Reform des Religionsunterrichts als Ansatz gegen Radikalisierung?


Hausarbeit, 2017

34 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Eine Gesellschaft im Wandel
2.1 Gesellschaftliche und religiöse Entwicklung in Deutschland
2.2 Überzeugungswandel - Säkularisierung und Individualisierung
2.3 Radikalisierung - eine logische Konsequenz?
2.3.1 Begriffsdefinitionen
2.3.2 Radikalisierung in Deutschland - was sagt die Forschung?
2.3.3 Mögliche Hintergründe

3. Religionsunterricht
3.1 Geschichte des Religionsunterrichts in Deutschland
3.2 Rechtliche und organisatorische Grundlagen
3.3 Religionsunterricht heute

4. Verschiedene Modelle - eine Lösung?
4.1 Der konfessionelle Bekenntnisunterricht
4.2 Der konfessionell-kooperative Religionsunterricht
4.3 Überkonfessionelle Religionskunde
4.4 Interreligiöse Kooperation

5. Kritische Gegenüberstellung

6. Zusammenführung der Ergebnisse und Fazit

7. Literatur- und Quellenverzeichnis

8. Anhang

1 Einleitung

„Wir schaffen das!“ ist der Satz des Jahres 20151 und wurde entsprechend oft zitiert. Optimistisch, verbindend und beschwichtigend wirkt diese Aussage von Kanzlerin Merkel, die sie auf einer Sommerkonferenz 2015 zum Thema Flüchtlingskriese propagierte. Während die Kanzlerin weiter daran festhält, sind sich laut einer aktuellen Emnid-Umfrage2 mehr als die Hälfte aller Bundesbürger nicht mehr so sicher, ob „wir das schaffen“. Die Flüchtlingspolitik geht nur langsam voran und die sich häufenden Terror-Schlagzeilen verbreiten zusätzlich Unmut in der Bevölkerung. Allein im Jahr 2016 gab es in Deutschland fast monatlich Anschläge. Im Juli zum Beispiel lief ein erst 17-Jähriger Flüchtling, mit einer Axt bewaffnet, in einer Regionalbahn nahe Würzburg Amok. Eine Woche später folgte ein Sprengstoffanschlag auf einem Ansbacher Festival, welcher mit der Terrorvereinigung „Islamischer Staat“ in Verbindung gebracht wird. Im November dann der schreckliche Mord an einer Freiburger Studentin, der ebenfalls von einem jugendlichen Flüchtling aus Afghanistan begangen wurde. Das Jahr endete mit einem schrecklichen Anschlag, als am 19. Dezember ein LKW in einen Berliner Weihnachtsmarkt fuhr und dabei 12 Menschen tötete und weitere 45 teils schwer verletzte. Und das kurz vor Heilig Abend - dem Tag an dem wir Jesus Christus gedenken, der geboren wurde um Frieden über die Welt zu bringen.

Die Frage nach dem „Warum?“ steht offen im Raum und verlangt nach Antworten seitens der Politik. Der Unmut der Bevölkerung schlägt sich unter anderem in den Wahlerfolgen der AfD und Pegida nieder und skizziert ein klares „Feindbild“. Dabei wird oft nicht differenziert. Der Hass auf „Ausländer“ im Allgemeinen erscheint psychologisch entlastender und intellektuell einfacher als die gewissenhafte Analyse ihrer wirklichen, nämlich meist politischen, ökonomischen oder sozialen Ursachen. So ist mit gewaltvollen Ausschreitungen, wie Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte, Sprengstoffanschlägen auf Moscheen, sowie zahlreichen Demonstrationen eine zunehmende Selbstjustiz in Deutschland zu beobachten, die das Land vor neue Herausforderungen stellt. Ob islamistische oder rechtsorientierte Gewalt - allem voran gehen gewisse Radikalisierungsprozesse, die sich oft im Jugendalter entwickeln. So spiegeln sich diese Themen unweigerlich auch in den Klassenzimmern wieder, was nicht nur die Schule im Allgemeinen, sondern auch den Religionsunterricht3 im Besonderen vor neue Herausforderungen stellt.

Denn gerade hier können die unterschiedlichen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler4, mit unterschiedlichen kulturellen und sozioökonomischen Hintergründen, unterschiedlichen Sprachen, Wertvorstellungen und Lebensformen im Rahmen eines ordentlichen Lehrfaches diskutiert werden. Doch ist Religion überhaupt überall ein „ordentliches“ Lehrfach? Welche Bedeutung hat der RU im 21. Jahrhundert, in dem die SuS katholisch, evangelisch, freikirchlich, atheistisch, islamistisch, alevitisch, neuapostolisch oder Zeugen Jehovas sind und wie kann ein RU aussehen, der allen gerecht wird?

Ziel der Arbeit ist es herauszufinden, wie die verschiedenen Bundesländer diese Fragen beantworten und die entsprechenden Konzepte kritisch zu hinterfragen. Die Erkenntnisse aus den Untersuchungen sollen letztendlich dazu dienen einen Hinweis zur Beantwortung der Leitfrage zu finden, ob eine Reform des RU als Ansatz gegen Radikalisierung dienen könnte.

Um diese beiden Aspekte miteinander in Verbindung zu setzen, findet im ersten Schritt, unter Punkt 2, eine Annäherung an die Thematik statt. Zunächst wird die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland dargestellt, sowie der Begriff der Radikalisierung erläutert. Im nachfolgenden Punkt 3 wird eine Brücke zum heutigen RU geschlagen, indem erst eine geschichtliche Einbettung erfolgt und die rechtlichen sowie organisatorischen Grundlagen geklärt werden. Unter Punkt 4 findet die Darstellung verschiedener Modelle an deutschen Schulen statt, die sich mit der Thematik der Heterogenität und deren Auswirkungen auseinandersetzen. Eine kritische Gegenüberstellung der Modelle befindet sich unter Punkt 5. Unter dem letzten Punkt 6 erfolgt eine abschließende Zusammenführung der Ergebnisse und ein Fazit.

Aufgrund der vorgegebenen Seitenzahl, kann nicht jeder Unterpunkt tiefgehend behandelt werden, womit der Anspruch auf Vollständigkeit entfallen muss. Jedoch folgt die Hausarbeit einer klaren Struktur, die eine gute Nachvollziehbarkeit gewährleisten und die zentralen Punkte stützen soll. So kann die vorliegende Arbeit als Überblick verstanden werden, der mithilfe der Angaben im Literaturverzeichnis noch vertieft werden kann.

2 Eine Gesellschaft im Wandel

2.1 Gesellschaftliche und religiöse Entwicklung in Deutschland

Der aktuellste Bericht des statistischen Bundesamtes wurde am 31. Dezember 2015 erhoben und am 29. März 2016 veröffentlicht. Demzufolge nahm im Jahr 2015 die Gesamtbevölkerung Deutschlands im Vergleich zum Vorjahr um 978 000 Personen (+ 1,2 %) zu und lag am Jahresende bei 82,2 Millionen. Das ist der höchste Bevölkerungszuwachs seit 1992. Hauptursache für den Zuwachs der Bevölkerungszahl ist die stark gestiegene Zuwanderung mit einem Überschuss von 1 139 000 Personen im Jahr 2015 (2014: + 550 000 Personen).5

In Deutschland leben insgesamt 17,1 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. 9,3 Millionen davon haben einen deutschen Pass und 7,8 Millionen werden als Staatsfremde oder Ausländer bezeichnet, da sie keinen Pass haben und somit im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG keine Deutschen sind. Rund 11,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund haben „eigene Migrationserfahrung“, was bedeutet, dass sie im Ausland geboren wurden und eingewandert sind.6

In Baden-Württemberg haben derzeit rund zwei Millionen Menschen einen Migrationshintergrund. Dies entspricht einem Anteil von ca. 21%. Damit liegt das Land im Bundesvergleich nach Bayern auf dem zweiten Platz. Den größten Anteil hierunter machen Türkischstämmige aus, gefolgt von Italienern, Einwohnern aus dem ehemaligen Jugoslawien, Polen, Griechenland, Russland und Tschechien in dieser Reihenfolge.7

Die zunehmenden Einwanderungszahlen führen auch zu einer Pluralisierung unserer Gesellschaft und einer enormen religiös-weltanschaulichen Vielfalt. Zu deren Verteilung in Deutschland gibt es einige Statistiken, die sich aber meist auf die Abgrenzung der großen Weltreligionen Christentum, Buddhismus, Islam, Hinduismus, Judentum und „Andere“ beschränken. Wird diese Verteilung jedoch weiter differenziert, ergibt sich ein sehr vielschichtiges Modell. Allein im Christentum gibt es einige verschiedene Strömungen, die sich teils sehr voneinander unterscheiden. So gibt es nicht nur Anhänger des Katholizismus oder des Protestantismus, sondern auch orthodoxe und unterschiedliche evangelische Bekenntnisse wie lutherisch, uniert, reformiert oder teilweise auch evangelisch-freikirchlich.

Auch Sondergemeinschaften und neue Religionen (wie die Zeugen Jehovas, die auch als Sekte bezeichnet werden) sowie Esoterik und Naturreligionen stellen religiöse Minderheiten dar, die einen immer größeren Anteil ausmachen und daher nicht zu vernachlässigen sind. Bedingt durch die Einwanderung wachsen auch andere, nichtchristliche Religionen, allen voran der Islam. Darunter gibt es wiederum unterschiedliche Strömungen, die oft nur wenig bekannt sind. Beispiele wären der Sufismus (eine islamische Strömung), das Bahaitum (Ursprung im Iran), die Maroniten (eine der größten und ältesten Religionsgemeinschaften im Libanon) u.v.m. Aber auch im Buddhismus, Hinduismus und Judentum gibt es einige Untergruppen, die in Deutschland aufgrund der Religionsfreiheit offen ausgelebt werden. So wird davon ausgegangen, dass es in Deutschland inzwischen rund 100 verschiedene Glaubensrichtungen gibt.8 Abgesehen davon gibt es noch einen sehr großen Teil der Bevölkerung der sich offen dazu bekennt, keiner Religion anzugehören. Hier gilt es zu unterscheiden zwischen Konfessionslosen und Atheisten. Ca. 28 Mio. Deutsche sind zwar konfessionslos, was aber nicht bedeutet, dass sie nicht religiös sind. Damit ist lediglich gemeint, dass sie aus der Kirche ausgetreten sind. Atheisten hingegen glauben generell nicht an Gott, wobei es auch unter ihnen unterschiedliche Auffassungen und freireligiöse Bewegungen gibt. So können sie beispielsweise dem Agnostizismus zugeordnet werden, der davon ausgeht, dass sich die Existenz, wie aber auch die Nichtexistenz eines Gottes nicht beweisen lässt.9 Wie eine aktuelle Statistik zeigt, machen die Konfessionsfreien mit 34% sogar den größten Teil in Deutschland aus - ein ansteigender Trend, der unter dem nachfolgenden Punkt 2.2 noch genauer erläutert wird. Die Protestanten liegen mit 29,9% auf dem zweiten Platz gefolgt von den römisch-katholischen Christen mit 28,9%. Die restlichen 7,1% verteilen sich auf 2,6% Muslime, 2,2% „Andere“, 1,3% Orthodoxe, 0,9% Evangelische Freikirchen und 0,1% jüdische Gemeinden. Angesichts der Zuwanderung ist die religiöse Verteilung im internationalen Kontext auch interessant, um Aussagen über die Entwicklung in Deutschland machen zu können. Obwohl das Christentum im weltweiten Vergleich immer noch die größte Religion darstellt (33%), ist jedoch ein stetiger Rückgang zu verzeichnen. Etwa im gleichen Maße steigt die Zahl der Agnostizisten. Der Islam hingegen ist mit 21% sehr stark vertreten und breitet sich statistisch gesehen immer weiter aus. Entsprechende Grafiken zu den religiösen Untergruppen deutschlandweit und international befinden sich zum Vergleich im Anhang (9.1).

2.2 Überzeugungswandel - Säkularisierung und Individualisierung

Warum steigt die Zahl der Kirchenaustritte eigentlich schon seit Jahren? Zwei Schlagworte, die sich in diesem Zusammenhang immer wieder in der Literatur finden sind Säkularisierung (oder Entkirchlichung) und Individualisierung.10 Mit der Säkularisierung ist der schwindende Einfluss von religiösen Institutionen auf das öffentliche und private Leben gemeint. Bis zu Beginn der Moderne war es die Kirche, die vorschrieb, wie die Menschen leben sollten, wenn sie sich die Aussicht auf das Paradies im Jenseits erhalten wollen. Im gegenwärtigen Leben der meisten Menschen in Industrienationen, kann sie bestenfalls Empfehlungen für ein religiöses Leben äußern. Wer sich nicht an solche Empfehlungen hält, hat jedoch auch nichts zu befürchten. Viel wichtiger als Religion und Kirche scheinen in der heutigen Gesellschaft Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zu sein.11 Dieser Trend äußert sich unter anderem in den steigenden Zahlen der Kirchenaustritte. Im Rekordjahr 2014 traten 217.716 Christen aus der Kirche aus.12 In einer Studie der EKD waren die drei Gründe für den Austritt mit der höchsten Zustimmung „Kirche unglaubwürdig“, „Kirche gleichgültig“ und „brauche keine Religion fürs Leben“13. Der zuletzt genannte Grund beschreibt zugleich das Prinzip der Individualisierung. Was man „braucht“, definiert in der heutigen Gesellschaft jeder für sich selbst. „Was bringt mir Religion überhaupt?“ scheint die vorherrschende Frage zu sein. Und sie ist angesichts des aufgeklärten, informierten, anspruchsvollen Lebens - „[einem] Paradies [im Diesseits] mit freie[n] Möglichkeiten, technisch garantierte[n] Sicherheiten, maximaler Selbstverwirklichung und luxuriöser Bequemlichkeit […]“14 auf den ersten Blick nicht leicht zu beantworten.

Mit der Frage, welche konkreten Glaubenshaltungen die Deutschen, insbesondere die Jugend, hat, beschäftigten sich die Theologen und Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Dr. Andreas FEIGE und Dr. Carsten GENNERICH. In ihrem Forschungsprojekt befragten sie mehr als 8000 konfessionsgebundene, konfessionslose und muslimische Berufschüler/-innen aus ganz Deutschland zu ihrer Alltagsethik, Moral und Religion. Bei der Frage nach dem Glauben - die konkrete Frage lautete: „Wer und was lenkt meinen Lebensverlauf?“ - lag die Antwort „nur ich selbst“ auf dem 1. Platz. Danach gaben die Jugendlichen das Zusammenleben mit den Eltern/Familie/Lebenspartner an und auf den dritten Platz wählten sie „Freunde“. Erst im letzten Drittel (Platz 8 von 12) folgte Gott.15 Interessant sind auch die Ergebnisse zum „Sinn des Lebens“. Mit gleicher Punktzahl auf den ersten Platz wurden gewählt: „…muss ich mir ganz allein selber schaffen/erarbeiten“, „…finde ich vor allem in dem, was ich selbst gestalten kann“, und „…finde ich vor allem in meiner Freizeit“. Auf den letzten Plätzen befanden sich die „Arbeit“ als Sinngeber und der „Glaube daran, dass es einen vorbestimmten Sinn des Lebens gibt“. Diese Studie verdeutlicht nur noch einmal mehr den Wertewandel unserer heutigen Gesellschaft. „Nur ich selbst… bin für meinen Lebensverlauf verantwortlich“. „Den Sinn des Lebens …muss ich mir ganz allein selber schaffen“. Beide Aussagen klingen selbstbewusst und losgelöst von jeglicher Instanz. Auf der anderen Seite erwecken sie jedoch auch den Eindruck von „auf sich allein gestellt sein“. Tatsächlich bietet das Leben in unserer pluralistischen Gesellschaft ein schier unübersehbares Angebot alternativer Lebens- und Sinndeutungsmöglichkeiten. Was auf der einen Seite der freien Entwicklung des Individuums zugutekommt, bedeutet auf der anderen Seite ein Problem für die Findung und Wahrung der persönlichen Identität.16 Besonders Kinder und Jugendliche, die diese Identitätsfindung noch nicht beendet haben, stehen einer beschleunigten Modernisierung ohne feste Rückkopplung an traditionelle Werte gegenüber. Wie verschiedene empirische Untersuchungen belegen, fehlt den Heranwachsenden die identitätssichernde Kraft traditioneller Institutionen und verpflichtender sozialer Orientierungsmuster, auch wenn sie es selbst oft nicht zugeben wollen.17 Statt in der Kirche treffen sich Jugendliche in Jugendzentren oder an selbst gewählten „heiligen Orten“ um dort ihren eigenen Glauben zu leben. Beeinflusst durch Massenmedien und Trends des sozialen Umfeldes entwickeln sie so ihre eigenen „Ersatzreligionen“, die sich in verschiedenste Richtungen entwickeln können.18

2.3 Radikalisierung - eine logische Konsequenz?

Dass die dargestellten Aspekte automatisch zur Radikalisierung führen, kann man so pauschal natürlich nicht sagen. Jugendliche suchen sich ihren Eigenen - oft auch beispielhaften und erfolgreichen - Wege. Trotzdem lässt sich besonders im Bereich der Radikalisierung unter Jugendlichen ein deutlicher Aufwärtstrend beobachten, worauf unter Punkt 2.3.2 genauer eingegangen wird. Zum besseren Verständnis sollen jedoch zunächst einige grundlegende Begriffe geklärt werden, die mit dem Radikalisierungsprozess in Verbindung stehen:

2.3.1 Begriffsdefinition - Radikalismus, Radikalisierung und Extremismus

Radikalismus (von lat „radix“ Wurzel) bezeichnet eine politische Einstellung, die von Grund auf, von der Wurzel her, die Dinge ändern möchte. Damit sind alle Einstellungen gemeint, welche die bestehende gesellschaftliche Ordnung total verändern und die demokratischen Regeln abschaffen wollen. Dabei können die Zielsetzungen unterschiedlich sein, aber der bereitwillige Einsatz gewalttätiger Mittel ist allen gemein. „Menschen mit radikalen Einstellungen sind oft fanatisch und lassen die Vorstellungen anderer nicht gelten. Sie sind intolerant und beharren kompromisslos auf ihren eigenen Vorstellungen.“19 Der Begriff der Radikalisierung hingegen beschreibt einen Prozess, der in einer radikalen Einstellung mündet. Eine Person mit radikalen Handlungsweisen (noch nicht aber mit radikalen Einstellungen) wird als Extremist bezeichnet. Der politische Philosoph Roger SCRUTON versteht darunter nicht nur Menschen, die „fundamentalen Werten und Überzeugungen […] entgegenstehen“20, sondern auch die Methoden, die sie zur Durchsetzung der Ziele einsetzen. So kann nicht nur Rechts- oder Linksextremismus, sondern auch der Umweltschutz, der von einer großen Mehrheit der Bevölkerung als positiv betrachtet wird, als extremistische Handlung bezeichnet werden, sobald gewalttätige Mittel zum Einsatz kommen (wie zum Beispiel Anschläge auf Fabriken, Entführung von Industriemanagern oder Ähnliches). Im Zusammenhang mit der Forschungsfrage ist besonders der Prozess der Radikalisierung interessant. Über die genauen Ursachen, die zu einer Radikalisierung führen, besteht unter Wissenschaftlern keine Einigkeit. Klar ist jedoch, dass es sich um eine Anzahl von verschiedenen Vorgängen handelt, die sich über einen gewissen Zeitraum hinweg abspielen. Es geht deshalb nicht ausschließlich um das Vorhandensein bestimmter Faktoren und Einflüsse, sondern vor allem auch um deren Zusammenspiel, die Entwicklung und den Verlauf.21

2.3.2 Radikalisierung in Deutschland - Was sagt die Forschung?

Wie eine bevölkerungsrepräsentative Langzeituntersuchung zur politischen Einstellung in Deutschland zeigte, ist in der deutschen Gesellschaft eine radikale Einstellung inzwischen weit verbreitet. Im Rahmen der Studie mit dem Titel „Die enthemmte Mitte“ wurden im Frühjahr 2016 insgesamt 2420 Menschen aus ganz Deutschland befragt. Die Hälfte der Befragten gab an, sich angesichts vieler Muslime manchmal wie ein „Fremder im eigenen Land“ zu fühlen.22 33,8% der Befragten gaben zudem an, dass Deutschland in einem gefährlichen Maß überfremdet sei.23 Doch nicht nur der Rechtsradikalismus steigt. Auch der Islamismus stellt eine ernstzunehmende Gefahr dar. Anders als der Rechtsradikalismus gründet diese Form der Radikalisierung auf einer religiös-politisch geprägten Ideologie. Ein häufiges Missverständnis beruht auf den Begriffen Islam und Islamismus, weshalb diese Begriffe im Folgenden nochmals kurz voneinander abgegrenzt werden. Während der Islam die Religion der Muslime im Allgemeinen bezeichnet, sind Islamisten radikalisierte Muslime, die sich der fundamentalistischen Auslegung ihrer heiligen Schrift verschrieben haben. Sie halten die darin vorgegebenen Gebote für die einzig wahre Staats- und Gesellschaftsordnung, die sie auch unter Gewalteinsatz verbreiten wollen. Damit richten sie sich gegen die Wertvorstellungen des Grundgesetzes (im Folgenden GG) und stellen somit eine Bedrohung für jede Demokratie dar.24 Wie auch im christlichen Fundamentalismus machen sie jedoch nur einen kleinen Teil unter den Gläubigen ihrer Religion aus und so muss sehr genau zwischen Islam und Islamismus unterschieden werden. Woher kommen die Islamisten? Bemerkenswert ist zunächst einmal die Tatsache, dass Islamisten nicht zwangsläufig einen Migrationshintergrund haben. Nach Florian ENDRES, Leiter der Beratungsstelle Radikalisierung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), handelt es sich bei Islamisten oft auch um deutsche Jugendliche, in deren Familien die Religion oft kaum eine Rolle gespielt hat. Etwa die Hälfte der BAMF-Beratungsfälle sind deutsche Jugendliche, die aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten stammen. Daher bezeichnet Endres die Radikalisierung als ein "gesamtgesellschaftliches Phänomen".25

2.3.3 Mögliche Hintergründe

Für mögliche Ursachen und Hintergründe von Radikalisierung - ob rechtsradikal, islamistisch oder anderweitig orientiert - gibt es zahlreiche Hypothesen, Modelle und Theorien. Da es sich bei dem Radikalisierungsprozess um einen individuellen Werte- und Weltanschauungswandel handelt, ist er von Mensch zu Mensch verschieden, wodurch es kein universell gültiges Radikalisierungsmodell geben kann. Jedoch lassen sich laut Peter NEUMANN, Direktor des International Center for the Study of Radicalisation (ICSR), drei Elemente, in den meisten Modellen und Theorien ausmachen:26

1.) „Die Erfahrung von Unmut, Unzufriedenheit und Konflikt.“ Hier kann es sich um einen persönlichen Identitätskonflikt handeln, wobei Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen oder auch politische und soziale Spannungen dabei beteiligt sein können. Dies kann die Bereitschaft fördern eigene Denkmuster zu ändern und mit neuen Ideen und Wertvorstellungen zu experimentieren.27
2.) „Die Annahme einer extremistischen Ideologie.“ Ideologien kennzeichnen sich durch die Identifikation eines „Schuldigen“ ("die Juden", "die Ausländer", "der Westen" u.s.w.) und eine entsprechende Lösung ("der Gottesstaat", "nationale Revolution", "die Diktatur des Proletariats" u.s.w.). Soziologen bezeichnen diese Funktionen als "diagnostisch", "prognostisch" und "motivierend".“28
3.) „Die Einbindung in Sozial- und Gruppenprozesse“. Einige Sozialwissenschaftler argumentieren, dass risikoreiche Formen des politischen Aktivismus besonders viel Einsatz und Mut erfordern. Diese sind oft das Ergebnis von starken sozialen Bindungen und Gruppendynamik.29

Das sich Radikalisierung vor allem „im Kopf“ abspielt, befürworten verschiedene Wissenschaftler aus Fachkreisen. Fabian WICHMANN vertritt die Organisation "Exit Deutschland", die Menschen bei ihrem Ausstieg aus der rechtsextremen Szene hilft. Seiner Meinung nach liegt die große Versuchung in einem "universellen Versprechen", das von vielen extremistischen Organisationen gemacht wird, nachdem all die gesellschaftlichen, persönlichen oder familiären Probleme gelöst werden können. Eine besondere Rolle kommt dabei den sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter und Instagram zu. Da jeglicher Inhalt kaum kontrolliert „gepostet“ werden kann, bietet sich hier ein perfekter Nährboden für die Verbreitung extremistischen Gedankenguts, das innerhalb von Sekunden von mehreren Millionen Menschen gesehen werden kann. Dass die Angst vor dem Fremden oft unbegründet ist, beschreibt der frühere Vorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang HUBER folgendermaßen: "Nicht die reale Erfahrung […], sondern die Imagination eines Konflikts, […] führt dazu, dass man die gar nicht anwesenden Fremden oder die nur in kleiner Zahl anwesenden Fremden zu Feinden erklärt."30 Es lässt sich also festhalten: Radikalisierung ist keine psychiatrische Erkrankung, sondern oft fehlende Aufklärung.

[...]


1 Gesellschaft für deutsche Sprache e.V. (Hrsg.) (2015). Wiesbaden

2 Kantar EMNID, a Kantar Group Company (Hrsg.) (2016). Umfrage vom 28.07.2016.

3 Im Folgenden abgekürzt mit RU

4 Im Folgenden Abgekürzt mit SuS

5 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2016): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Ausländische Bevölkerung. Ergebnisse des Ausländerzentralregisters. Fachserie 1. Reihe 2., S.7

6 Vgl. Mediendienst Integration in Zusammenarbeit Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2015

7 Vgl. Statistisches Landesamt BW (Hrsg.) (2016): Bevölkerung nach Nationalität

8 Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e.V. (REMID) (Hrsg.): Religionen & Weltanschauungsgemeinschaften

9 Auffarth/Kippenberg/Michaels (2006): Wörterbuch der Religionen, S. 72

10 Vgl. Heimbach-Steins/Kruip/Wendel 2011, S. 53 ff.

11 Vgl. Becker, P./Diewald, U. 2014, S. 14

12 Vgl. Deutsche Bischofskonferenz (HRSG.), PRESSEMELDUNG VOM 15.07.2016 - NR. 126

13 Vgl. EKD (Hrsg) (2014). Engagement und Indifferenz. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, S.81

14 Kunstmann 2010, S. 60

15 Vgl. Feige/Gennerich 2008, S. 82-88

16 Vgl. Tauz, M., 2007, S. 49 ff.

17 Vgl. ebd. S. 50

18 Vgl. Weimer, L., 2002, S. 31

19 Schneider, G. / Toyka-Seid, C.(2013): Das junge Politik-Lexikon, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung

20 Vgl. Scruton, R. (2000): The Palgrave Macmillan Dictionary of Political Thought, Basingstoke 20073 in Neumann, P. (2013): Deradikalisierung. Aus Politik und Zeitgeschichte, S. 29 -31

21 Vgl. Neumann, P., 2013, S. 29-31

22 Vgl. Decker, O./Kiess, J./Brähler, E. (2016): Die Leipziger „Mitte“-Studien 2016. Leipzig: Psycho-Sozial Verlag

23 Entsprechende Grafiken zur Auswertung der „Mitte-Studie“ befinden sich im Anhang unter der Nummer 9.2.

24 https://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-islamismus-und-islamistischer-terrorismus/was-ist- islamismus

25 http://www.bamf.de

26 Vgl. Neumann, P. (2013): Radikalisierung, Deradikalisierung und Extremismus. Online Beitrag für die BpB

27 Vgl. Neumann, P. (2013), zitiert nach Wiktorowicz (2005): S. 20-24

28 Vgl. ebd. S. 74-88

29 Vgl. ebd. S. 99-136

30 Lückoff, J. (2015): Wieso sich Menschen radikalisieren. Für Bayerischer Rudfunk am 27.11.2015

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Reform des Religionsunterrichts als Ansatz gegen Radikalisierung?
Hochschule
Pädagogische Hochschule Weingarten
Note
1,5
Autor
Jahr
2017
Seiten
34
Katalognummer
V417871
ISBN (eBook)
9783668669796
ISBN (Buch)
9783668669802
Dateigröße
764 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
reform, religionsunterrichts, ansatz, radikalisierung
Arbeit zitieren
Adrienne Kaergel (Autor:in), 2017, Reform des Religionsunterrichts als Ansatz gegen Radikalisierung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/417871

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Reform des Religionsunterrichts als Ansatz gegen Radikalisierung?



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden