Zur Affektenlehre Johann Matthesons. Affekte und deren musikalische Verwirklichung in "Der vollkommene Capellmeister"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

30 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Grundlagen: „Affektenlehre“
1.1 Bedeutung der Affektwirkung von Musik
1.2 Was die Leidenschaften sind: Begriff und Wesen
1.3 Affektive Wirkweise der Klänge
1.3.1 Klangempfindung
1.3.2 Affekttypisierung

2. Kompositorische Umsetzung der Affektenlehre
2.1 Sensualistischer Ausgangspunkt
2.2 Vorhabende Affekte
2.3 Mit-Empfindung
2.4 Erkenntnis affektauslösender Mittel
2.5 Affektverwirklichung in der Melodie
2.6 Affektdarstellung in Melodieklassen
2.6.1 Vokalmusik
2.6.1 Instrumentalmusik

3. Möglichkeiten der Affektdarstellung
3.1 Affektwirkung der Melodiegattungen
3.1.1 Übersicht Vokalgattungen
3.1.2 Übersicht Instrumentalgattungen
3.2 Affektwirkung der Rhythmen
3.3 Affektwirkung der Zeitmaße
3.4 Affektwirkung der Intervalle
3.5 Affektwirkung der Harmonie
3.6 Affektwirkung der Tonarten

4. Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Mattheson gilt als bedeutendster Musikschriftsteller des 18. Jahrhunderts und gar als Bahnbrecher der Traditionsbestände[1], insbesondere in Bezug auf die Affektdarstellung in Kompositionen. Er formulierte - in guter Kenntnis musiktheoretischer Werke und dem rhetorischen Bildungskanon[2] - seine Ansichten zur Affektdarstellung in den Orchestre -Schriften ab 1713, im Capellmeister 1739 erscheint die ausführlichste Darstellung der Lehre, im Jahre 1748 präzisiert er klangphysiologische Aspekte. Die Herausforderung für Mattheson stellt die Frage dar, auch die Instrumentalmusik in die seit circa 1600 zunächst nur auf die Wortausdeutung gerichtete musikalische Affektdarstellung zu integrieren. In den bisherigen musikästhetischen Schriften genoss die traditionelle Anbindung der Musiktheorie an Mathematik und Rhetorik den Vorrang. Vokalmusik galt, insbesondere seit Quintilian, als gleichberechtigte Disziplin neben der Rhetorik. In der Renaissance wurden rhetorische Prinzipien auf die Musik übertragen, um den Affektgehalt des Textes zum Ausdruck zu bringen. Als Hilfsmittel des Ausdrucks erschienen Figurenkataloge (Burmeister, Forkel) und eine musikalische Grammatik sollte die semantische Absicht der Musik sicherstellen. Lippius betrachtete in diesem Sinne die Musik wie eine geschmückte Rede mit Aufgabe der Affektivität. Zur sinnvollen Affektauslegung des Textes und zur Nachahmung des Sprachtonfalls wurden demnach konkrete kompositionstechnische Mittel vorgestellt[3].

Neben der Figurenlehre wurden in Affektenlehren bestimmten Affektetypen musikalische Darstellungsmittel beigeordnet. Insbesondere im 17. Jahrhundert galt für kompositorische Vorhaben der verbindliche scholastisch-thomistische Kanon von 11 Leidenschaften. Descartes hingegen entwarf in seinem Werk „De passionibus animae“ (1649) eine Systematik von sechs Grundaffekten, die im Sinne eines naturgesetzlichen mechanistischen Prinzips wirken konnten, wobei er Wirkungsgrad und Wirkweise mit den Temperamenten in Zusammenhang brachte[4].

Diese Arbeit soll der Frage nachgehen, wie Mattheson eine Affektenlehre als Zentrum seines Hauptwerkes, dem Vollkommenen Capellmeister, formuliert. Dabei soll im Gang der Untersuchung Fragen zu Affekten und ihrer musikalischen Verwirklichung nachgegangen werden. Im Mittelpunkt stehen die Informationen aus dem Capellmeister, ergänzt wird das Bild Matthesons Affektenlehre durch Vorläufer in den Orchestre -Schriften und Präzisierungen im Spätwerk.

Eröffnet wird die Arbeit mit den Grundlagen der Affektenlehre, die Mattheson insbesondere in der Vorrede und dem ersten Teil des Capellmeisters repräsentiert. Im Blickfeld steht zunächst (Kapitel 1.1) die Notwendigkeit der Affektdarstellung, die er konform zu anderen Theoretikern des Barock darlegt. Hiermit wird die von ihm aufgeworfene Frage beantwortet, „ob man sie (die Affekte) ausrotten oder zulassen und ihrer pflegen soll“.

Im Folgenden (1.2) soll zur Sprache kommen, wie Mattheson den Begriff „Affekte“ versteht: „was die Leidenschafften sind, wie viel dieselben gezehlet werden, auf was Weise sie in den Gang zu bringen sind“[5]. Die „Gründe der Gemütsneigungen“ werden im nachfolgenden Abschnitt (1.3) ausführlicher in den Blick genommen. Hierbei wird anhand Matthesons Naturlehre des Klanges aufgezeigt, wie er über die Wirkweise der Klänge zu einer Affekttypisierung gelangt. Diese natürliche Herleitung der Klangwirkung bildet die Grundlage für alle Schlussfolgerungen Matthesons in Bezug auf adäquate musikalische Mittel.

Im zweiten Teil der Arbeit wird die Anwendung der Grundlagen zu Affekten dargestellt. Gezeigt wird, wie Mattheson das Wissen zu verwirklichen wissen möchte. Was ist das von ihm erwünschte Vorgehen, um affekterregende Musik zu schaffen? Auf welchen innovativen Prämissen beruht es? Hierbei soll zudem deutlich werden, wer letztlich Regeln affekthaltiger Musik kreiert. In diesen Ausführungen erscheinen Anhaltspunkte für zukunftsweisende Ansichten Matthesons.

Abschließend (Kapitel 3) soll aufgeführt werden, welche Mittel Mattheson als Möglichkeiten der Affektdarstellung erkannt hat. Die Ausdrückung der Leidenschaften durch die Musik steht - nach musikalischen Gesichtspunkten gegliedert - im Focus des Interesses. Die Mittel der Affektverwirklichung lassen sich seiner Melodielehre im zweiten Teil des Capellmeisters entnehmen, in dem er darstellt „wie man durch den Klang Affecte erregen kann“. Obwohl grundsätzlich alle musikalischen Parameter affekterregende Eigenschaften aufweisen können, gilt den von Mattheson besonders ausführlich umschriebenen drei „platonischen“ (Tonart, Intervalle und Metrum)[6] die Aufmerksamkeit. Darüber hinaus wird auf die affektiven Aspekte der Harmonie und der Tonarten aufgrund reichhaltigerer Aussagen Matthesons eingegangen. Von Mattheson nur knapp angerissene Aspekte - wie die zur affektgetreuen Ausführung (Executio) und Gebärdenkunst, zu affektiven Qualitäten der Schreibarten und spezifischen Wirkungen der Instrumente sowie der Stimmpflege - können im Zuge dieser Arbeit nicht berücksichtigt werden.

Im Fazit kann dargestellt werden, welche Aspekte seiner Affektenlehre fortschrittliche Kraft aufweisen, insbesondere, inwiefern er der Herausforderung der textlosen Darstellung von Affekten in der Instrumentalmusik nachgekommen ist.

1. Grundlagen: „Affektenlehre“

1.1 Bedeutung der Affektwirkung von Musik

In Matthesons Musikschrifttum gruppiert sich die Kompositionslehre, die umfassend im Capellmeister von 1739 erscheint, um den zentralen Aspekt der Affekte. Schon in den frühen Orchestre -Schriften weist Mattheson auf die herausgehobene Bedeutung der Affekte in der Musik: ihr Ziel sei der Wohllaut, lässt er im Neu-Eröffneten Orchestre verlauten[7]. Im Werk von 1739 verdeutlicht er die Bedeutung affekthaltiger Musik: „Alles, was ohne löbliche Affekte geschieht, heißt nichts, gilt nichts, tut nichts“[8]. Zudem bindet er eine „Affektenlehre“ als Endzweck der Komposition in die Lehre für einen vollkommenen Kapellmeister ein. Denn als Adressat gilt für Mattheson der Hörer, als Ideal der galant homme, so dass es als „Endzweck unserer musicalischen Arbeit“ zu erreichen gilt: „das Vergnügen und die Bewegung der Zuhörer“ [9] .

Die Affektdarstellung in der Musik ist daher der Zielpunkt seiner Kompositionslehre, so definiert er bereits im ersten Hauptstück des Capellmeisters „Musik“ in Bezug auf die Affektverwirklichung: sie sei eine „eine Wissenschafft und Kunst, geschickte und angenehme Klänge klüglich zu stellen, richtig aneinander zu fügen, und lieblich heraus zu bringen, damit durch ihren Wollaut Gottes Ehre und alle Tugenden befördert werden“[10]. Musik ist demnach ausgerichtet auf den Wohllaut als „Zweck der gantzen Tonlehre“, ihre Materie sind „angenehme Klänge“.

Im Besonderen hebt Mattheson bereits in ersten Teil des Capellmeisters die Melodie als Affektträger heraus: Melodie sei Musik, wenn sie einen „feinen Gesang“ darstelle, bei dem Klänge „erwünscht aufeinander folgen“, so dass sie die Sinne rühre. Ihr Zweck sei es, dem Wohlgefallen und dem Anmut zu dienen und als „herzrührende(r) Gesang“ (nicht nur äußerlich lieblich, sondern mit verständiger Seele) Leidenschaften zu erregen[11].

Absicht seiner Kompositionslehre ist daher die Beschreibung der Voraussetzungen affektiv geprägten Komponierens. Mattheson möchte die „Verfertigung von Werck-Music als solche Music…die…das Herz oder Gemüth tüchtig bewege oder rühre“ lehren.[12]

1.2 Was die Leidenschaften sind: Begriff und Wesen

Unter „Affekten“ versteht Mattheson Gefühlsbewegungen als von außen erregte Seelenbewegung, bei der, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, Lebensgeister als Mittler zwischen den vom Ohr wahrgenommenen körperlichen Reizen infolge des Klangs (als Bewegung der Luftteilchen) in seelische Reize fungieren[13].

Klänge vermögen, so betont Mattheson bereits in der Vorrede des Capellmeisters, seelisch zu wirken, weil sie über eine gottgegebene natürliche Kraft verfügen[14], wie die Natur jeden Dings[15]. Das unmessbare, geistige Wesen der Klänge[16] als natürlich gegebene geistige Kraft hat die Kraft zur Bewirkung von Gemütsbewegungen, die ebenso zu den unzählbaren innerlich-seelischen Verhältnissen gehörten[17]. Die affektive Wirksamkeit der Klänge beruht demzufolge auf natürlichen Vorgängen, die den Ausgangspunkt seiner Lehre bilden[18]. Sie wirken jedoch erst in ihrer geschickten Anwendung, die der Erfahrung zu entnehmen sei[19].

Die Anzahl der Leidenschaften sei nicht genau zu umreißen und ihr Wesen nicht vollständig zu erfassen, da es sich mit den Affekten um ein „unergründliches Meer von menschlichen Gemüths-Neigungen“ handelt, das zu einer „ungemeinen Verschiedenheit in Ausdrückung der Affecten“ Anlass gebe[20]. Letztlich siedelt Mattheson affekterregende Musik aufgrund ihrer gottgewollten Eigenschaft zur Gemütsregulierung im Bereich des Tugendhaften an.[21]

Affekte sind in ihrer Möglichkeit zur Seelenbewegung der Endzweck der Musik, wodurch das Wissen und die Erfahrung um ihre Natur und Wirkweise zur Voraussetzung des vollkommenen Kapellmeisters werden.

1.3 Affektive Wirkweise der Klänge

Im ersten Teil des Capellmeisters legt Mattheson mit der Naturlehre des Klanges, welche die „Affektenlehre“ beinhaltet, einen Teil des Wissens vor, das ein Komponist zur gut eingerichteten Komposition benötige[22]. Die Naturlehre des Klanges mit der dazugehörigen Wissenschaft von den Gemütsbewegungen müsse bei jeder Komposition berücksichtigt werden, da andernfalls verfasste „liebliche Klänge, ohne herzrührenden Gesang“ die Gemüter nicht zu berühren vermögen[23].

1.3.1 Klangempfindung

Zur Naturlehre des Klanges, die natürliche Eigenschaften der Klänge wiedergibt, gehört Mattheson zufolge eine physiologische Erklärung zum Klang. Zunächst möchte er einen naturgemäßen Begriff von der Wirkweise der Klänge vermitteln[24]: Er stellt fest „dass der Klang sey eine gewisse, geschwinde Bewegung und Zusammenschlagung der feinesten Lufft-Theilgen, die empfindlich ins Gehör dringen“[25]. Der Klang werde – wie er präzisierend in seinem Werk 1748 die Klanglehre ausformuliert - den „Spannadern“ des Gehörs zugetragen, von denen jede einen harten und einen weichen Zweig hat. Diese ermöglichten es, hohe und scharfe, sowie tiefe oder stumpfe Klänge differenziert zu vernehmen[26].

Jedoch betont Mattheson zu Beginn der melodischen Wissenschaft, der Sinn des Gehörs sei der Seele vorbehalten[27]. Die physiologischen Grundlagen der Hörwahrnehmung sind daher nur die Voraussetzung des seelisch empfundenen Klangs. Mattheson meint: „In dem gerührten Ohr ist dieß Empfinden nicht; Nicht in den Nerven, nein, nicht ins Gehirnes Höhlen … Man spürt es bloß in unsrer Seelen“[28]. Nur die Seele, nicht das Ohr selbst empfinde den Klang, unterstreicht er auch in der systematischen Klanglehre von 1748[29]. Klänge wirken zwar über das „Objekt Ohr“, jedoch entfaltet sich die Wirkung nach körperlichen Vorgängen der Lebensgeister im Gemüt und den Gemütsbewegungen, den Affekten des Menschen.

1.3.2 Affekttypisierung

Mattheson schreitet zum Mittelpunkt seiner Naturlehre, indem er die natürlichen Eigenschaften des Klanges mit einer konkreten Affektwirkung beim Menschen verbindet. Bereits im vierten Stück der Naturlehre legt er dar, dass Klänge (implizit: über deren affektiven Wirkung auf das Gemüt) die Gemütsbeschaffenheit beeinflussen können, daraus folgend auch die Gemütsbewegungen der Seele auslösen, insofern der Musik sogar heilsame Wirkungen nachzuweisen sind.

Die affektive Wirkweise der Klänge differenziert er jedoch im wichtigsten und vornehmsten - dem fünften Stück - der Naturlehre[30]. Hierbei verknüpft er erst die Naturlehre mit der Affektenlehre.[31] Denn: die Affekte werden auf die Naturlehre bzw. eine natürliche Ursache zurückgeführt. Somit meint Mattheson mit dem Begriff „Affektenlehre“ „ein Lehrkonzept, das der Natur-Lehre, der Physik, entspricht“, wie Petersen erkennt.[32]

Die seelisch empfundenen Emotionen stellt Mattheson in Anlehnung an Descartes auf die Basis physiologischer Gesetzmäßigkeiten. Die Ausführungen Matthesons lesen sich gar – so Petersen – „zum größten Teil wie eine Zusammenfassung des Traktates „De passionibus animae“ von Descartes“[33]. Nach dessen Vorstellung gewährleisten die Lebensgeister - verstanden als materielle Teilchen[34] - den Übergang körperlicher Reize in seelische Reize. Die Lebensgeister als physiologische Ursache der Gemütbewegungen stellt Mattheson anhand von 5 Affekten dar:

· Die Liebe habe die Zerstreuung der Geister zum Grunde

· Freude werde durch Ausbreitung der Lebensgeister empfunden

· Die Hoffnung sei eine Erhebung des Gemüts oder der Geister

· Verzweiflung ist durch den Niedersturz derselben bedingt

· Trauer folge einer Zusammenziehung der Lebensgeister

Die Gemütsbewegungen werden demzufolge über eine bestimmte Veränderung der Lebensgeister bewirkt, aus der auf vernünftige und natürliche Weise folgt, wie ein Affekt auszudrücken ist[35].

2. Kompositorische Umsetzung der Affektenlehre

2.1 Sensualistischer Ausgangspunkt

Das Wissen der Klanglehre empfiehlt Mattheson durch eigene Erfahrung zu validieren[36]. Die Klänge als das Hörbare und Sinnenfällige sollen im Zentrum der Untersuchungen stehen.

Daher sind in Matthesons Schriften sensualistische Aussagen zur Erkenntnis zentral[37], sie stehen über allumfassenden Regeln der Affektdarstellung, die nach der Erfahrungs-Prämisse unmöglich sind. Die sensualistische Basis ist somit der Ausgangspunkt des von Mattheson als nötig erachteten Vorgehens, das wie folgt zusammengetragen werden kann[38]:

1. Der Komponist muss das Wesen der Klänge anhand Untersuchung deren Wirkung auf das Gemüt sinnlich erfassen.

2. Er muss die Affekte voneinander abgrenzen können, um Klarheit über vorhabende Affekte seines Werkes zu erreichen.

3. Den natürlichen Vorgängen – physiologischen Prozessen der Hörwahrnehmung folgend – und den empfundenen vorhabenden Affekten entsprechende musikalische Mittel und Melodielinien („Klanggänge“) finden, die diese beim Hörer dann folglich naturgesetzlich, „natürlich“ auslösen.

4. Für die Darstellung Umstände mit einbeziehen, sei es im Hinblick auf das vorherrschende Temperament bzw. den Geschmack der Zuhörer oder aufführungsörtliche Gegebenheiten.

Das Vorgehen zielt demnach auf empirisch gewonnene Erkenntnis affektauslösender Strukturen. Selbst das Urteil zu musikalischen Mitteln könne der Verstand nur fällen, insoweit es „mit dem Sinne übereinkömmt“[39]. Die Sinneswahrnehmung hat im Erkenntnisprozess daher erste Priorität. Schon im Beschützten Orchestre von 1721 bemerkt Mattheson, die Ratio dürfe keineswegs über das Gehör herrschen, sie sei nur Mitrichterin[40]. Der Affektgehalt der Musik beruht somit auf Empirie und sinnlichem Urteil des Komponisten[41].

2.2 Vorhabende Affekte

Um den Endzweck des Wohlgefallens zu erreichen, muss die Absicht eines Komponisten stets auf Affekte als vorzuhabende Materie zielen[42]. Bei einer jeden Melodie müsse “die Absicht auf die Vorstellung der regierenden Gemüths-Neigung gerichtet seyn, so dass die Instrumente mittelst des Klanges, gleichsam einen redenden und verständlichen Vortrag machen“, so Mattheson zur Notwendigkeit eines Sujetaffektes[43]. Er führt auch in Hinweisen zur Erfindung an: „worin man arbeite“ sei die besondere Leidenschaft, „die einer zur Vorstellung erwählet hat“[44].

Um die vorzustellende Leidenschaft präzise zu erfassen, müsse der Komponist die Affekte genau unterschieden lernen. So könne sich beispielsweise die Liebe „auf sehr verschiedene Weise begeben, und alle Liebe kann unmöglich auf einerley Fuß behandelt werden“[45]. Die Klarheit über die vorhabenden Affekte[46] ist demnach Voraussetzung für eine deutliche affekthaltige Aussage der Tonsprache. Sie gewährleiste, Affekte in ihren unerschöpflichen Graden, Stufen und Mischungen ihrer natürlichen Beschaffenheit vorzustellen[47]. Als besonderen Erfahrungsschatz verweist Mattheson neben der oben genannten Erfahrungsbasis auf vorhandene gelungene Werke, anhand derer Schaffende die Unterscheidung der Affekte lernen könnten[48].

[...]


[1] Hinrichsen: Sp.1339.

[2] Vgl. Hinrichsen: Sp. 822, 823.

[3] Vgl. Krones: Sp. 814-817, 822, 827, 829ff, 833.

[4] Vgl. Petersen-Mikkelsen: 46-49, Leopold: Sp. 34.

[5] Zitate Matthesons 1739: 15/52, 19/85.

[6] Vgl. Leopold: Sp. 36.

[7] Vgl. Mattheson 1713: 103/1. Die Fußnotenverweise beziehen sich jeweils in der ersten Zahl (vor dem Schrägstrich) auf die Seitenangabe und in der zweiten Zahl (nach dem Schrägstrich) auf den Paragraphen in Matthesons Schriften.

[8] Vgl. Mattheson 1739: 56/62.

[9] Ebd.: 129/66.

[10] Ebd.: 5/15.

[11] Ebd.: 20/89.

[12] Ebd.: 6/24.

[13] Ebd.: 18/75-76 u.a.

[14] Schon 1713 betont er den göttlichen Ursprung der Musik. Vgl. Mattheson 1713: 321/7.

[15] Vgl. Mattheson 1739 Vorrede: 17, 19/Fussnote 5.

[16] Mattheson definiert den Ton-Klang im Werk von 1748 eindeutig mit geistigem Wesen, das seelisch empfunden wird: „Der Ton-Klang sey also ein geistiges, unsichtbares Wesen, welches, durch die allerzärteste, innerliche Zusammenreibung der feinesten Theilchen eines dazu bequemen Werckzeuges rege gemacht, mittelst der äußern Luft zum Ohre geführet, und in der hörenden Seele empfunden wird.“ Mattheson 1748: 39/9.

[17] Vgl. Mattheson 1739 Vorrede: 17, 19-20. Demnach sei es auch ein Irrtum „dass die Mathematik der Musik Hertz und Seele sey“ und Gemütsveränderungen ihren Grund in äußerlichen (mathematischen) Verhältnissen der Töne haben. Vgl. Mattheson 1739 Vorrede: 16.

[18] Die Kunst betrachtet er in diesem Sinne als Dienerin der Natur bzw. deren natürlichen Schönheit und zu ihrer Nachahmung bestellt. Vgl. Mattheson 1739: 135/15; 143/61ff.

[19] „Denn die Seele, als ein Geist, wird empfindlich gerühret. Wodurch? Wahrlich nicht durch die Klänge an und für sich, noch durch ihre Größe, Gestalt und Figur allein; sondern hauptsächlich durch deren geschickte, immer neuersonnene, und unerschöpfliche Zusammenfügung…die…nur der edlere, innerliche Theil des Menschen begreiffen und beurtheilen kann, wenn ihn Natur und Erfahrung unterrichtet haben“. Mattheson 1739 Vorrede: 17.

[20] Mattheson 1739: 208/34.

[21] Die Tugend selbst versteht Mattheson daher „als eine wol-eingerichtete und klüglich gemäßigte Gemüths-Neigung“. Ebd.: 15/52, 32/31+32. Als Beispiel nennt er Tanzmelodien, welche löbliche Gemütsregungen und Tugenden rege, garstige hingegen verhasst machten. Ebd.: 208/33.

[22] Ebd.: 9/1ff.

[23] Ebd.: 20/89.

[24] Ebd.: 9/5.

[25] Ebd.: 9/4.

[26] Mattheson 1748: 40/10. Auch im Capellmeister findet sich die Vorstellung von den Spannadern des Leibes, auf die der Klang wirkt. Mattheson 1739: 15/48.

[27] Mattheson 1739: 12/26.

[28] Mattheson 1748: 44/14. Im Neu-Eröffneten Orchestre findet sich bereits diese Ansicht der physiologisch vermittelten, aber seelisch empfundenen Klangwahrnehmung: Das Gehör allein sei der Kanal, „durch welchen ihre Krafft in das innerste der Seelen eines … Zuhörers eindringet“. Mattheson 1713: 126-127/5.

[29] Vgl. Mattheson 1739: 11/17, Mattheson 1748: 45/15; 42/14.

[30] Mattheson möchte in diesem Kapitel somit die „Wirckungen der wol-angeordneten Klänge, welche dieselben an den Gemüths-Bewegungen und Leidenschafften der Seele erweisen“. Vgl. Mattheson 173.: 15/49.

[31] Ebd.: 19/85.

[32] Vgl. Petersen-Mikkelsen: 51.

[33] Ebd.: 52.

[34] Vgl. Leopold: Sp.34.

[35] Mattheson 1739: 16/55. Die Schlussfolgerungen zum musikalischen Ausdruck dieser Affekte finden sich im 3. Teil dieser Arbeit.

[36] Warum Erfahrung? Das „geistige Wesen des Ton-Klanges nimmt ihn.. von aller messfähigen Eigenschaft, Zahl und Größe gänzlich aus“. Spricht wegen des geistigen, unmessbaren Wesens der Klänge. Vgl. Mattheson 1739: 46/17.

[37] Demnach hebt Mattheson heraus, dass „nichts im Verstande, was nicht vorher in die Sinne gefallen ist.“ Mattheson 1739: 6/22. Schon im Neu-Eröffneten Orchestre legt er die Grundlage das, dass „allein in den Sinnen selbst… der eigentliche Ursprung aller Wissenschaft steckt“. Vgl. Mattheson 1713: 4.

[38] Mattheson 1739 Vorrede: 17-19, 16/55, Mattheson 1739: 109/69. Hinweise zum Vorgehen des Komponisten im Neu-Eröffneten Orchestre: Vgl. Mattheson 1713: 236/7.

[39] Mattheson 1739: 6/22. Behelfend zur Beurteilung der Sinneswahrnehmungen ist der Geschmack. Vgl. Mattheson 1744: 123.

[40] Vgl. Mattheson 1721: 176/18.

[41] Weitere Hinweise hierzu: vgl. Mattheson 1739 Vorrede: 6/22-23, 27-28; Vorrede 7/27+28.

[42] In dem Kapitel „Von den Gattungen der Melodien und ihren besondern Abzeichen“ des zweiten Teils, Capellmeister, formuliert Mattheson die Regel, ein Haupt-Abzeichen müsse vor anderen herrschen. Vgl. Mattheson 1739: 217/41.

[43] Ebd.: 127/45.

[44] Ebd.: 128/54, 129/60 + 16/61.

[45] Ebd.: 16/61.

[46] Nur „wenn er (der Komponist).. bisweilen selbst wüsste, was er eigentlich haben wollte“, der Komponist den Willen kenne, könnten Werke im Sinne des Affektgehalts gut geraten. Ebd.: 19-20/86.

[47] Ebd.: 17/65+67.

[48] Ebd.: 20/87.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Zur Affektenlehre Johann Matthesons. Affekte und deren musikalische Verwirklichung in "Der vollkommene Capellmeister"
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
30
Katalognummer
V417445
ISBN (eBook)
9783668669017
ISBN (Buch)
9783668669024
Dateigröße
494 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Musikalische Affektenlehre, Frühneuzeit, Johann Mattheson, Affektwirkung, Leidenschaften in der Musik, Affekttypisierung, Mitempfindung, Sensualismus, Affektdarstellung, Affektauslösung, Affektwirkung der Rhythmen, Affektwirkung der Harmonie, Affektwirkung der Tonarten, Affektwirkung der Intervalle, Affektwirkung der Zeitmaße, Musiktheorie, Komposition, Capellmeister, 18. Jahrhundert, Fortschritt
Arbeit zitieren
Susann Prager (Autor:in), 2014, Zur Affektenlehre Johann Matthesons. Affekte und deren musikalische Verwirklichung in "Der vollkommene Capellmeister", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/417445

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