Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Fallstudie: Hochbegabung
1. Einleitung
2. Der Fall P
3. Die Hochbegabung
3.1 Was ist Hochbegabung?
3.2 Merkmale der Hochbegabung
3.3 Diagnostik der Hochbegabung
4. „Underachievement“
4.1 Allgemeine Faktoren des „Underachievements“
4.2 „Underachievement“ im Falle P.s
5. Präventions- und Interventionsmaßnahmen
5.1 Inner- und außerschulische Maßnahmen
5.2 Interventionsplan für P
6. Diskussion
7. Literaturverzeichnis
8. Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
Die Förderung hochbegabter Schülerinnen und Schüler[1] zählt nicht zum klassischen und offensichtlichen Aufgabengebiet von Förderschullehrkräften. Vielmehr lehrt man in der Ausbildung der zukünftigen Förderschullehrkräfte, dass das zukünftige Klientel Beeinträchtigungen der emotionalen, sozialen und/oder kognitiven Fähigkeiten und Entwicklungen aufweist. Die spezifischen Merkmale der an der Goethe-Universität gelehrten Vertiefungen im Studium der Sonderpädagogik[2] weisen alle entwicklungsbeeinträchtigende Faktoren auf. Hochbegabte Kinder haben einen peripheren bis nicht existenten Platz in der Sonderpädagogik, auch wenn sie durchaus Beeinträchtigungen aufweisen können. Sie haben besondere Bedürfnisse, welchen in den meisten Fällen mit regulärem Lehrplan-Unterricht nicht angemessen begegnet werden kann.
In der vorliegenden Arbeit soll nicht der Frage nachgegangen werden, ob die Hochbegabung ein sonderpädagogischer Gegenstand ist. Die Frage, welche Relevanz die Hochbegabung und Hochbegabtenforschung für Lehrkräfte und insbesondere Förderschullehrkräfte haben kann und hat, ist dem Thema implizit. Im schulischen Kontext kann die Hochbegabung in mannigfaltiger Art und Weise auftreten, als gelangweilte SuS die den Unterricht stören, als demotivierte SuS die ruhig am Platz sitzen und in ihren eigenen Gedanken verloren scheinen, als Problemschüler*innen oder hochbegabte SuS treten als Primus der Klasse in den Vordergrund. In jedem Fall und jeden Schultag aufs Neue, sind Lehrkräfte angehalten, mit den Bedürfnissen und Eigenheiten ihrer SuS umzugehen und diese entsprechend ihrer individuellen Bedürfnisse zu fördern. Dazu gehört es vor allem auch, diese Bedürfnisse zu erkennen und als Lehrkraft die Fähigkeit zu haben, entsprechend der Erfordernisse handeln zu können. Vorliegende Arbeit stellt sich insbesondere die Frage, welche Maßnahmen Lehrkräfte zur Förderung und Unterstützung hochbegabter SuS ergreifen können.
Die Erarbeitung des Begriffs Hochbegabung und die damit verbundenen Ideen und Theorien werden am Fallbeispiel des 12-jährigen P.s veranschaulicht.
Auf Grund des begrenzten Rahmens dieser Arbeit, können nur fragmentarische und punktuelle Themenkomplexe der Hochbegabung und des Hochbegabungsbegriffs dargestellt werden, die sich auf die intellektuelle Hochbegabung beschränken. Konstrukte, wie Kreativität werden nur benannt. Teil 3 beginnt mit der Definition von Hochbegabung, Modellen und der Darstellung von Merkmalen der Hochbegabung und möglicher Diagnostikinstrumente. In Teil 4 wird das Phänomen des Underachievements in der Hochbegabung betrachtet. Über die Beschreibung allgemeiner Faktoren, die zum Underachievement führen können, werden am Fallbeispiel P.s musterhaft diese Faktoren dargestellt und aufgeführt. Um die Ausgangsfrage zu beantworten, werden unter Teil 5 Präventions- und Interventionsmaßnahmen im schulischen und außerschulischen Kontext dargestellt, die in einem weiteren Schritt beispielhaft an P. angewandt werden können. Die Arbeit schließt mit einer Diskussion in Teil 6.
2. Der Fall P.
Im Folgenden wird knapp der Fall des hochbegabten P. dargestellt, anhand der von Frau Dr. Schmidt ausgehändigten Fallbeschreibung.
Der 12 Jahre alte P. besucht die 7.Klasse des XY-Gymnasiums in Frankfurt. P. hat sich von Beginn an kognitiv schnell entwickelt. Er hat früh zu sprechen begonnen und schon im Kindergarten sein Umfeld durch seine schnelle Auffassungsgabe beeindruckt. Bereits vor der Einschulung hat er flüssig gelesen. Im Alter von knapp 8 Jahren ist P. testdiagnostisch in Bezug auf seine allgemeine Intelligenz untersucht worden. Bei der damaligen Testung erzielte P. einen Gesamt-IQ von 134. In der Grundschule hatte P. leistungsmäßig keinerlei Schwierigkeiten. Er hat nie für die Schule lernen müssen und war trotzdem durchweg der Klassenbeste. P. war in der Grundschule zwar kein Außenseiter, gerade gegen Ende der Grundschulzeit hatte er jedoch – zum Teil auch körperlich ausgetragene - Konflikte mit zwei seiner Mitschüler, die ihn wiederholt als „Streber“ und „Schleimer“ beschimpft haben. Auf der weiterführenden Schule fühlte sich P. vom ersten Tag an wohl. Die Eltern berichten, dass sie sehr erleichtert gewesen seien, dass sich P. dort so gut integriert habe. Sorgen macht ihnen nun jedoch, dass P. zunehmend schlechtere Schulleistungen zeige. Während die Zeugnisse aus der Grundschule überwiegend Einsen verzeichnen, liegen P.s aktuelle Zeugnisnoten mehrheitlich nur noch im befriedigenden bis ausreichendem Bereich mit einer absteigenden Tendenz. P. ist was das Lernen angeht lustlos und bockig (Schmidt, 2017).
3. Die Hochbegabung
Seit Beginn der 80er Jahre findet die Hochbegabung auch in Deutschland größere Beachtung und wird im wissenschaftlichen und politischen Diskurs erforscht, thematisiert und seit dem PISA-Schock 2000 ihrer geringen Beachtung und Förderung im schulischen Kontext auch problematisiert (vgl. Langfeld 2014: 42). Aber was ist diese Hochbegabung?
3.1 Was ist Hochbegabung?
Eine genaue Definition des Begriffs Hochbegabung ist kaum möglich, was in der wissenschaftlichen Literatur auch auf den uneindeutigen Begriff der Begabung zurückgeführt wird (vgl. Sparfeldt et al. 2009: 4, vgl. Rost Sparfeldt 2017: 329). Überdies beschreibt die (Hoch-)Begabung eine „Vielfalt von Phänomenen“ (Richter 2007: 88). Rost et al. (2006) fassen die unterschiedlichen Definitionen der Begabung wie folgt in fünf Kategorien zusammenfassen (S. 189):
- Statische (eher angeborene) versus dynamische (kulturell vermitteltes Leistungspotential) Begabung,
- Intellektuelle (Sprachverständnis, Denkvermögen) versus nicht-intellektuelle (handwerklich, künstlerische) Begabung,
- Allgemeine Begabung (allumfassend, breit in verschiedenen Inhaltsbereichen logisch-schlussfolgernd denken) versus Spezialbegabung (enge Inhaltbereiche),
- Konvergentes Denken (intelligenter Denkvollzüge) versus divergente Denkfähigkeit (besonders Kreativität),
- Nicht in entsprechende Leistung umgesetztes Potential versus schon in Leistung umgesetzte Begabung.
Das Wort „Hoch“ hat vergleichsweise eine klare quantitative Zuschreibung, die eine „...hohe Ausprägung des zu spezifizierenden Merkmals ‚Begabung’...“ (Rost et al. 2006: 189) meint, die über den Mittelwert hinausgeht.
In der Literatur finden sich vielfältige Definitionen der Hochbegabung. So betrachtet Langfeld (2014) die Problematik bei der Identifikation von Hochbegabung historisch und sieht zwei grundsätzliche Perspektiven, die unabhängig „...im Einzelnen inhaltlich unter Hochbegabung verstanden wird.“ (S. 42). Einerseits die Hochbegabung als ausagierte herausragende Leistung. Anlage und Umwelt müssen also zu großartiger Leistung (Performance) führen, um als hochbegabt zu gelten. Wohingegen die zweite Perspektive die Hochbegabung als Potential sieht. Hier ist die Hochbegabung die Anlage, die durch Umwelt zu herausragenden Leistungen führen kann (vgl. Langfeld 2014: 42). Ähnlich nennt Richter (2007) ein duales Verständnis der Hochbegabung, einerseits das Konzept der Leistung von etwas Herausragendem und andererseits das Konzept der Feststellung einer Hochbegabung, wenn „...das Kind bzw. der Jugendliche das Potential für sein Alter außergewöhnliche Leistungen in sich trägt.“ (Richter 2007: 88) und betont damit die Leistung im Vergleich zu den Durchschnittsleistungen der Peers.
Historisch betrachtet hat sich zweite Perspektive durchgesetzt, „...dass die Hochbegabung als Anlage (Potential) entdeckt werden muss, damit eine optimale Entwicklung hin zu herausragenden Leistungen möglich wird.“ (Langfeld 2014: 42). Ähnlich beschreiben auch Preckel Vock (2013) Hochbegabung als „...extrem hoch ausgeprägtes Entwicklungspotential dar.“ (S. 12).
Lucito (1964, zitiert nach Rost et al. 2006) fasst fünf Kategorien der Hochbegabungsdefinitionen zusammen (S. 189):
- Das Zeigen herausragender Leistungen (Performance)
- Ab einem bestimmten Mindestwert in einem Intelligenztest (etwa IQ > 130)
- Zu den oberen x-Prozent zu gehören (eines zu spezifizierenden Kriteriums)
- (Mindest-)Ausprägung an Kreativität
- Soziale Fähigkeit, zu von der Gesellschaft als wertvoll bewerteten Handlungen
Rost et al. (2006) stellen fest, dass qualitative „...Unterscheidungen in den intellektuellen Prozessen ‚Hochbegabter’ und nicht Hochbegabter...“ (S. 190) nicht feststellbar sind und sehen eine quantitative Abgrenzung der Hochbegabten zu den nicht Hochbegabten als möglichen und historisch belegten Weg (vgl. Rost et al. 2006: 190).
Intellektuelle Hochbegabung ist gegeben, wenn eine Person:
„(a) Sich schnell und effektiv deklaratives und prozedurales Wissen aneignen kann, (b) dieses Wissen in variierenden Situationen zur Lösung individuell neuer Probleme adäquat einsetzt, (c) rasch aus den dabei gemachten Erfahrungen lernt und (d) erkennt, auf welche neuen Situationen, bzw. Problemstellungen die gewonnenen Erkenntnisse transferierbar sind (Generalisierung) und auf welche nicht (Differenzierung). [...] Selbstredend ist noch ein Grenzwert festzulegen, der ‚schnell’, ‚effektiv’, ‚rasch’ etc. quantifiziert (z.B. Prozentrang 98).“ (Rost et al. 2006: S. 190.).
Die Angrenzung an den Intelligenzbegriff wird deutlich. „Als Konvention hat es sich eingebürgert, für Hochbegabung die Ausprägung kognitiver Merkmale (in der Regel Intelligenz) in Relation zum Populationsdurchschnitt (= Abstand vom Durchschnitt der Bezugsgruppe) zu betrachten.“ (Rost 2008: 61) und die Hochbegabung wird als „bezüglich der intellektuellen Leistungsfähigkeit mindestens zwei Standartabweichungen über dem Mittelwert liegend“ (Rost et al. 2006: 190) definiert. Diese Grenzziehung hat sich in der nationalen und internationalen Forschung durchgesetzt, auch wenn sie als arbiträr bezeichnet wird (vgl. Rost Sparfeldt 2017: 330).
Darüber hinaus gibt es Versuche, die Hochbegabung durch mehrdimensionale Ansätze zu erklären. Besonders bekannt ist das „Drei-Ring-Modell“ von Renzulli (1978) (vgl. Rost Sparfeldt 2017: 332). Renzulli betrachtet die Hochbegabung als Schnittmenge dreier Personenmerkmale. So sind Aufgabenverpflichtung, Kreativität und überdurchschnittliche Intelligenz zwingend Bestandteile der Hochbegabung. Außerdem ist diese Betrachtung der Hochbegabung entwicklungsorientiert. (vgl. Preckel Vock 2013: 21f.).
Die Antwort auf die Frage, was Hochbegabung ist, wird in der Forschung zumeist mit dem „...unidimensionalen Modell...“ (Rost Sparfeldt 2017: 332) wie dem intelligenzbasierten Ansatz gegeben. Die „...intellektuelle Leistungsfähigkeit von Personen...“ (Sandfuchs Zumhasch 2015: 15) ist Minimalkonsens aller Modelle. Folgende Intelligenzdefinition nach Lohaus et al. (2013) findet „...relativ breite Zustimmung [so] versteht man unter Intelligenz die Fähigkeit, sich neuen Situationen und Anforderungen der Umwelt anzupassen, und ebenso die Fähigkeit, die umgebende Umwelt zu verändern.“ (S. 120).
3.2 Merkmale der Hochbegabung
Aber wie erkennt man Hochbegabung? Wie zuvor dargestellt, ist ein Kernmerkmal der Hochbegabung das „...besonders hohe Intelligenzniveau.“ (Wilhelm Schipolowski 2010: 31), oder auch die auffallend „...ausgeprägte Intelligenz.“ (Wild Möller 2008: 313) von Personen. Wollfolk (2009) sieht bei wahrhaftig hochbegabten Kindern nicht das schnelle und problemlose Lernen im Vordergrund, als das die Leistungen hochbegabter Kinder „...originell, extrem ihrem Alter voraus und möglicherweise weitreichend wichtig.“ (S. 183) sind.
Auf die Frage, welche Unterschiede es zwischen hochbegabten und nicht hochbegabten Kindern gibt, geben die Ergebnisse der Längsschnittstudie des Marburger Hochbegabtenprojekts Aufschluss. Hochbegabte SuS haben ein positiveres „...schulisches Selbstkonzept [...] höheren schulischen Ehrgeiz [...] geringere Kontaktbereitschaft [...] maskulinere Einstellungen. [...] in den Familienbeziehungen [sind] kaum systematische Gruppenunterschiede feststellbar.“ (Rost Sparfeldt 2017: 338). Bezüglich der Interessen zeigten Hochbegabte nur in mathematischen Themen und dem Leseinteresse höhere Ausprägungen und wie zu erwarten „...akademisch-intellektuelle Interessen [waren] etwas stärker ausgeprägt.“ (Rost Sparfeldt 2017: 338). Die höhere intellektuelle Leistungsfähigkeit bezeichnen Sparfeldt et al. (2009) als selbstredend und trivial (S.5). Die Unterschiede zu durchschnittlich begabten Kindern können vor allem in „schulischen bzw. schulnahen Variablen“ (vgl. Sparfeldt et al. 2009: 6) deutlich werden.
Die im Folgenden abgebildete Checkliste des Bundesministeriums für Bildung und Forschung soll zur Identifizierung hochbegabter Kinder helfen (zitiert nach Langfeldt 2014: 45).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.1 Langfeldt (2014). S. 45. Zur Identifizierung hochbegabter Kinder.
Checklisten die von Lehrpersonen oder Eltern zur Identifikation hochbegabter Kinder genutzt werden, operieren oft mit Items die ungenau formuliert sind und gemessen an wissenschaftlichen Kriterien, nicht als ausreichendes Diagnoseinstrument bezeichnet werden können. In der Literatur wird häufig darauf verwiesen (vgl. Rost 2008), dass zum Erkennen der Hochbegabung, ein Begriff hinter dem mannigfaltige Konzepte und Theorien stehen, keine einfachen Checklisten ausreichen, da diese in der Anwendung oft auf einfachen „...Generalisierungen von Einzelfällen...“ (Rost Sparfeldt 2017: 338) beruhen.
Im Falle des 12-jährigen P.s ist durch den IG-Wert von 134 die kognitive Leistungsfähigkeit nachgewiesen. Die Testungen waren im Alter von knapp 8 Jahren. Geht man davon aus, dass die Stabilität des IQ-Wertes nach dem 9. Lebensjahr gegeben ist, kann von einem vermutlich dennoch verlässlichen Ergebnis ausgegangen werden (vgl. Sandfuch Zumhasch 2015: 16). Ggf. sollte eine neue Testung anberaumt werden. Im schulischen Kontext entwickelte sich P. kognitiv schnell. Er begann früh zu sprechen und konnte noch vor der Einschulung flüssig lesen, was auf eine Begabung im sprachlichen Bereich schließen lässt. Zudem hat er eine rasche Auffassungsgabe. Seine außerordentliche Lernfähigkeit spiegelt sich in seinen hervorragenden schulischen Leistungen in der Grundschule wieder, als er ohne viel zu Lernen Klassenbester war.
[...]
[1] Im Folgenden als SuS abgekürzt.
[2] An der Goethe-Universität wird man zu Förderschullehrkräften ausgebildet und studiert am Institut für Sonderpädagogik.