Ludwig Tieck lässt seine Erzählrunde, gewissermaßen als Sprachrohr seiner selbst, in den Rahmengesprächen der Märchen aus dem „Phantasus“ , noch bevor die von Clara ungeduldig erwarteten „Mährchen“ (S. 7) erzählt werden, Aufschlussreiches mitteilen. Es heißt:
Noch seltsamer, sagte Ernst, daß so wenige Menschen den wundervollen Schauer, die Beängstigung empfinden, oder sich gestehn, die in manchen Stunden die Natur unserem Herzen erregt. Nicht bloß auf den ausgestorbenen Höhen des Gotthard erregt sich unser Gemüth zum Grauen, […] sondern selbst die schönste Gegend hat Gespenster, die durch unser Herz schreiten, sie kann so seltsame Ahndungen, so verwirrte Schatten durch unsre Phantasie jagen, daß wir ihr entfliehen, und uns in das Getümmel der Welt hinein retten möchten. Auf diese Weise entstehn nun wohl auch in unserm Innern Gedichte und Mährchen, indem wir die ungeheure Leere, das furchtbare Chaos, mit Gestalten bevölkern, und kunstmäßig den unerfreulichen Raum schmücken; diese Gebilde aber können dann freilich nicht den Charakter ihres Erzeugers verläugnen. In diesen Natur-Mährchen mischt sich das Liebliche mit dem Schrecklichen, das Seltsame mit dem Kindischen, und verwirrt unsre Phantasie bis zum poetischen Wahnsinn, um diesen selbst nur in unserm Innern zu lösen und frei zu machen. (S. 14f.)
– Ein „Natur-Mährchen“, indem sich „das Liebliche mit dem Schrecklichen“ mischt und unsere Phantasie bis zum „poetischen Wahnsinn“ verwirrt!? Zweifellos mutet diese „Mährchen“-Auffassung in erster Annäherung recht ungewöhnlich an; allerdings steuert sie zugleich bereits Wesentliches zu Tiecks Poetologie bei.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Analyse und Interpretation
- Alles auf Anfang
- Der junge Jäger auf dem Weg ins nächtliche Gebirge oder Das „erregende Moment“
- Die entscheidende Erklimmung: Wenn sich Inneres und Äußeres mischen. Zum „Höhepunkt“ auf dem Runenberg
- Eine Art „retardierendes Moment“: Von der unterdrückten Innenwelt und dem Leben in der Welt des Alltäglichen
- Die Wiederkehr des Innersten - oder: Die „Katastrophe“
- Die magische Tafel oder Das „Dingsymbol“. Zur Ambivalenz des Wirklichen im Runenberg
- Der Runenberg als „Märchennovelle“
- Schluss
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit dem Verhältnis von Innen- und Außenwelt in Ludwig Tiecks Erzählung „Der Runenberg“. Die Analyse zielt darauf ab, die Ambivalenz des Wirklichen in Tiecks Werk aufzuzeigen und zu interpretieren, indem sie den Protagonisten Christian und dessen Erfahrungen in der Welt der Erzählung untersucht.
- Die Verschmelzung von Innen- und Außenwelt in Tiecks „Natur-Mährchen“
- Die Bedeutung der Allegorie in Tiecks Poetologie
- Die Rolle der Phantasie und des poetischen Wahnsinns in der Gestaltung der Wirklichkeit
- Der Einfluss der „krisenhaften Sozialisation“ auf Christians Entwicklung
- Die Ambivalenz des Wunderbaren und der Alltagsrealität in Tiecks „Phantasus“
Zusammenfassung der Kapitel
- Die Einleitung führt in die Thematik ein und beleuchtet Tiecks Auffassung von „Natur-Mährchen“ und die Bedeutung der Allegorie in seinem Werk.
- Das Kapitel „Alles auf Anfang“ stellt den Protagonisten Christian und seine Flucht aus der vertrauten Umgebung vor. Die Analyse zeigt die Motivation für seine Reise und die Bedeutung des „Gärtnerberufes“ im Kontext der Erzählung.
- Das Kapitel „Der junge Jäger auf dem Weg ins nächtliche Gebirge oder Das „erregende Moment““ analysiert die Ambivalenz von Christians Erfahrungen und die beginnende Verschmelzung von Innen- und Außenwelt.
- Das Kapitel „Die entscheidende Erklimmung: Wenn sich Inneres und Äußeres mischen. Zum „Höhepunkt“ auf dem Runenberg“ befasst sich mit der Erklimmung des Runenbergs und der zentralen Bedeutung dieses Moments für die Entwicklung des Protagonisten.
- Das Kapitel „Eine Art „retardierendes Moment“: Von der unterdrückten Innenwelt und dem Leben in der Welt des Alltäglichen“ analysiert den Rückzug Christians in die Welt des Alltäglichen und die Konflikte, die aus dieser Erfahrung resultieren.
Schlüsselwörter
Die Analyse von Tiecks „Der Runenberg“ konzentriert sich auf die Themen Innen- und Außenwelt, Phantasie und Wirklichkeit, Ambivalenz, Allegorie, „Natur-Mährchen“ und die „krisenhafte Sozialisation“ des Protagonisten Christian. Die Arbeit beleuchtet den Einfluss von Tiecks Poetologie auf die Gestaltung der Erzählung und den Bedeutungswandel des Wirklichen im Kontext von Tiecks „Phantasus“.
- Arbeit zitieren
- Kevin Demski (Autor:in), 2004, Das Verhältnis von Innen- und Außenwelt in Tiecks Märchennovelle 'Der Runenberg', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/41636