschen Hochschullandschaft, in der im Laufe der Jahre die unterschiedlichsten akademischen Profile und Traditionen gewachsen waren und um Ansehen auf dem wissenschaftlichen Feld konkurrierten. Streitmittel dabei war stets der einer bestimmten „Denkschule“ zuzuschreibende Anteil am allgemeinen Erkenntnisfortschritt (vgl. Lanfermann 1991). Dieser Wettkampf um Innovationen trieb die Arbeit innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaften und damit auch den Forschungsstand an sich voran (vgl. Bourdieu 1998). Ausschlaggebend für die „weltweit dominierende Rolle“ des humboldtschen Universitätsmodells sei daher insbesondere die „staatlich geförderte selbstverantwortliche Ausrichtung auf wissenschaftliche Erkenntnis“ und der im Vergleich zu anderen Universitätssystemen bedeutend größere Freiraum gewesen (vgl. Hehlgans 2010: 279).
Nach der Niederlage Napoleons dem dritten im Deutsch-Französischen Krieg nahmen sich Italien, Belgien, Griechenland, Österreich-Ungarn, die Schweiz und Skandinavien das neuhumanistische Modell zum Vorbild. Zuletzt lockerte sich sogar das französische Hochschulwesen zugunsten eines wissenszentrierten Ausrichtung und auch die traditionsreichen Universitäten Großbritannien adaptierten Ende des 19. Jahrhunderts einige Kernaspekte des deutschen Systems. In den meisten west- und mitteleuropäischen Ländern entstanden somit Hochschulsysteme, die neben ihren historisch gewachsenen Besonderheiten in wesentlichen Merkmalen untereinander große Ähnlichkeiten aufwiesen. Die Implementierung des humboldtschen Ansatzes forderte in diesen Ländern vor allem „die Bestimmung der Sozialstruktur, die vom Sozialen her das Individuum grundsätzlich zur personalen Vervollkommnung, zur Individualisierung und zur Selbstbestimmung in einem beträchtlichen Maße freistellt von den sozialen Zwängen, den Gruppenverhaftungen und den sozialen Standards des Verhaltens und Denkens.“ (Schelsky 1971: 95). Damit sich die Eigendynamik des neuhumanistischen Modells überhaupt entfalten kann, muss das Hochschulwesen einen angemessenen Platz in der Gesellschaft einnehmen: Einen „vom Staat garantierter und möglichst vor äußeren Zwecksetzungen geschützter Raum, der alleine der Wahrheitssuche durch Wissenschaft verschrieben ist (…).“ (Jacobs & Sanders 2014: 319f.).
Solch weitreichende politische Gestaltungsfreiräume hatten sich in Europa zuletzt durch den massiven gesellschaftlichen Umbruch nach dem zweiten Weltkrieg eröffnet (vgl. Lessenich 2009a: 69f.). Fast überall herrschte nach dem Ende des Faschismus eine sozialpolitische Aufbruchsstimmung. In Deutschland bekannte man sich in den Grundgesetzten von 1949 zur Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre, die zuletzt so stark unter der Instrumentalisierung durch ein autokratisches Regime gelitten hatten. Das „Goldene Zeitalter“, das nach Kriegsende folgte, eröffnete dem Land die Möglichkeit, seine kulturelle Identität neu zu bestimmen. Von wirtschaftlicher Prosperität und wiedererlangter intellektueller Freiheit beflügelt zog es die geburtenstarken Jahrgänge, die das Dritte Reich hervorgebracht hatte in Scharen an die Universität (vgl. Würmseer 2010: 34f.) Diese Entwicklung wurde damals von Seiten der Politik begrüßt. Typisch für „europäische“ Gesellschaften war ein hohes Maß an gesellschaftlicher Interessenorganisation - auch jenseits der ökonomischen Sphäre - sowie die im Rahmen der politischen Verfasstheit formalisierte Berücksichtigung organsierter gesellschaftlicher Interessen (vgl. Aust et al. 2002: 17). Im Zeichen der wiederauflebenden demokratischen Idee hatte man sich vorgenommen, die in der Bildung realisierten Freiheitsrechte jedem Bürger zugänglich zu machen. Im Zuge dessen wurden überall neue Hochschulen gegründet, die in ihrer Verfassung und Verwaltung freie Hand hatten. Ein breit aufgespanntes Netz sozioökonomischer Absicherung ermutigte darüber hinaus, ein Hochschulstudium aufzunehmen. Die neue Sozialstaatlichkeit stellte Schutz- und gesellschaftspolitische Gestaltungsfunktion ins Zeichen der nationalen Solidarität (vgl. Butterwege 2012: 63ff.). Diese erste große Expansion des Hochschulwesens im Europa der 1950er Jahre war eine Folge der politischen Entwicklungen im 19. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit, auf die von Seiten der Politik mit einem expansiven Sozialstaatsangebot reagiert wurde (vgl. Hadjar & Becker 2006: 12). Das „Leitbild eines Gemeinwesens, das auf Freiheit, rechtlicher Gleichheit und zugleich marktwirtschaftlich wie sozialstaatlich vermittelter Solidarität seiner Bürger beruht“, welches sich in den von Christentum und Aufklärung geprägten westeuropäischen Gesellschaften herausgebildet hatte, wurde zu einem konstitutiven Element des normativen Grundkonsenses europäischer Staaten (vgl. Aust et al. 2002: 282).
2.2. Motoren der Bildungsexpansion: Chancengleichheit und Wettbewerbsfähigkeit
Indem er das Universitätswesen gegen die Strukturzwänge der Wirtschaft abzuschirmen versuchte und innere Freiheiten zuließ, trug der Sozialstaat der Nachkriegsepoche dem humboldtschen Ideal weitgehend Rechnung (vgl. Lessenich 2009b: 135). Die Wissenschaft gestaltete sich in Europa als eigenständiger Bereich, der sich entlang seiner eigentümlichen Pfade entwickeln konnte. Gleichzeitig war der immerwährende Kampf um Macht und Prestige dazu in der Lage, den Wissensfortschritt einseitig in bestimmte Bahnen zu lenken und an anderer Stelle zu blockieren und zu verlangsamen. Auf jahrelange Zurückhaltung in der Hochschulpolitik folgte dann jedoch das „böse Erwachen“ in den westlichen Industrienationen. Ausgehend vom „Sputnik-Schock“ von 1957 sah man erstmals die Notwendigkeit, aktiv in die wissenschaftliche Praxis einzugreifen.
Nachdem der Ostblock auf beeindruckende Weise seinen technologischen Vorsprung zur Schau gestellt hatte, attestierte die neu gegründete „Organisation für ökonomische Kooperation und Zusammenarbeit“ (OECD) insbesondere dem deutschen Bildungssystem einen dringenden Reformbedarf. Innerhalb der Landesgrenzen schürte vor allem Georg Pichts Warnung vor der „Deutschen Bildungskatastrophe“ (1964) die Ängste vor einer Deklassierung im internationalen Leistungswettbewerb. In seinem einschneidenden Werk mahnte der Pädagoge, dass es auf dem Weg in ein postindustrielles Deutschland noch zu wenige Akademiker gäbe, die der im hohen Maße spezialisierten und technisierten Arbeitswelt der Zukunft entgegentreten könnten. Der von ihm attestierte „Bildungsnotstand“ müsse damit unweigerlich einen wirtschaftlichen und sozialen Notstand zur Folge haben, falls nicht rechtzeitig mit entsprechenden Strukturreformen reagiert würde. Als „zentrale Schaltstelle des Bildungssystems“ sei hierfür der Hochschulzugang maßgeblich (Lutz 1979: 639).
Arbeitsmarkt und Hochschule wurden damit zum ersten Mal in eine direkte Zweck-Mittel-Beziehung zueinander gestellt. Die in dem Buch angestoßene Betrachtungsweise des Zusammenhangs von Bildungsprozessen mit der Qualifikation der Arbeitskraft und dem letzten Endes daraus resultierenden gesamtgesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Nutzen inspirierte sogar einen eigenständigen Forschungsbereich, der ab Mitte des 20. Jahrhunderts die Stoßrichtung der Bildungs- und Beschäftigungspolitik nicht nur in Deutschland vorgab (vgl. Würmseer 2010: 35). Die sogenannte „Bildungsökonomie“ errechnet den Nutzen von Investitionen anhand ihrer relativen Erfolgswahrscheinlichkeit, wobei der Wert einer Einrichtung von ihrer Fähigkeit abhängt, wirtschaftlich verwertbaren wissenschaftlichen Fortschritt und berufsfähiges „Humankapital“ zu erzeugen. Besonders die naturwissenschaftlichen Fächer rückten als zukünftiger Garant von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit ins Visier der Bildungsökonomen. Um eine stärkere Bildungsbeteiligung genau dort zu fördern, wo eine hohe Rendite erwartet werden kann, machte man sich zum Ziel, die entsprechenden Studiengänge für die Bürger attraktiver zu machen. „Nicht mehr der Lernende in der Wahrnehmung seiner persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten war die zentrale Referenzgröße von Bildungsbemühungen, sondern die wirtschaftliche Verwertbarkeit der erworbenen Qualifikationen“. (Bauer et al. 2014: 11).
Während Georg Pichts Ausführungen vor allem auf die wirtschaftspolitische Notwendigkeit einer Reform abzielten, war es auf der anderen Seite Ralf Dahrendorf (1965), der die Aufmerksamkeit auf die sozialintegrative Komponente von Bildungsprozessen lenkte. Damit höhere Bildung und die damit verbundenen Privilegien nicht länger einer eingeschweißten Elite vorbehalten bleibt, forderte er überall im tertiären Bereich einen erleichterten Zugang. Die Idee der Demokratie als einer Gemeinschaft aufgeklärter, mitredender und mitbestimmender Bürger die Politik dazu auf, die bestehende „Bildungsarmut“ in ihrem Land zu bekämpfen (vgl. Hadjar & Becker 2006: 11). Ein breit angelegter Ausbau der Strukturen sei deshalb ein unumgänglicher Schritt beim Abbau von Bildungs- und Einkommensungleichheiten. Die Studentenbewegung, die sich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches in Westdeutschland formiert hatte, griff die Ideen Dahrendorfs auf und protestierte ihrerseits gegen veraltete und elitäre Strukturen im akademischen Milieu.
Durch das Hinzukommen dieser zweiten Kritikwelle geriet das deutsche Hochschulsystem in den 1960er Jahren unter erheblichen Reformdruck. Zum einen sollte es in der Lage sein, ausreichend viele und ausreichend qualifizierte Arbeitskräfte hervorzubringen um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland abzusichern. Zum anderen forderte man gleiche Bildungschancen für die breite Masse (vgl. Würmseer 2010: 35). Obwohl die Ausführungen Pichts und Dahrendorfs verschiedene Schwerpunkte setzten, lag ihr gedanklicher Ausgangspunkt in derselben Frage: Wieviel Hochschule brauchen wir in Deutschland und wofür? Wurden dann solch hohe Erwartungen formuliert, standen implizit diejenigen Funktionen, die sie als Institution legitimierten, zur Debatte. Ab den 1960er Jahren konkurrierten dabei vor allem zwei Leitbilder miteinander: Bildung als ökonomische Triebkraft gegenüber Bildung als demokratisches Grundrecht und dezidiert politisches Ziel. Von der Ausrichtung zwischen diesen beiden Polen hing ab, welcher Sektor als zukünftiger Bestimmungsfaktor für Bildungspolitik den Ton angeben sollte: die Wirtschafts- bzw. Strukturpolitik oder die Sozialpolitik (vgl. Walter 2006: 83). „Es geht (…) um eine konkrete Entscheidung: Soll die Universität ein Wirtschaftsunternehmen sein bzw. werden, dessen Ziel es ist, möglichst viel profitables Kapital (ökonomisches und symbolisches) zu schaffen? Oder soll sie eine demokratisch verfasste Institution mit gesellschaftlicher Verantwortung sein?“ (Mielich et al. 2011: 19f.).
Die Antwort auf die Frage, welchen Zwecken Hochschulbildung in Deutschland untergeordnet wird, würde weitreichende sozialpolitische Implikationen haben. Weil aber beide reformerischen Argumentationsstränge in der gemeinsamen Forderung nach einem „mehr“ an Hochschule mündeten, kam man vorerst um eine einseitige Festlegung herum. Im sogenannten „Dahrendorf-Plan“ von 1967 wurde ein Konzept geschaffen, welches sowohl seine internationale Wettbewerbsfähigkeit als auch die Chancengleichheit innerhalb des deutschen Hochschulsystems garantieren sollte. Hierzu musste zunächst sichergestellt werden, dass sich möglichst viele Studienanfänger für eine technisch-naturwissenschaftliche Ausbildung entschließen (vgl. Lutz 1979: 652). Vorgesehen war hierfür unter anderem die Einführung von kürzeren Studiengängen, in denen Studenten zielgerichtet und den technologischen und wirtschaftlichen Erfordernissen entsprechend ausgebildet werden konnten. Diese Idee manifestierte sich im Modell der „fachlichen Hochschule“, die als berufsbildende Abwandlung der wissenschaftlichen Universität das mittlerweile überlaufenen Hochschulsystem entlasten und ergänzen sollte. Durch eine kürzere Ausbildungsdauer und dem direkten Bezug zum Berufsleben sollten hier viel breitere Bevölkerungsschichten angesprochen werden, die als qualifizierte Absolventen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen würden. Das Hochschulrahmengesetz von 1976 wertet ein Fachhochschulstudium rechtlich wie inhaltlich als eigenständigen Bildungsweg (vgl. Würmseer 2010: 34ff.).
In Deutschland, wo die akademische Hierarchie steil und autoritär war und wo die Universität sich dagegen wehrte, utilitaristischen Zwecken zu dienen, war die Haltung die die Universitäten angesichts der neuen Großzügigkeit der Regierung annahm deflationär. Das Vorhaben, beide Hochschulformen als gleichrangige Weiterbildungszweige in einer „Gesamthochschule“ zusammenzuführen, scheiterte damals am Widerstand der etablierten Universitäten, die ihre „einsame“ Stellung als höchste Bildungseinrichtung in Gefahr sahen. Die Professoren wehrten sich gegen die Erweiterung und die Verbreiterung der Funktionen der Universität und nutzen den beschleunigten Fluss von Forschungsgeldern dazu, die Macht- und Statusunterschiede zwischen ihnen und anderen Einrichtungen zu vergrößern. (vgl. Ben-David 1971: 178).
Fast zeitgleich etablierten sich in den meisten westeuropäischen Staaten solche binären Hochschulsysteme, die den Bedarf an qualifizierter Arbeitskraft decken sollten. Was für Deutschland die Fachhochschule war, war in Großbritannien die „Polytechnic School“ und in Frankreich das „I.U.T.“ (Institut Universitaire de Technologie) (vgl. Walter 2006: 76). Durch hohe Bildungsinvestitionen versuchte man in diesen Ländern, Engpässen auf dem Arbeitsmarkt vorzubeugen und dadurch die Wirtschaft anzukurbeln, was wiederum den öffentlichen Haushalten zugutekam. Diese Form des koordinierten Wohlfahrtskapitalismus war für Europa Mitte des 20. Jahrhunderts prägend. Die dortigen Sozialstaaten „waren alle bemerkenswert erfolgreich in der Sicherung und Förderung einer kräftigen kapitalistischen Wirtschaft, während sie gleichzeitig auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Maße die destruktiven Tendenzen des globalen Kapitalismus im Interesse bestimmter sozialer und kultureller Werte durch ein breites Sozialstaatsangebot beschränken konnten.“ (Scharpf 1999: 42).
In Deutschland stieg insgesamt die Zahl der Studierenden bis 1980 auf das doppelte an (Schimank 1995). Anders als in der Phase unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war diese zweite Bildungsexpansion ein bewusster Vorgang, der einem politischen Aktionsplan folgte. Ziel war es, mehr Menschen in höhere Bildungslaufbahnen zu lenken um qualifizierte Arbeitskräfte zu generieren. Im Stil eines „keynesianischen“ Ausgleichsmodells stellte sich dazu der Staat als Vermittler zwischen kapitalistischen Akkumulationsprozess und die arbeitsfähige Bevölkerung, der er die entsprechenden Bildungslaufbahnen eröffnet. Er übernimmt dadurch Verantwortung für die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und sorgt gleichzeitig die Wohlfahrt seiner Bürger (vgl. Lessenich 2009b: 152ff.). Indem von den Reformen die klassische akademische Laufbahn weitestgehend unbeeinträchtigt blieb, konnten die dualen Systeme für sich beanspruchen, sowohl dem Ideal Humboldts als auch den neu entdeckten wirtschaftspolitischen Potentialen des Hochschulwesens Rechnung zu tragen.
Die Bildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre hatte jedoch neben der erhofften Wirkung auch einige unerwartete Nebeneffekte. Die große Masse an Hochqualifizierten konnte der deutsche Arbeitsmarkt so schnell nicht aufnehmen (vgl. Lutz 1970). Tatsächlich fand vielmehr eine Umschichtung der potentiellen Arbeitskraft auf die jeweils nächsthöhere Ebene statt. Während die vielen Akademiker sich schwer taten, eine angemessene Stelle zu finden, fehlten am anderen Ende wiederrum die aufgestiegenen Fachkräfte mittlerer Qualifikation. Das größte Nachsehen hatten die gering Gebildeten, deren Jobs nun die Überqualifizierten aus den höheren Stufen zu übernehmen gezwungen waren (Blossfeld 1985). So wurden Arbeitsmarktprobleme und soziale Schließungsmechanismen eher noch verstärkt. Die einzige Chance, nicht von der angestammten Qualifikationsstufe verdrängt zu werden, brachte das Hochschulstudium. „Sobald sich aber eine Vielzahl der Studienanfänger/innen eher aufgrund des Drucks von außen anstatt aus intrinsischer Motivation für ein Studium entscheidet, besteht die Gefahr, dass sich die allgemeine Einstellung gegenüber einem Studium ändert. Das Studium würde immer mehr an Selbstzweck verlieren und eher als Mittel zum Zweck betrachtet werden. Dieser Aspekt könnte sich langfristig auf die Qualität des Hochschulbetriebes auswirken“ (Nida-Rümelin & Schnell: 30).
2.3. Der „aktivierende Staat“ als „Europäisches Sozialmodell“
Die beiden Ölpreiskrisen 1973 und 1979 hatten die europäischen Volkswirtschaften in eine andauernde Krisen- und Stagnationsphase getrieben. Nicht einmal die Ausgleichsmechanismen, die sich in den westlichen Ländern als „Garant wirtschaftlicher Prosperität und sozialer Stabilität“ schlechthin erwiesen hatten, konnten Rezessionen und Massenarbeitslosigkeit mehr eindämmen (vgl. Lessenich 2009b: 153). Ein Heilmittel sah man darin, die bis dato nur begrenzt zugänglichen nationalen Wirtschaftsräume weiter zu öffnen um Europa insgesamt wieder wettbewerbsfähig zu machen. Mit dem Binnenmarktprogramm begann 1987 ein europäisches Integrationsprojekt, das weit mehr als nur den industriellen Handel zwischen den Staaten effizienter gestalteten sollte. Auch der Dienstleistungssektor sollte geöffnet und öffentliche Dienstleistungen teilweise privatisiert und nach den Prinzipien des Marktes reorganisiert werden. Den krisengeplagten nationalen Sozialmodellen wurden damit wichtige Mittel der souveränen Wirtschafts- und Sozialpolitik entzogen. An deren Stelle sollte ein gemeinsames „Europäisches Sozialmodell (ESM)“ treten, dass in unterstützender Weise die Marktintegration vorantreiben konnte.
Der damalige Kommissionspräsident Jaques Delors wollte in diesem Zusammenhang die Europäische Union als einen politisch strukturierten Wirtschaftsraum gestalten, in dem ökonomischer und sozialen Fortschritt miteinander einhergehen. Eine solidarische europäische Schicksalsgemeinschaft konnte seines Erachtens nicht nur auf Marktschaffung gründen, sondern würde nur im Lichte einer zusätzlichen sozialen Dimension entstehen. Seine Idee eines sozialen Europas war das Integrationsprojekt des regulierten Kapitalismus – eine Strategie der Europäisierung zur Bewahrung der spezifisch europäischen Fähigkeit, sozialen Ausgleich und ökonomischen Fortschritt zu verbinden (Aust et al. 2002: 285). Durch dieses institutionalisierte Gleichgewicht von Gerechtigkeit und Effizienz grenzte sich Delors bewusst vom neoliberalen Ansatz ab, nach dem ein „mehr“ an Markt stets ein „weniger“ an Staatlichkeit bedeuten musste. „Anders als in der liberalen Variante des US-amerikanischen Sozialmodells wurde der Staat nicht in erster Linie als ein die Freiheit des Einzelnen bedrohender Zwangszusammenhang gesehen, sondern als eine notwendige und zweckmäßige Instanz des sozialen Ausgleichs“. (Mahnkopf 2007: 96). Wo aber zuvor die nationalen Ausgleichssysteme versagt hätten, sollte nun die überstaatliche Koordination auf Unionsebene Abhilfe schaffen. Als spezifisches Sozialmodell auf der Grundlage gemeinsamer Werte sollte sich der „Eurokeynesianismus“ in den Integrationsprozess einfügen und damit die Tradition der souveränen Demokratien in Europa weitertragen (vgl. Aust et al. 2002: 288f.).
Die Maastrichter Verträge von 1992 die in wirtschaftspolitischen Dingen vor allem solche „quasi-keynesianistischen“ Interventionstätigkeiten wie Inflationsbekämpfung und Haushaltskonsolidierung vorsahen, lösten innerhalb des Staatenbundes heftige Debatten aus. Insbesondere die britische Regierung, Teile der Kommission und verschiedene transnationale Unternehmen führten alternative Strategien ins Feld, nach denen die Politische Einflussnahme so gering wie möglich ausfallen sollte um die nationalen Volkswirtschaften dem internationalen Wettbewerb zu öffnen und sie für diesen konkurrenzfähig zu machen. Einen Ausbau des Interventionsstaates hielt man hier nicht nur für unnötig kostenintensiv, sondern darüber hinaus für wachstumshemmend. Aus dieser Haltung heraus erklärte man das „alte“ Europäische Sozialmodell zum nicht mehr tragbaren Überbleibsel des „goldenen“ Zeitalters. „Keynesianische“ Wirtschaftspolitiken stünden einer dynamischen ökonomischen Entwicklung im Weg und stellten deshalb einen Wettbewerbsnachteil in einer globalen Konkurrenzsituation dar. Der „konsensuale politische wie gesellschaftliche Interessenausgleich“ wurde als zu starres und zu träges Instrument kritisiert, welches auf neue Herausforderungen der globalisierten Ökonomie nicht angemessen reagieren könne (vgl. Aust et al. 2002: 295). Im Gegenzug fand man Anhaltspunkte dafür, dass nur weitere Marktliberalisierung im Verbund mit flexibleren Arbeitsmärkten und Sozialabbau-Reformen die Wettbewerbsfähigkeit Europas stärken und neuen Wohlstand bringen können (vgl. Dräger 2007: 22f.).
Im Angesicht zunehmender sozioökonomischer Krisenerscheinungen wie verstärkter Arbeitslosigkeit, neuer Armut und sozialer Spaltungen verlor Delors’ Ansatz der koordinierten Marktregulation gegenüber neoliberalen Ideen an Zustimmung. Weil Globalisierung und Europäisierung staatliche Interventionen ineffizient gemacht hätten, seien für eine dynamische ökonomische Entwicklung stattdessen angebotsorientierte Politiken und flexible Strukturen sowohl auf den Kapital-, Dienstleistungs- und Produkt- als auch auf den Arbeitsmärkten notwendig. Diese Zweigespaltenheit trieb das europäische Projekt Ende des 20. Jahrhunderts in eine schwere Krise. Der Ausbau der politischen und sozialen Dimension der Europäischen Integration durch den Vertrag von Amsterdam (1997) kann dann als Versuch gesehen werden, neoliberale Strukturreformen mit einem gewissen Maß an sozialer Absicherung zu verknüpfen (vgl. Hofbräuer 2007: 41). Auf einem „dritten Weg“ wollte man sich als Staatenbund zwischen nordamerikanischem Neoliberalismus und sowjetischem Staatssozialismus positionieren und so die Legitimationskrise des europäischen Projekts überwinden. Seit dem Einsetzen der Lissabon-Strategie (2000) wurden jedoch sozialstaatliche Aspekte des europäischen Integrationsprozesses vorrangig aus wirtschaftspolitischen Erfordernissen abgeleitet (vgl. Hofbräuer 2007: 41ff.).
Maßgeblich war dabei das Ziel, bis 2010 in Europa die wettbewerbsfähigste Region der Welt zu erschaffen. Dass dem liberalen Prinzip bei diesem Vorhaben mehr Bedeutung als jedem regulativen Ansatz zukommen würde, hatte vor allem zwei Gründe: Erstens konnte durch eine vornehmlich negative Integration die schwierige Suche nach gemeinsamen Regelungen umgangen werden, welche als Konfliktherd die Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen einschränkte. Indem bestehende Regelungen einfach abgebaut wurden kann das europäische Projekt vorangetrieben werden ohne dass die Mitgliedsstaaten gewisse Zuständigkeiten an den europäischen Souverän abgeben müssen. Zweitens ist ein wirtschaftspolitisches „laissez-faire“ mit einer Senkung der staatlichen Investitionen verbunden und mit Blick auf chronisch verschuldete Kassen auch für nationale Regierungen attraktiv, die dazu angehalten wurden, ihre Wohlfahrtsprogramme wettbewerbsorientierter, beschäftigungsfreundlicher und rationeller auszugestalten (vgl. Liesner 2014: 266). Ein so „verschlankter“ Sozialstaat operiere dann „als unternehmerische, im Wettbewerb stehende Institution, die Voraussetzungen für weltmarktgerechten Strukturwandel schafft und folglich akzeptiert, dass die makroökonomischen Spielräume sowie die Möglichkeiten des Schutzes nicht wettbewerbsfähiger Produktionsfaktoren unter den neuen Rahmenbedingungen der Globalisierungen schrumpfen.“ (Mahnkopf 2007: 96).
Die traditionelle Norm des Europäischen Sozialmodells, die Herstellung von materieller Gleichheit, verliert in dem neuen Konzept stark an Bedeutung. Statt einem „überbordenden Wohlfahrtsstaat“, dessen Ausschüttungen allzu oft im Boden versickerten, ohne tatsächlich etwas zu Wachstum und Wohlstand beizutragen, würde ein wachstumsförderndes Sozialmodell nur mehr dort Investitionen zulassen, wo strukturelles Wachstum als Rendite erwartet werden kann (vgl. Blanke & Plaß 2005: 29). Die Idee eines wettbewerbsfreundlichen Sozialstaats ist in den Lissabonner Beschlüssen offiziell zur gemeinsamen Leitlinie der EU-Mitgliedsstaaten aufgewertet und in die nationalen Politiken implementiert worden (vgl. Aust et al. 2002: 290). Das „neue Europäische Sozialmodell“ wirkt seitdem als ein transnationales Konzept der Einbindung von nationalen Sozialpolitiken als „produktive Faktoren“ der Marktintegration (vgl. Hofbräuer 2007: 42). Die überstaatliche Koordination erfolgt dabei nicht über eine zentrale Kontrollinstanz, sondern funktioniert über gemeinsame Zielvorgaben, deren Umsetzung innerhalb bestimmter Zeiträume in der unbeschränkten Souveränität der Mitgliedsländer verbleibt. Das ESM ist damit Bestandteil eines größeren Europäischen Integrationsprojektes, das zwei Dimensionen umfasst: „Zum einen propagiert es einen bestimmten Weg der Integration, stellt eine Modernisierungsstrategie dar, die die strukturelle Erneuerung europäischer Wohlfahrtsstaaten anstrebt und (…) zu einer Veränderung in den Beziehungen zwischen Ökonomie und dem Markt einerseits und Gesellschaft und Individuen andererseits führt und nicht zuletzt auch eine veränderte Rolle des Staates in der Sozialpolitikmit sich bringt. Zum anderen ist es ein Legitimationskonzept für die EU-Institutionen und die zukünftige Richtung der Europäischen Union.“ (Hofbräuer 2007: 39).
Für die meisten europäischen Staaten lag der Ansatzpunkt zur Erreichung der Lissabon-Ziele in der Beschäftigungspolitik, von wo aus das größtmögliche Potential für wirtschaftliches Wachstum ausging. Der beschleunigte sozioökonomische Wandel von der Industrie- zu einer „wissensbasierten Wirtschaft und Gesellschaft“ mache neben verstärkten gesellschaftlichen- vor allem individuelle Investitionen in produktives Humankapital erforderlich (vgl. Bauer et al. 2014: 13). „Die beste Sozial- und Kohäsionspolitik besteht darin, ein großes Arsenal hochgradig mobiler und flexibler Arbeitskräfte in Europa zu schaffen, die sich schnell wechselnden globalen Markttrends ohne allzu große Reibungsverluste anpassen können“ (Drager 2007: 22). Eine höhere Erwerbsbeteiligung soll demnach nicht mehr über antizyklische Nachfragesteuerung und makroökonomische Vollbeschäftigungspolitik, sondern vor allem über die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und die Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit („employability“) erreicht werden.
Erfolgsmodell dieses normativ-politischen Leitbildes war der aktivierende „Sozialinvestitionsstaat“, der seine Aufgabe nicht mehr in der Herstellung von materieller Gleichheit als solcher sieht, sondern in der Vermittlung von Lebenschancen, die von jedem Einzelnen nach bestem Wissen und Gewissen wahrgenommen werden sollen (vgl. (Aust et al. 2002: 290). Was die Bildung angeht bedeutete dies, dass Jugendliche frühzeitiger, umfassender und gezielter als bisher auf die Anforderungen Arbeitsmarktes vorbereitet werden mussten (vgl. Esch & Stöbe-Blossey 2005: 415). Um herauszufinden, wo Gelder am besten angelegt sind, wurden „Bildungsdienstleistungen“ im Welthandelsabkommen von 1995 als handelbare Güter definiert. Ihre Anbieter waren vor allem Hochschulen, die direkt zwischen Bildungs- und Erwerbsleben vermitteln. Während in der Tradition des Europäischen Sozialmodells gerade die Abschwächung des marktvermittelten Drucks, seine Arbeitskraft verkaufen zu müssen, ein bestimmendes Moment war, wurde hier die Inklusion in den Arbeitsmarkt, bzw. eine Politik der „Rekommodifizierung“ zur überragenden Aufgabe (vgl. Aust et al 2002: 291).
Seit den Verwüstungen, die Faschismus und zweiter Weltkrieg in Europa angerichtet hatten galt der Staat als Garant für die Bekämpfung extremer Armut, umfassende sozioökonomische Sicherheiten aller Bürger, den Abbau von Einkommensungleichheit und für annährend gleiche Zugangschancen zu qualitativ hochwertigen sozialen Dienstleistungen und öffentlichen Infrastrukturen der Daseinsvorsorge“. (Mahnkopf 2007: 96). Indem Hochschulbildung nun als staatliche Dienstleistung für zukünftige Arbeitnehmer verstanden wird, ist ihr Wert als öffentliches Gut und elementares Menschenrecht grundsätzlich in Frage gestellt (vgl. Mielich et al. 2010: 18). Nur durch die „Aktivierung“ der Akteure im Bildungssystem in Form von Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Verantwortung könne die wirtschaftliche Krise des Sozialstaatsarrangements bewältigt werden. Sozialpolitik soll in dieser Hinsicht nicht mehr unsoziale Ergebnisse des Marktes korrigieren oder Marktlogiken gar aufheben, sondern wird selbst Element des Marktes. (vgl. Hofbräuer 2007: 42ff.).
„Da die Lissabon-Strategie Beschäftigungs- und Sozialpolitik von den Imperativen des wirtschaftlichen Wettbewerbs abhängig macht, ist mit ihr eine weitreichende Umstellung der Lehr- und Forschungssysteme verbunden“ (Garcia 2008: 68). Dabei reicht es nicht mehr aus, neue Hochschulformen und Studiengänge voranzutreiben. Stattdessen sei es auch die Aufgabe der Bürger selbst, ökonomische Trends und Entwicklungen zu erkennen und sich auf sie einzustellen. Der Markt wird im „aktivierenden Sozialstaat“ nicht mehr als die Organisationsform der kapitalistischen Ökonomie gesehen, „die sich durch ihren krisenhaften Charakter auszeichnet, naturwüchsig soziale Ungleichheiten produziert und deshalb politisch reguliert und gesteuert werden muss“, sondern dient stattdessen „als effizientes Instrument der Allokation der Produktionsfaktoren“. (Aust et al. 2002: 289) Der aufkeimende „neue Geist“ des globalen Kapitalismus (Boltanski & Chiappelo 2006) forderte keine qualifizierten Spezialisten, sondern flexible Arbeitskräfte, die sich immer wieder rechtzeitig auf neue Aufgaben einstellen konnten. In einer Gesellschaft, in der Bildung vor allem einen Schutz vor sozialen Risiken bedeute, müssten Hochschulen dazu in der Lage sein, dieses Anforderungsschema zu vermitteln um ebenjene Art von vielseitigem „Humankapital“ erzeugen zu können. Ein Hochschulstudium kann nur noch vor sozialem Abstieg bewahren insofern es Anknüpfungspunkte für die Wirtschaft bereithält. Der Markt wird im „aktivierenden Sozialstaat“ nicht mehr als die Organisationsform der kapitalistischen Ökonomie gesehen, „die sich durch ihren krisenhaften Charakter auszeichnet, naturwüchsig soziale Ungleichheiten produziert und deshalb politisch reguliert und gesteuert werden muss“, sondern dient stattdessen „als effizientes Instrument der Allokation der Produktionsfaktoren“. (Aust et al. 2002: 289). Kernaufgabe von Bildungseinrichtungen sei daher die Vermittlung von „Qualifikationen“, also von Fähigkeiten, die zur Bewältigung von mehr oder weniger klar definierten Anforderungen aus verschiedenen Handlungskontexten dienen sollen. Diese Anforderungen bestimmten sich zunächst als Eignung für weiterführende Stufen des Bildungssystems selbst und im Anschluss daran als Fitness im Wirtschafts- und Arbeitsleben selbst. (vgl. Esch & Stöbe-Blossey 2005: 416). Somit wird sichergestellt, dass in Forschung und Lehre in Europa nichts mehr stattfindet „dessen Nutzen für die Gesellschaft nicht unmittelbar an diese kommuniziert werden kann.“ (Reitz und Draheim 2006: 385).
Mit der Lissabon-Strategie wurden die europäischen Hochschulen als „produktive Faktoren“ in den Prozess der Marktintegration eingebunden. Die Krise der öffentlichen Haushalte verlangte nach einer Abkehr vom Gießkannenprinzip und zeigte die Notwendigkeit, die Akteure im Hochschulwesen bei der Verteilung von Berufschancen miteinzubeziehen (vgl. Steinhübel 2011: 81). Der Sozialstaat in seiner gegenwärtigen Verfassung wirke jedoch der Wahrnehmung dieser Verantwortung entgegen, da er durch unbedachtes Fördern eine betäubende „Drogenwirkung“ (Offe 1995) entfaltet und Abhängigkeiten erzeugt. Weil zwischen Bildungsstand und Erfolg am Arbeitsmarkt ein klarer Zusammenhang bestehe, produzieren die Bildungssysteme von heute die Sozialfälle von morgen (vgl. Prechtl & Dettling 2005, zit. nach Butterwege et al. 2008: 162). Um die Betroffenen zur eigenverantwortlichen Steuerung und Kontrolle ihrer Aktivitäten zu bewegen sah das Leitbild des „aktivierenden Staates“ deshalb vor, nicht mehr, sondern weniger Investitionen in Hochschulbildung zuzulassen. Wer jahrelang ziellos im Bildungssystem verweilt, sollte in Zukunft nicht mehr erwarten können, dabei vom Staat unterstützt zu werden. Das demokratische Prinzip der Befriedigung nicht nur der grundlegenden Bedürfnisse des Lebens, sondern ebenso der Eröffnung aller notwendigen Freiräume zur individuellen geistigen Entfaltung spielte in dieser Argumentation eine untergeordnete Rolle. Im „aktivierenden Wohlfahrtsstaat“ vermittelt nicht mehr die Politik zwischen der Wirtschaft und dem Bildungswesen, sondern die Institutionen orientieren sich selbst an den ökonomischen Erfordernissen und werden nur unter dieser Bedingung vom Staat unterstützt. „Die Logik der öffentlichen Verpflichtung dreht sich mithin um: Während bislang der Staat seinen Bürgern zu ermöglichen hatte, in den Genuss akademischer Bildung zu kommen, müssen jetzt diejenigen, die das wollen, unter Beweis stellen, dass sie »intellektuelle Leistungen« für die Allgemeinheit erbringen.“ (Reitz & Draheim 2006: 387). Das „neue Europäische Sozialmodell“ steht für die Notwendigkeit „eines radikalen Umbaus europäischer Staatlichkeit und des Verhältnisses zwischen (nationaler) Politik und (globaler) Ökonomie der auf die Ablösung des Sozialstaates der Nachkriegszeit durch eine „wettbewerbsstaatliche“ Konfiguration hinausläuft“. (Streeck (1997: 10). In der Vorstellung vom „sozialen Bildungsstaat“ lag insofern der „Abschied vom Wohlfahrtsstaat“ wie man ihn kannte begründet (vgl. Butterwege 2008: 160).
3. Europäische Hochschulpolitik zwischen Intergouvernementalismus und Supranationalität
3.1. Agenda-Setting
Lange Zeit war die Hochschulpolitik von den europäischen Integrationsbestrebungen weitgehend unberührt geblieben. Auf supranationaler Ebene fehlten sowohl der eindeutige Wille wie auch eine umfassende Expertise, die für eine stärkere Miteinbeziehung erforderlich gewesen wäre. Die traditionelle Zurückhaltung dabei, die in hohem Maße heterogene Hochschullandschaft in Europa zugunsten einer verstärkten politischen Koordination harmonisieren zu wollen „kann darauf zurückgeführt werden, dass Bildungssysteme historisch als sozialisierende Institutionen verstanden wurden, die vor allem zur Stiftung und Verfestigung einer nationalen Identität beitragen sollten“ (Knill et al. 2013: 13). Obwohl wirtschaftspolitische Zusammenhänge durchaus von supranationalen Institutionen, insbesondere der europäischen Kommission, ins Auge gefasst worden waren, galt es innerhalb der Europäischen Union insgesamt als unumstritten, dass die Gestaltung der Hochschulsysteme dem nationalen Souverän zu überlassen sei. Eine Vereinheitlichung derselben „von oben herab“ war mit dem Subsidiaritätsprinzip unvereinbar. Auch die Möglichkeiten der Einflussnahme von UNESCO, OECD und Europarat beschränkten sich auf unverbindliche Empfehlungen ohne rechtliche Konsequenz (vgl. Walter 2006: 68f.).
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[1] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/bologna-system-kleine-reform-eines-grossen-irrtums-14236530.html, Zugriff am 29.09.2016.