Erna Lendvai-Dircksen - Modernes Sehen in Deutschland nach 1933?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

20 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einführung

II. „Zur Psychologie des Sehens“ und gegen die Neue Sachlichkeit in der Fotografie

III. „Das deutsche Volksgesicht“

IV. Konklusion

V. Epilog

VI. Bibliographie

VII. Abbildungen
i. E.L.-D.: Alter Fischer von der kurischen Nehrung, 1935
ii. E.L.-D.: Masurischer Junge, 1935
iii. E.L.-D.: Masurisches Mädchen, 1935
iv. E.L.-D.: Spreewälder Altbäuerin, 1935
v. August Sander: Konditor 1928
vi. E.L.-D.: Alte Frau aus dem Westerwald, 1932
vii. E.L.-D.: Frau aus der Mark Brandenburg, 1935
viii. E.L.-D.: Junge Bäuerin aus dem hessischen Hinterland, 1935

I. Einführung

Es ist unbestreitbar, dass die Zeit des Nationalsozialismus eine Zäsur der modernen Entwicklung aller Künste in Deutschland darstellte. Die deutsche Kunst im Nationalsozialismus wendete sich der konservativen Vergangenheit zu und negierte die Moderne, welche schlichtweg als „fremdländisch“ verteufelt wurde. Dies galt für alle Ausdrucksformen der Kunst, von der modernen Malerei, die als „entartete“ Kunst gebrandmarkt wurde, über den zeitgenössischen Film, bis hin zur Fotografie, deren moderne Ansätze der Neuen Sachlichkeit ebenfalls als unerwünschter „internationaler Stil“ verschrien waren. Dennoch ist die Suche nach der Moderne in den Werken der Künstler, die während des Dritten Reichs gearbeitet haben, lohnenswert, da bei einigen wenigen von ihnen eine gewisse Kontinuität, ja vielleicht sogar eine Weiterentwicklung moderner Tendenzen festzustellen ist. Meine Arbeit beschäftigt sich mit der Fotografin Erna Lendvai-Dircksen. Anhand ihrer theoretischen Texte und fotografischen Portraitreihen soll der Frage nachgegangen werden, ob es ein modernes Sehen in Deutschland nach 1933 gab.

Für eine solche Untersuchung eignen sich gerade die modernen Massenmedien wie Film und Fotografie hervorragend, denn zum einen waren beide Medien als technische Innovationen nahezu automatisch mit der Moderne verknüpft.[1] Zum anderen stellte die „technische Reproduzierbarkeit“[2] dieser neuartigen Medien sowohl erweiterte Möglichkeiten, als auch neue Herausforderungen an Ästhetik und Inhalt. Während des Nationalsozialismus wurden die Möglichkeiten der Massenmedien Film und Fotografie systematisch für Propagandazwecke missbraucht. Die künstlerischen Werke, die während dieser Zeit entstanden, müssen demnach stets unter Berücksichtigung von Inhalt und Form beurteilt werden. Hierbei ist bei den modernen Künstlern des Nationalsozialismus eine Divergenz zwischen rückwärtsgewandten Inhalten und modernen Formen zu beobachten. Viele dieser Künstler standen hinter den menschenverachtenden Ideologien des Nationalsozialismus. Diese ideologische Nähe drückt sich zumeist in den Inhalten ihrer Kunstwerke aus. Die Ästhetik dieser Werke jedoch scheint sich trotz vehementer Hetze gegen die Moderne an der Vielfalt moderner Ausdrucksformen und Stile zu bedienen.

Das bekannteste Beispiel einer solchen modernen Künstlerin des Nationalsozialismus ist wohl die Filmemacherin Leni Riefenstahl. Gerade ihre beiden dokumentarischen Propagandafilme „Triumph des Willens“ über den Nürnberger Parteitag 1934 und der Zweiteiler „Fest der Völker“ und „Fest der Schönheit“ über die Olympischen Spiele in Berlin 1936 zeugen von höchster ästhetischer Qualität. Obwohl man sich diese Filme niemals ohne schalen Beigeschmack anschauen können wird, sind sie dennoch Meilensteine des modernen Films. Vielleicht entspringt ihre Bedeutung gerade aus dem Gegensatz, der sich durch den rückwärtsgewandten Inhalt und die moderne Ästhetik ergibt. Susan Sontag rief dazu auf, den Inhalt zeitweise von der Form zu trennen, um Leni Riefenstahls Filme als Kunstwerke betrachten zu können. Sontag vertrat die Meinung, dass „to call Leni Riefenstahl’s ‘The Triumph of the Will’ and ‘The Olympiad’ masterpieces is not to gloss over Nazi propaganda with aesthetic lenience. The Nazi propaganda is there. But something else is there, too, which we reject at our loss. […] Through Riefenstahl’s genius as a film-maker, the ‘content’ has – let us even assume, against her intentions – come to play a purely formal role.”[3] Der Versuch, den Inhalt von der Form zu lösen oder ihn in ihr aufzulösen, ist demnach notwendig, damit eine Annäherung an das Kunstwerk stattfinden kann. Bei Künstlern des Nationalsozialismus ist dieser Versuch jedoch stets ein Spiel mit dem Feuer. Schlussendlich wird jede Betrachtung dieser Kunst wieder auf den Kontext der Entstehungsgeschichte zurückkommen müssen, denn Kunst entsteht niemals im Vakuum, sondern ist stets auch Ausdruck des Künstlers und seiner Zeit.

Dies gilt gleichfalls für das Werk der Fotografin Erna Lendvai-Dircksen, die bereits ab 1916 und verstärkt während des Nationalsozialismus einen Atlas deutscher Volksstämme entwickelte. In ihren Portraitreihen fotografierte Lendvai-Dircksen das, wie sie es nannte, „deutsche Volksgesicht“. Ihre Bildbände sind aufwendig gestaltete Publikationen, in denen neben den besagten Portraits auch Landschaftsfotografien, Texte, Gedichte, Liedtexte, Musiknoten für Volkstänze und religiöse Beschreibungen abgedruckt sind. Da ihre Bildbände stark von kommentierenden Texten dominiert werden, fällt es schwer, die Fotografien unabhängig von den oftmals kitschig-schwülstigen bis rassistisch-nationalistischen Texten zu betrachten. Ohne die eindeutigen Bildunterschriften ist eine ideologische Nähe zwischen Fotografien und nationalsozialistischem Denken jedoch nur noch schwer zu erkennen. Ihre Portraitreihen der ärmlichen, hart arbeitenden Landbevölkerung haben somit in ihrer fotografischen Machart als Dokument und auch als Kunstwerk noch heute Bestand. Obwohl sich Lendvai-Dircksen in theoretischen Texten vehement gegen die neuen Formen der modernen Fotografie aussprach, bediente sie sich in ihren eigenen Fotografien nichtsdestotrotz dieser Ausdrucksformen. Erna Lendvai-Dircksens fotografisches Auge war somit wesentlich moderner als ihr nationalkonservatives Gedankengut je sein konnte.

II. „Zur Psychologie des Sehens“ und gegen die Neue Sachlichkeit in der Fotografie

Erna Katharina Wilhelmine Lendvai-Dircksen[4], die spätestens ab den 1920er Jahren als Fotografin erfolgreich war, hat selber kaum zur Fotografietheorie publiziert. Umso interessanter erscheint daher ihr Aufsatz „Zur Psychologie des Sehens“[5], der 1931 im Jahrbuch „Das Deutsche Lichtbild“ veröffentlicht wurde. Zwei Jahre vor ihrer Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer[6], zeugte ihr Aufsatz bereits von ausgeprägten anti-internationalen und anti-modernen Tendenzen. Ihre kulturkonservative Haltung drückt sich in ihrer Schrift vor allem durch die vehemente Warnung vor „fremde[n] Stilmischungen“[7] und der Neuen Sachlichkeit in der Fotografie aus, die sie als „Wolf im Schafskleid“[8] zu entlarven vermeinte. Sie argumentierte gegen das Neue Sehen in der modernen Fotografie, das sich nicht primär auf den Bildgegenstand selbst konzentriere, sondern das Augenmerk vielmehr auf Struktur, Form, Lichtgestaltung, neue Perspektiven, Bewegungsstudien, unbekannte Darstellungsformen und Nah- und Luftaufnahmen lenke. Wie Sergiusz Michalski festhielt, waren „die entscheidenden Prämissen für die Entstehung einer neusachlichen photographischen Richtung […] die Ausbildung einer detailscharfen, Figuren und Dinge isolierenden Sehweise, verbunden mit der neuen Faszination für die ästhetischen Aspekte der Technik und die wissenschaftlichen Dokumentationsmöglichkeiten der Photographie.“[9] Ähnlich beurteilte die Fachwelt der 1920er Jahre diese neue Fotografierichtung. So schrieb der Fotokritiker Wilhelm Kästner 1929, dass sich die Sachlichkeit in der Fotografie vor allem „in der scharfen Wiedergabe des Objektes“ äußere, „in seiner klaren Hervorhebung, ja fast in der durchdringenden, allseitigen Beleuchtung, die möglichst die Schatten ganz verbannt oder sie als fest umrissene Bildelemente verwertet, und vor allem in der Bevorzugung fester, deutlich erfaßbarer Gegenstände von übersichtlicher formaler Struktur als Bildmotive.“[10] Kästner definierte die Neue Sachlichkeit in der Fotografie vor allem über ihre „klare und scharfe Erfassung der Dinge, extreme Nah- oder Fernsicht, Isolierung von Details, Ausfilterung abstrakter Strukturen sowie Betonung des Materialcharakters.“

Der Fotoapparat wurde zum Forschungsinstrument, mit dem es detailgenau festzuhalten galt, mit dem aber ebenfalls neue Sichtweisen und ungewöhnliche Blickwinkel erforscht und sichtbar gemacht wurden. Die Fotografie bot dem menschlichen Auge die Möglichkeit, sich in einer immer schneller wandelnden Welt zu orientieren. Die neuen Ausdrucksmittel der Fotografie ermöglichten die Anpassung der menschlichen Wahrnehmung an die Erfordernisse der modernen Zeit, die sich durch maschinelle Produktion der Industrie und wachsende Großstädte mit unübersichtlichem Verkehr ausdrückten. Lendvai-Dircksen hingegen beurteilte das Neue Sehen der Fotografie nicht als Anpassung der Wahrnehmung an die Moderne. Zum einen stand sie dieserart Fortschritt generell kritisch bis ablehnend gegenüber, da sie eine Gefahr für den einzelnen Menschen hinter all den neuen Technologien vermutete: „der moderne Mensch kommt mittels Zeitung, Telefon, Radio, Flugzeug zu allem, nur nicht zu sich selbst. Der Wahn des Vielen und Immernochmehr verlangt dauernde Steigerung und Überbietung, Eindruck jagt Eindruck, der nie zum Erlebnis werden kann, weil die Ruhe dazu fehlt. Abgestumpftheit, Blasiertheit und Ekel sind natürliche Folgen, und nur Reizmittel und Sensation haben eine Aussicht auf Wirkung. Das ist ein unnatürlicher Zustand, der schwere Gefahren für den einzelnen wie für ein Volk nach sich zieht.“[11] Kein Wunder also, dass sie Themenbereiche der modernen Welt aus ihrer Fotografie ausklammerte.[12]

[...]


[1] So galten weder Fotografie noch Film anfänglich als neuartige Kunstformen, sondern vielmehr als technische Erfindungen, die sich in die Liste industrieller Entwicklungen einreihten. Die Fotografie wurde nach ihrer Erfindung in den 1830er Jahren zunächst vor allem als exaktes Abbild der Natur gefeiert. Über eine Annäherung zur Malerei durch den Pikturalismus gewann die Fotografie um die Jahrhundertwende mehr und mehr künstlerische Anerkennung. Erst nach 1900 erreichte sie jedoch einen eigenständigen Status als unabhängige Kunstform, der sich in den 1920er Jahren vor allem in den modernen Tendenzen des Neuen Sehens ausdrückte.

[2] Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2003.

[3] Susan Sontag, Against Interpretation, Vintage, London, 2001, S. 25-26.

[4] Fragebogen der Reichsschrifttumskammer vom 7. Februar 1938, in: Bundesarchiv Berlin (BArch), Lendvai-Dircksen, Erna, 2101074909, Standort 51.

[5] Erna Lendvai-Dircksen, Zur Psychologie des Sehens, in: Theorie der Fotografie II 1912-1945, Wolfgang Kemp (Hg.), Schirmer/Mosel GmbH, München, 1979.

[6] Nur wer Mitglied in der Reichskulturkammer war, konnte in seinem Beruf weiterarbeiten. Da der sogenannte „Arier-Nachweis“ bei der Aufnahme verlangt wurde, fungierte die Reichskulturkammer vor allem auch als kalkuliertes Instrument, um jüdische und politisch unerwünschte Künstler auszuschließen und somit an ihrer Berufsausübung zu hindern. Lendvai-Dircksen war ab 1933 Mitglied der Reichskulturkammer (Kunsthandwerk) und wurde 1936 Mitglied der Reichsschrifttumskammer als Bildberichterstatterin und 1944 auch als Schriftstellerin, in: BArch, Lendvai-Dircksen, Erna, 2101074909, Standort 51.

[7] Erna Lendvai-Dircksen, Zur Psychologie des Sehens, in: Theorie der Fotografie, Wolfgang Kemp (Hg.), 1979, S. 161.

[8] ebd., S. 160.

[9] Sergiusz Michalski, Neue Sachlichkeit – Malerei, Graphik und Photographie in Deutschland 1919-1933, Benedikt Taschen Verlag GmbH, Köln, 1994, S. 181.

[10] Wilhelm Kästner, in: Fotographische Rundschau, Heft 5, 1929, S. 93, in: Neue Sachlichkeit – Malerei, Graphik und Photographie in Deutschland 1919-1933, Sergiusz Michalski (Hg.), Köln, 1994, S. 182.

[11] Erna Lendvai-Dircksen, Zur Psychologie des Sehens, in: Theorie der Fotografie, Wolfgang Kemp (Hg.), 1979, S. 159.

[12] Eine Ausnahme stellt ihre Publikation „Reichsautobahn. Mensch und Werk“ dar, deren Fotografien in der „Großen Reichsausstellung Schaffendes Volk“ 1937 in Düsseldorf ausgestellt wurden. Lendvai-Dircksens Fotografien inszenieren die neuen Errungenschaften des Verkehrsbaus und fungieren somit als Propaganda für derartig moderne Technologien. „Der Bildband, kommentiert von Gedichten und poetischen Unterschriften, mischt Landschafts-, Brücken- und Bahnaufnahmen mit Porträts von Arbeitern, nicht jedoch: Arbeit. […] Hier werden Arbeiter besonders aufdringlich heroisiert, Brücken sakralisiert und die Bahnen naturalisiert.“ Erhard Schütz, „Jene blassgrauen Bänder“ oder „Anmut, Härte und Zielstrebigkeit“ – die Reichsautobahn in Literatur und anderen Medien des Dritten Reiches, 20. August 2004, <http://iasl.uni-muenchen.de/register/schuetz.htm#top103>.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Erna Lendvai-Dircksen - Modernes Sehen in Deutschland nach 1933?
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Kunsthistorisches Institut)
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
20
Katalognummer
V41729
ISBN (eBook)
9783638399364
ISBN (Buch)
9783638772600
Dateigröße
493 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erna, Lendvai-Dircksen, Modernes, Sehen, Deutschland, Hauptseminar, Fotografie, Drittes Reich
Arbeit zitieren
Sonja Longolius (Autor:in), 2004, Erna Lendvai-Dircksen - Modernes Sehen in Deutschland nach 1933?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/41729

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