Gibt es eine Öffentlichkeit in der europäischen politischen Gemeinschaft?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

21 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Transnationalisierung in Richtung Europa statt Globalisierung
2.1 Transnationalisierung der Ökonomie
2.2 Transnationalisierung der Politik
2.3 Die Funktionen von Öffentlichkeit
2.4 Demokratiedefizit in der EU
2.4.1 Inkongruenz zwischen Staatsbürger und Herrschaftsträger
2.4.2 Mögliche Ursachen für das Öffentlichkeitsdefizit der EU

3. Faktoren für die Entstehung einer massenmedial vermittelten Öffentlichkeit
3.1 Meinungs- und Pressefreiheit
3.2 Technische Entwicklung und Infrastruktur
3.3 Alphabetisierung und Lingua Franca
3.4 Ausdifferenzierung von Medienunternehmen und Journalisten
3.5 Entstehung von kollektiven Akteuren

4. Aufmerksamkeit der Medien in Bezug auf Europa
4.1 Gerhards empirisches Material
4.2 Eders Fallbeispiele
4.2.1 „Festung Europa“, Schengen-II-Prozess
4.2.2 Korruptionsfall 1999
4.2.3 BSE-Skandal

5.1 Ort und Art europäischer Öffentlichkeit
5.2 Aus koordiniertem Dissens wird europäische Identität?
5.3 Modus operandi statt opus operatum

6. Zusammenführung der Gerhards- und Eder-Texte und normative Sicht auf die europäische Öffentlichkeit

7.1 Literaturangaben
7.2 Internetadressen

8. Anlagen

1. Einleitung

„In Europa steigt die Zahl der Beschäftigten“ und „Europarat prangert Ausländerfeindlichkeit an“ sind zwei Artikeltitel auf den ersten beiden Seiten der „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ am 4. Juli 2001[1].

Europa scheint in den Medien und der Öffentlichkeit täglich präsent zu sein. Aber gibt es denn überhaupt neben der nationalen so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit? Sollte man im Zusammenhang mit Europa von einem Öffentlichkeitsdefizit sprechen?

Haben Politik und Ökonomie die Öffentlichkeit in Bezug auf Europa längst überholt?

Diese und andere Fragen sollen in der folgenden Hausarbeit anhand zweier Texte zum Thema europäische Öffentlichkeit komparativ behandelt werden. Der erste Aufsatz unter dem Titel „Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit“[2] ist von Jürgen Gerhards. Er kommt darin zum Schluss, dass Ökonomie und Politik sich zusehends in Richtung Europäische Union transnationalisieren, während die Öffentlichkeit national verhaftet bleibt (Gerhards, 277). Die dadurch entstehende Inkongruenz dieser drei Bereiche des Staates sieht er im normativen Sinn als problematisch an. Klaus Eder und Cathleen Kantner sind optimistischer. In ihrem Text „Transnationale Resonanzstrukturen in Europa – Eine Kritik der Rede vom Öffentlichkeitsdefizit“[3] behaupten die Autoren, dass die „europäische Öffentlichkeit [...] in der Tat bereits sehr lebendig“ (Eder, 329) ist und die pauschale Unterstellung eines Öffentlichkeitsdefizits in Europa empirisch nicht gedeckt ist (Eder, 307).

Zunächst wird der Text von Gerhards in seinen Hauptthesen und Vorgehensweisen analysiert. Wo es passt, wird dieser bereits mit dem Text von Eder und Kantner verglichen. Stellungnahmen und kritische Anmerkungen sollen ebenfalls integrativ in die Analyse der beiden Texte einfließen. Abschließend soll der Versuch unternommen werden, beide Texte in ihren Hauptaussagen und Herangehensweisen zusammenzuführen und zu beurteilen.

2. Transnationalisierung in Richtung Europa statt Globalisierung

Jürgen Gerhards analysiert in seinem Aufsatz „die Entwicklung von Ökonomie, Politik und Öffentlichkeit der Bundesrepublik für den Zeitraum 1950 bis 1995“ (Gerhards, 277). Er kommt darin zum Schluss, dass es in der Wirtschaft, wie auch in der Politik, nicht zur Globalisierung, sondern zu einem „moderaten Prozess der Transnationalisierung“ (Gerhards, 277) in Richtung Europa gekommen ist, während die Öffentlichkeit angeblich „weitgehend nationalstaatlich verhaftet“(Gerhards, 277) geblieben ist.

Er schlägt den Begriff der Transnationalisierung vor, weil damit zwar der Ausgangspunkt für die Prozessentwicklung gegeben sei, nicht jedoch das Ziel oder der letztendliche Bezugspunkt vorweggenommen werde. Ferner unterteilt er die Nation in die drei Teilbereiche „Ökonomie“, „Politik“ und „Öffentlichkeit“ um sie nacheinander analysieren und miteinander vergleichen zu können. Den Begriff der Transnationalisierung möchte er als einen relationalen verstehen, bei dem man die Interaktionen innerhalb des Nationalstaats mit denen außerhalb des Nationalstaats in Beziehung setzen kann (vgl. Gerhards, 279). Als erstes untersucht Gerhards in seiner Abhandlung die Transnationalisierung der Ökonomie, danach die der Politik. Die Kongruenz zwischen beiden sieht er als wichtig an, weil der Wohlstand bzw. das Vermögen der Bürger(innen) die Legitimität des politischen Systems und ihrer konkreten Herrschaftsträger sichere und eine erfolgreiche Ökonomie die Abschöpfung von Ressourcen in Form von Steuern etc. ermögliche, die dem politischen System Handlungsfähigkeit gewährleiste (vgl. Gerhards, 281).

2.1 Transnationalisierung der Ökonomie

Auch die Ökonomie unterteilt Gerhards in vier Teilbereiche: in den Arbeits-, Güter-, Investitions- und Aktien- bzw. Finanzmarkt. Hierin möchte er „den Grad und die Entwicklung von Transnationalisierungsprozessen in den letzten 40 Jahren [...] bestimmen.“ (Gerhards, 281) Zum ersten zieht er Abbildung 1 (Gerhards, 282) heran (siehe Anhang). Eine der vier Kurven verdeutlicht, dass zum letzten Erhebungspunkt 1996 lediglich 2,21% der gesamten Investitionen in Deutschland ausländische Direktinvestitionen gewesen sind. Nur 5,72 % aller Beschäftigten in der BRD waren ausländische Arbeitnehmer. Der Investitions- wie auch der Arbeitsmarkt waren zu diesem Zeitpunkt in Deutschland „also ganz dominant nationalstaatlich bestimmt.“ (Gerhards, 282) 24,6%[4] war der Anteil der Summe der Importe von Gütern und Dienstleistungen am Bruttosozialprodukt der BRD. Relativ groß war hingegen der Absatz ausländischer Aktien am Gesamtabsatz aller Aktien: 51,9%. Bei der Interpretation der Zahlen kommt Gerhards zu zwei sich widersprechenden Aussagen:

1. „...außer von den Aktienmärkten kann man wohl nicht von einer Transnationalisierung der Volkswirtschaft sprechen, da die Mehrzahl der Interaktionen nationalstaatlich begrenzt bleibt.“ (Gerhards, 283)
2. „Vergleicht man nur die Anfangs- und Endpunkte der Entwicklung [...] sieht man, dass sich die Ökonomie [...] in der Tat zunehmend transnationalisiert hat“.

Den zweiten Punkt seiner Interpretation kann man in Frage stellen. Vergleicht man die Zahlen auf dem Investitionsmarkt von 1967 und 1995, wird man feststellen, dass beide Werte bei ca. 3% liegen und dass der Wert 1967 sogar geringfügig höher war als 1996, was eine rückläufige Entwicklung anzeigen würde. Auch auf dem Arbeitsmarkt kann man zwischen 1972 (ca. 10%) und 1996 (5,72%) eine rückläufige Tendenz ausmachen. Nur an den Kurven, die die Entwicklung auf dem Güter- und dem Aktienmarkt beschreiben sollen, ist eine unregelmäßige, aber tendenzielle Steigerung des Transnationalisierungsgrades abzulesen, was mit großen Schwankungen in den Werten einhergeht: So war der Anteil der abgesetzten ausländischen Aktien am Gesamtabsatz 1990 ca. 65% und 1995 nur noch 51,9%, jedoch 1978 nur ca. 20%. Auf dem Güter- und Dienstleistungsmarkt wird auch ein Auf und Ab sichtbar: 1966 liegt der Anteil der Summe der Importe am Bruttosozialprodukt bei ca. 23%, 1995 nur um 1,6% höher. Somit lautet die Kritik an Gerhards, dass bei genauer Betrachtung nicht erkennbar wird, dass die Entwicklung des Transnationalisierungsprozesses „stetig“ und „kontinuierlich“ verläuft und für die Zukunft vorhersagbar. Die pauschale These von einer bereits transnationalisierten Wirtschaft sollte deshalb erneut überprüft werden.

Aufbauend auf diesen Werten für den Grad der Transnationalisierung bestimmt Gerhards als nächstes die Richtung derselben und kommt aufgrund der Tabelle 1 (s. Anhang) zum Schluss, dass sich die wirtschaftliche Transnationalisierung „in weiten Bereichen als Europäisierung mit starker Konzentration auf die EU beschreiben lässt“ (Gerhards, 284). Dies sieht er daran, dass 1995 z.B. 87,8% der erwerbstätigen ausländischen Staatsbürger in Deutschland aus Europa (inklusive Türkei) kamen. Etwa zwei Drittel der Importe von Gütern und Dienstleistungen, sowie ausländischen Direktinvestitionen nach Deutschland und deutschen Direktinvestitionen ins Ausland waren europäischer Natur (vgl. Gerhards, 283-284).

2.2 Transnationalisierung der Politik

Der Krisendiagnose, dass Transnationalisierungsprozesse die Steuerungsfähigkeit der Politik unterlaufen, hat das politische System in Gerhards Augen bereits entgegen gewirkt, indem es sich selbst in Richtung Europäische Union transnationalisiert hat. Die Staaten haben Souveränität an die EU abgegeben. Europäisches Recht bricht mittlerweile nationales Recht. Die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof können die Mitgliedsstaaten überwachen und Sanktionen aussprechen, wenn es bezüglich des Europa-Rechts nicht zur Implementierung kommt (vgl. Gerhards, 286). Die vom Bundestag verabschiedeten Gesetze haben zugunsten der Verordnungen und Richtlinien der EU[5] abgenommen (s. Abbildung 2, 286, s. Anlage). Dies ist für Gerhards ein „Indikator für die Verlagerung von politischen Souveränitätsrechten vom Nationalstaat auf die EU.“ (Gerhards, 285) In gleichem Atemzug kam es von 1960-1995 zu einem erheblichen Ausbau der politischen Institutionen der EU, was Gerhards mit der Tabelle 2 (286, s. Anhang) verdeutlichen will. Dies bestätigt für ihn seine These, „dass sich die Politik in dieselbe Richtung transnationalisiert hat wie die Ökonomie“ (Gerhards, 286). Außerdem behauptet er, dass die Politik „zu einer Europäisierung der Ökonomie selbst entscheidend beigetragen“ (Gerhards, 286) hat, was er unbegründet ohne empirischen Beleg im Raum stehen lässt.

2.3 Die Funktionen von Öffentlichkeit

Für Gerhards kommen einer politischen Öffentlichkeit die Funktionen der „Informationsvermittlung, der Meinungsbildung und der Kontrolle“ (Gerhards, 287) zu, welche hauptsächlich durch die Massenmedien als zentrale Institutionen zwischen Bürger und Politik ausgefüllt werden. Ziel der Öffentlichkeit soll das „enlightened understanding“ (Gerhards, 287) der Bürger sein, die bezüglich potentieller Volksvertreter und deren Programme aufgeklärt werden sollten, damit nach der wohlüberlegten Wahl gewährleistet sei, dass die „kollektiv verbindlichen Entscheidungen an die Interessen und Willensbildungsprozesse der Staatsbürger gekoppelt“ (Gerhards, 286) sind.

Eder nimmt in seiner Analyse eine ältere Funktionsdefinition der politischen Öffentlichkeit von Gerhards aus dem Jahr 1993 unter die Lupe, wo dieser die Öffentlichkeit als Bildschirm beschreibt, „auf dem sich die Akteure wechselseitig beobachten und ihre Handlungen an diesen Beobachtungen orientieren.“ (Eder, 310) Darüber hinaus diene die Öffentlichkeit auch der „Konstitution einer Identität der Gesellschaft“ (Eder, 310), was Eder bezweifelt. Er hält eine Identitätsbildung erst für möglich, wenn die Beteiligten an der Kommunikation eine „Teilnehmerperspektive“ (Eder, 311) eingenommen und spezielle soziale Beziehungen zueinander aufgebaut haben, die „Fragen der gegenseitigen Anerkennung der Teilnehmer, der gemeinsamen Orientierung auf etwas [...] und der Horizontverschränkung“ (Eder, 311) erlauben.

[...]


[1] Hannoversche Allgemeine Zeitung, 4.7.2001, Nr. 153, 27. Woche

[2] Gerhards, Jürgen, 2000: Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in: Bach, Maurizio (Hrsg.): Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 40; Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 277-305,

im Folgenden abgekürzt durch: (Gerhards, S.xx)

[3] Eder, Klaus und Kantner, Cathleen, 2000: Transnationale Resonanzstrukturen in Europa – Eine Kritik der Rede vom Öffentlichkeitsdefizit, in: Bach, Maurizio (Hrsg.): Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 40; Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 306-331,

im Folgenden abgekürzt durch: (Eder, S.xx)

[4] hier ausnahmsweise für das Jahr 1995

[5] Bundeszentrale für politische Bildung, (Hg.) 1997: Europäische Union, Europäische Gemeinschaft. Die Vertragstexte von Maastricht mit den deutschen Begleitgesetzen. Bonn: Europa Union Verlag, S. 242, Art. 189 „[...] Die Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat. Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedsstaat [...] hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. [...]“

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Gibt es eine Öffentlichkeit in der europäischen politischen Gemeinschaft?
Hochschule
Universität Bremen  (Fachbereich Politikwissenschaften)
Veranstaltung
Konstruktionen europäischer Identität
Note
1
Autor
Jahr
2001
Seiten
21
Katalognummer
V4172
ISBN (eBook)
9783638125925
ISBN (Buch)
9783638770828
Dateigröße
586 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Es werden zwei kontroverse Ausarbeitungen der Autoren Jürgen Gerhards und Klaus Eder/Cathleen Kantner analysiert und miteinander verglichen.
Schlagworte
Gibt, Gemeinschaft, Konstruktionen, Identität
Arbeit zitieren
Tanja Prinz (Autor:in), 2001, Gibt es eine Öffentlichkeit in der europäischen politischen Gemeinschaft?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/4172

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