Zur Stellung von Bachs Matthäuspassion in ihrer Zeit


Seminararbeit, 2000

24 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsangabe

1. Einleitung

2. Passion

3. Die Matthäus-Passion
3.1 Entstehungsgeschichte und Wiederaufführung
3.2 Aufbau

4. Die Matthäus-Passion in ihrer Zeit
4.1 Die Zeit des Barock
4.2 Andere Passionen
4.3 Zur Rezeptionsgeschichte

5. Schlußwort

6. Literatur

1. Einleitung

Johann Sebastian Bach wird 1685 in den Schoß einer protestantischen Musikerfamilie geboren. Nach dem Besuch der lutherischen Lateinschule und der Michaelisschule in Lüneburg nimmt er Tätigkeiten als protestantischer Kirchenmusiker unter anderem in Arnstadt, Mühlhausen und Weimar an. Am 22. April 1723 wählt ihn der große Rat der Stadt Leipzig zum Thomaskantor, und Bach widmet sich somit nach einer weltlichen Stellung am Hof des Fürsten Leopold zu Anhalt-Köthen, die er ab 1717 innehat, wieder der geistlichen Musik. Seine Aufgabe in Leipzig ist es, in den beiden Hauptkirchen St. Thomas und St. Nikolai für die musikalische Verkündigung der heiligen Schrift zu sorgen.

Das Kirchenjahr, beginnend mit der Adventszeit und seinen wichtigsten Festkreisen Ostern und Weihnachten, strukturiert das Leben der Leipziger Gemeinde. Der Karfreitag, der höchste christliche Feiertag, bindet insofern eine gewisse Erwartenshaltung der Kirchengänger an den Gottesdienst an sich.

Die Tradition, in der Karwoche die Passionsgeschichte musikalisch vorzutragen, reicht bis weit in die vorreformatische Zeit zurück. Die Passionen sind ein Teil der Liturgie: „Nach alter römischer Tradition wurde die Passion nach Matthäus am Beginn des Palmsonntag-Gottesdienstes gelesen (...), die Perikopen von Markus auf Dienstag, von Lukas auf Mittwoch und von Johannes auf Freitag.“[1] Nach neuer Ordnung verbleibt das Johannesevangelium am Karfreitag, während Palmsonntag im jährlichen Wechsel die Texte nach Matthäus, Markus und Lukas der Eingangsprozession folgen.

Ab 1721 werden in der Thomaskirche Leipzig oratorische Passionsmusiken in den Vespergottesdienst eingeführt, damals noch unter dem Thomaskantor Johannes Kuhnau, der als „Director musices“ der Stadt eine oratorische Markus-Passion schrieb.[2] Davor wurde nur das vororatorisch-responsoriale Modell aufgeführt. In diesem Zusammenhang erscheint die Matthäus-Passion Bachs, Ende der 1720er uraufgeführt, als selbstverständliches liturgisches Auftragswerk, als Bachs Beitrag zu der Liturgie. Der äußere Aufbau der Matthäus-Passion ist dem angepaßt: Sie ist zweigeteilt, zwischen den Teilen soll die Predigt gehalten werden.

Jedoch steht die Matthäus-Passion Bachs insgesamt in einem besonderen Licht. Am Anfang des ersten Teils steht das Exordium, das die Gemeinde zur Sammlung aufruft und auf die Passion einstimmt.[3] Dieser Teil nimmt einen großen Rahmen ein: Zwei Chöre stellen eine Gruppe von Gläubigen dar, die die Töchter der Stadt Jerusalem, die Töchter Zions, anrufen: „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ (Nr.1). In diese Bitte hinein erklingt von einem dritten, einstimmigen Chor der Passionschoral „O Lamm Gottes, unschuldig“. Die beiden Hauptchöre rufen sich Fragen und Antworten zu, die jeweils in einer Choralzeile enden. Im Anschluß beginnt die Vorgeschichte mit der Leidensankündigung. Nach dem Einsatz des Evangelisten erklingen die ersten Jesusworte: „Ihr wisset, daß nach zweien Tagen Ostern wird, und des Menschen Sohn wird überantwortet werden, daß er gekreuziget werde.“ Die Gemeinde mischt sich hiernach fragend ein:“ Herzliebster Jesu, was hast Du verbrochen“ (Nr. 3). Nach diesem kurzen retardierenden Moment wird die Handlung mit der Versammlung der Hohepriester vorangetrieben, verkörpert durch den Chor, der die Priester, Schriftgelehrte und Ältesten darstellt und fordert: „Ja nicht auf das Fest, auf daß nicht Aufruhr werde im Volk.“ „Die Stärke der Besetzung erinnert an das historische Vorbild: Der Hohe Rat, der Sanhedrin, setzte sich aus 70 Mitgliedern zusammen.“[4]

Bach unterstreicht und verdeutlicht während der Passion musikalisch, was geschieht: z.B. die niedertropfenden Tränen in der Altarie „Buß und Reu“ (Nr.10) durch abwärts geführte Akkordbrechungen, von den Flöten staccato gespielt; oder das Weinen der verzweifelten Jünger in dem Violinsolo der Altarie „Erbarme dich“ (Nr.47) im zweiten Teil.[5]

Im Abschlusschor kommen die Töchter Zions noch einmal zu Wort; die beiden Chöre rahmen das gesamte Werk ein.

Solche eine geradezu opernhafte Darstellung war in der Kirche nicht gerne gesehen und verunsicherte die (eine solche Aufführungsart nicht gewohnte) Gemeinde[6]: Der Vertrag des Kantors (von Bach am 5.5.1723 unterzeichnet) beinhaltet z.B. folgende Passage (Nr. 7)[7]:

Zu Beybehaltung guter Ordnung in denen Kirchen die Music dergestalt einrichten, daß sie nicht zu lang währen, also auch so beschaffen sein möge, damit sie nicht opernhafftig herauskommen, sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht aufmuntere.

Wieso gestaltet Bach nun seine Matthäus-Passion so elaboriert und läßt sie so aus dem gewohnten Rahmen fallen?

Der Dichter Christian Friedrich von Henrici (1700-1764), unter dem Künstlernamen Picander bekannt und verantwortlich für die poetischen Formen der Passion, die Bach als Rezitative, Arien und Chöre vertont, hatte seine Textvorlage nicht auf Zweichörigkeit angelegt. Auch hier entschied sich Bach für eine Besonderheit zur Unterstreichung der antiphonalen Anlage und damit als weiteres Mittel der Dramatisierung.[8]

Weitere Anhaltspunkte, wieso die Matthäus-Passion nun aus dem damals Üblichen herauszuragen scheint, sollen im weiteren anhand einer Beschreibung der Entstehungsgeschichte und des Aufbaus behandelt werden, um die Matthäus-Passion abschließend in Bezug auf andere Passionen ihrer Zeit in etwa einordnen zu können.

2. Passion

Die Passion beschreibt die Leidensgeschichte Jesu Christi auf der textlichen Grundlage der Evangelien Matthäus (Kapitel 26, 27), Markus (Kapitel 14, 15), Lukas (Kapitel 22, 23) und Johannes (Kapitel 18, 19).

Sie beginnt nach Jesu Einzug in Jerusalem mit dem Plan der Hohepriester und der Ältesten, die Rat halten, wie sie Jesus ergreifen und töten können. Nach dessen Salbung in Bethanien beschließt der Jünger Judas, Jesus gegen den Preis von 30 Silberlingen bei sich bietender Gelegenheit zu verraten. Am nächsten Tag findet das letzte Abendmahl statt, bei dem Jesus seinen Jüngern sagt, daß einer ihn verraten werde, worauf hin jeder fragt: „Herr, bin ich’s?“. Zudem kündigt Jesus Petrus an, daß er ihn, bevor der Hahn am nächsten Morgen kräht, dreimal verleugnen werde, was Petrus jedoch für unmöglich hält.

Des Nachts ist Jesus im Garten Gethsemane mit seinen Jüngern, die, obschon sie mit Jesus wachen sollten, in tiefen Schlaf fallen. Plötzlich erscheint Judas mit den Hohepriestern und den Ältesten des Volkes. Durch einen Kuß gibt er Jesus als solchen erkenntlich und dieser wird von den Soldaten gefangengenommen. Vor dem Hohepriester Kaiphas wird Jesus der Gotteslästerung beschuldigt und zum Tode verurteilt. Petrus, der im Hof sitzt, verleugnet seinen Herrn wirklich dreimal, ehe der Hahn kräht und weint bitterlich; Judas, der am Morgen von dem Todesurteil erfährt, gibt die 30 Silberlinge zurück und erhängt sich.

Zunächst wird Jesus vor den Statthalter Pontius Pilatus geführt, der dem Volk die Wahl läßt, wer gekreuzigt werden soll: Jesus Barrabas oder Jesus, der sagt, er sei der Christus. Nachdem die Menge sich für Barrabas entschieden hat, führen römische Soldaten Jesus zur Geißelung, nach welcher er mit aufgesetzter Dornenkrone, einen Purpurmantel umgehängt nach Golgatha gebracht wird. Dort steht sein Kreuz zwischen den Kreuzen zweier Räuber. Von der sechsten bis zur neunten Stunde an legt sich Dunkelheit über das Land. Zur neunten Stunde ruft Jesus zweimal: „Eli, Eli, lama asabtani?“ (das heißt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“) und stirbt. Die Erde erbebt, der Vorhang im Tempel zerreißt in zwei Stücke, die Felsen zerbersten und Gräber tun sich auf, so daß der Hauptmann, der an Jesu Kreuz Wache steht, bekennt: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“.

Am Abend geht Josef, ein Jünger Jesu, zu Pilatus und bittet um den Leib Jesu, den er in frisches Leinen wickelt und in ein neues Grab legt. Nachdem er einen Stein vor den Grabeingang gerollt hat, bleiben Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakob und Josef, Frau des Zebedäus, die Nacht wachend vor dem Grab sitzen. Am nächsten Tag kommen die Hohepriester mit den Pharisäern zu Pilatus, berichten, daß Jesus gesagt habe, er wolle am dritten Tage auferstehen, so daß Pilatus befiehlt, man möge das Grab so gut es ginge bewachen und den Stein versiegeln.

Die Matthäus-Passion von Bach (also eine Passion auf der Grundlage des Evangeliums nach Matthäus) endet mit der Grablegung – manche Passionen beschreiben weiterhin die Auferstehung Christi.

Den „Erzählerpart“ übernimmt der Evangelist, wörtliche Rede und auch Gegenrede Einzelner „Soliloquenten“ (von lat. solus = allein und loquentes = die Redenden) oder „alienae personae“ (lat. die übrigen Personen)[9] z.B. Christus, Pilatus, Petrus, Pilati Weib, Mägde, Diener etc. und die Ausrufe der Menge (wie die Volksmenge der Juden oder Kriegsknechte) die „Turbae“ bzw. „Turbachöre.[10]

Die Passionen sind Teil der Liturgie in der Karwoche. „Nach alter römischer Tradition wurde die Passion nach Matthäus am Beginn des Palmsonntag-Gottesdienstes gelesen (...), die Perikopen von Markus auf Dienstag, von Lukas auf Mittwoch und von Johannes auf Freitag.“[11] Nach neuer Ordnung verbleibt das Johannesevangelium am Karfreitag, während Palmsonntag im jährlichen Wechsel die Texte nach Matthäus, Markus und Lukas der Eingangsprozession folgen. Wie es sich mit dem Einsatz im protestantischen Deutschland bei Bach verhält, soll später erläutert werden. Die Anfänge der protestantischen Passion, „weithin gleichbedeutend mit deutschsprachiger Passion, verlieren sich in der Praxis gottesdienstlicher Lektionen.“[12] Belegt ist eine Meldung, daß 1531 im Münster in Straßburg die Passion auf deutsch gesungen wurde.

Die Aufführung in der Kirche als Vokalpassion erfolgt schon früh mit verteilten Rollen (belegt ab dem 9. Jahrhundert) und wechselnder Rezitationshöhe (Tuba) des Gregorianischen Chorals[13]: Christus mit Tuba in der Tonhöhe f, durch den Priester vorgetragen (tiefe Rezitationsebene), Evangelist mit der Tuba c‘ (Diakon, mittlere Rezitationsebene) und die Soliloquenten und Turbae auf Tuba f‘ (ausgeführt von dem Subdiakon, hohe Rezitationsebene). Der Passionston f ist die Basis für die mehrstimmige Passions-Komposition, somit standen viele Passionen später in f.

In der motettischen Passion wird der gesamte Evangeliumstext mehrstimmig durchkomponiert, auch der Erzählerpart des Evangelisten. Die motettische Durchführung beruht auf der Imitation eines Soggettos[14] durch sämtliche Stimmen eines polyphonen Satzes. In der mottetischen Passion wechselt zudem die Stimmenzahl der Soliloquenten zwischen zwei und drei, die der Chöre zwischen vier und fünf Stimmen. Der Evangelist ist durchweg vierstimmig. Deutsche, protestantische Passionen dieser Art stammen von Burck (1568), Lechner (1593), Demantius (1641) u.a.[15]

Die älteste mehrstimmige Passion, die seit dem Ende des 14. Jahrhunderts in Frankreich nachzuweisen ist, ist die responsoriale Passion (auch dramatische oder szenische Passion genannt). Hierbei wechselt ein Vorsänger mit einem Chor, wobei der Evangelist einstimmig, die Soliloquenten ein- bis dreistimmig und die Turbae meist chorisch ausgeführt werden. Die erste deutschsprachige Passion stammt von Johannes Walter (um 1530), die bekanntesten responsorialen Passionen von Heinrich Schütz. „Er schrieb je eine Matthäus-, Lukas- und Johannes-Passion.“[16]

Ein seit der Mitte des 17. Jahrhunderts verbreiteter Typus der Passionsvertonung mit mehr oder weniger konsequenten Instrumentalisierung ist die oratorische Passion. In den Ablauf sind Choräle für die Gemeinde, Generalbaß- und Orchesterbegleitung und Arien mit eigenem Text eingefügt. Es wurden folgende neue Formen aus Oper und Oratorium übernommen: Das Secco-Rezitativ (nur vom Generalbaß begleitetes Rezitativ) für den Evangelisten und die Soliloquenten, das Accompagnato-Rezitativ (vom Orchester getragenes Rezitativ), als lyrische Betrachtung oft zwischen Secco-Rezitativ und Arie geschoben; und die Da-Capo-Arie, Arioso und Chöre mit frei hinzugedichteten Texten (siehe auch Kapitel 2. II. Aufbau). Die bekanntesten oratorischen Passionen stammen von Georg Böhm (Lukas-Passion, 1711), Reinhard Keiser (Markus-Passion, um 1712), Georg Philipp Telemann (46 Passionen, 1722-1767) und Johann Sebastian Bach, der neben der Matthäus-Passion (BWV 244) noch eine Markus- (BWV 247), Lukas- (BWV 246) und Johannes-Passion (BWV 245) schrieb. Letztere ist neben der Matthäus-Passion als einzige vollständig erhalten geblieben.[17]

[...]


[1] Fischer, Kurt von. (21995). Passion. In Ludwig Finscher (Hrsg.). Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3. Kassel: Bärenreiter, S. 1454

[2] Fischer, Kurt von. (21995). Die Passion: Musik zwischen Kunst und Kirche. Kassel: Bärenreiter. Stuttgart: Metzler, S.103

[3] folgender Abschnitt zusammengefaßt nach: Platen, Emil (31999). Johann Sebastian Bach Die Matthäus-Passion. Entstehung, Werkbeschreibung, Rezeption. Kassel: Bärenreiter, S. 73-109

[4] aus: http://www.meome.de/statics/external/frameset.html, ãhttp://www.klassic.com/de

[5] Platen (31999), S.75f

[6] siehe auch 2.III.c) Zur Rezeptionsgeschichte

[7] Platen (31999), S. 36

[8] Platen (31999), S. 73

[9] Platen, Emil (31999). Johann Sebastian Bach Die Matthäus-Passion. Entstehung, Werkbeschreibung, Rezeption. Kassel: Bärenreiter, S. 244

[10] dtv-Atlas Musik (192000). Bd.1, Artikel „Gattungen und Formen/Passion“. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag und Kassel: Bärenreiter, S. 139

[11] Fischer, Kurt von. (21995). Passion. In Ludwig Finscher (Hrsg.). Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3. Kassel: Bärenreiter, S. 1454

[12] Ebd., S. 1469

[13] dtv-Atlas Musik (192000). Bd.1, Artikel „Gattungen und Formen/Passion, S. 139

[14] von lat. subjectum = das Zugrundeliegende, also der musikalische Gedanke von grundsätzlicher, thematischer Bedeutung für einen Satz (Platen [31999], S. 250)

[15] dtv-Atlas Musik (192000). Bd.1, Artikel „Gattungen und Formen/Passion“, S. 139

[16] Ebd.

[17] Boyd, Malcolm (Sonderausgabe 2000). Johann Sebastian Bach – Leben und Werk – Stuttgart und München: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 194

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Zur Stellung von Bachs Matthäuspassion in ihrer Zeit
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Note
1,3
Autor
Jahr
2000
Seiten
24
Katalognummer
V41859
ISBN (eBook)
9783638400374
ISBN (Buch)
9783638656290
Dateigröße
566 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Stellung, Bachs, Matthäuspassion, Zeit
Arbeit zitieren
M.A. Barbara Mühlenhoff (Autor:in), 2000, Zur Stellung von Bachs Matthäuspassion in ihrer Zeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/41859

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