Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Charakterisierung von Ofelia
2.1 Vor dem Betreten des Labyrinths
2.2 Nach dem Betreten des Labyrinths
3. Folgen von Ofelias Ungehorsam
4. Weitere opponierende Figuren
4.1 Die Maquis
4.2 Dr. Ferreiro
4.3 Mercedes
4.4 Interpretation: Widerstand ist tödlich, aber notwendig
5. Widerstand gegen die Erwartungen des Zuschauers
6. Fazit
7. Abbildungsverzeichnis
8. Literatur- und Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Spanien im Jahr 1944. Der Bürgerkrieg ist längst vorbei, Franco hat die Macht übernommen. In den Bergen geht der Kampf jedoch weiter. Bewaffnete Widerstandsgruppen, die Maquis, stellen sich gegen das faschistische Regime, welches seinerseits mit aller Härte gegen die republikanischen Rebellen vorgeht.
Dieses historisch akkurate[1] Setting bildet die Basis für die fiktive Geschichte um das junge Mädchen Ofelia in Guillermo del Toros Film Pans Labyrinth (2006). Sie und ihre hochschwangere Mutter begeben sich zu einer stillgelegten Mühle in den Bergen Nordspaniens, die als Stützpunkt für die Franquisten dient. Von dort aus organisieren diese die Attacken gegen die Rebellengruppen. Erwartet werden das Mädchen und seine Mutter vom unbarmherzigen Hauptmann Vidal. Er ist nicht nur der Anführer der dort stationierten Militärs, sondern auch Carmens zweiter Ehemann und somit Ofelias Stiefvater. Während der Kampf zwischen Faschisten und Maquis tobt und dabei mehr und mehr Opfer fordert, verschwimmen für Ofelia die Grenzen zwischen Realität und Fantasie. Als sich ein wunderliches Insekt vor ihren Augen in eine Fee verwandelt und ihr den Weg in ein Labyrinth weist, trifft sie auf den Faun Pan. Dieser erkennt in ihr die verschwundene Prinzessin Moana, die, um in ihr unterirdisches Reich zurückkehren zu können, drei gefährliche Aufgaben erfüllen muss. Ofelia wandelt von nun an zwischen den Welten und bewältigt schließlich die ihr auferlegten Prüfungen. Am Ende stirbt sie in der realen Welt durch die Hand Vidals, lebt aber im unterirdischen Reich glücklich weiter.
Indem er bewusst eine strikte Trennung von realer und fantastischer Welt vermeidet, lässt Regisseur del Toro offen, ob die Ereignisse nur in der Imagination des Mädchens stattfinden – oder ob es im Spanien Francos tatsächlich eine Parallelwelt gibt, die von Fabelwesen bevölkert ist[2]: „The film hints at the possibility that the fantasy world is a product of Ofelia’s childish imagination or her ability to see what others are not able to see.“[3]
Der größte Teil der Filmkritiker[4] sowie eine beachtliche Anzahl an Wissenschaftlern[5] deutet die übernatürlichen Situationen, denen Ofelia sich ausgesetzt sieht, als ein reines Produkt der Fantasie.[6] Das Mädchen müsse, so die vorherrschende Meinung, sich im Sinne einer Art therapeutischen Realitätsflucht an Geschichten von Feen und Faunen festklammern, um angesichts der Schrecken in der realen Welt nicht den Verstand zu verlieren: „Growing up during a time of civil war and unrest, she clearly witnesses trauma. (...) [This] leaves a very confused, scared and lonely girl which makes her susceptible to inappropriate stress responses and to escaping the harsh realities into her fantasies.”[7]
Diese Interpretation ist meines Erachtens allerdings zu kurz gedacht. Vielmehr, so möchte ich im Laufe der vorliegenden Arbeit zeigen, lernt Ofelia erst durch ihre Interaktion mit dem Übernatürlichen, selbstbewusst, eigenverantwortlich, opponierend zu handeln – eine Fähigkeit, die sie am Ende dazu ermächtigt, sich gegen Vidal zu stellen. Meine These ist also, dass ihr die Fantasiewelt nicht als Eskapismus, sondern als Empowerment-Strategie dient.
Nach einer Charakterisierung Ofelias und der Darstellung ihrer Transition hin zu einer eigenverantwortlich handelnden Person möchte ich außerdem analysieren, wie del Toro das prävalente Leitmotiv des Widerstands in Pans Labyrinth nicht nur anhand von Ofelias Entwicklung, sondern auch anhand weiterer Protagonisten und an der Erzählstruktur des Filmes selbst zeigt. Als Quelle dienen mir diverse, vorrangig komparatistische Aufsätze und Essays zu Pan’s Labyrinth, allen voran Jennifer Ormes „Narrative Desire and Disobedience in ‘Pan’s Labyrinth’”.
2. Charakterisierung von Ofelia
Als mehrdimensionale Figur mit einer klar zu erkennenden, graduellen persönlichkeitsmäßigen Veränderung lässt sich die Entwicklung Ofelias in zwei Phasen einteilen. Die erste Phase endet dabei beim erstmaligen Betreten des Labyrinths.
2.1 Vor dem Betreten des Labyrinths
Zu Beginn von Pans Labyrinth erlebt der Zuschauer Ofelia als sehr stilles und zurückhaltendes Mädchen. Während der Autofahrt zur Mühle spricht sie kein einziges Wort, obwohl ihre Mutter sich wiederholt direkt an sie wendet. Nicht einmal als Carmen sie auffordert, dem Fahrer auszurichten, er solle anhalten, redet sie – sie klopft lediglich an die Scheibe.[8] Erst als sie das merkwürdige Insekt entdeckt, welches sie als Fee wahrnimmt, spricht sie zum ersten Mal überhaupt: „Ich hab’ eine Fee gesehen!”[9]
Sehr offensichtlich ist ihr Faible für Märchen, was bei den meisten ihrer Mitmenschen auf Unmut stößt. Insbesondere Carmen zeigt mehrmals deutlich, dass sie von Ofelias Liebe zu Büchern nichts hält – sie sei doch langsam zu alt für Feengeschichten.[10] Lediglich die Hausangestellte Mercedes begegnet ihr mit Freundlichkeit und sogar Bewunderung, als sie Ofelias Bücherstapel entdeckt.[11]
Ofelias Beziehung zu ihrem Stiefvater ist von großer Abneigung geprägt. Als sie und Carmen an der Mühle ankommen und Ofelia Vidal zur Begrüßung die linke Hand reicht, ergreift er diese mit Gewalt und tadelt das Mädchen: „Es ist die andere Hand, Ofelia.”[12] Gegenüber Mercedes wird sie geradezu aufbrausend, als diese Vidal als ihren Vater bezeichnet: „Er ist nicht mein Vater. Der Hauptmann ist nicht mein Vater! Mein Vater war Schneider. Er kam nicht aus dem Krieg zurück. Der Hauptmann ist nicht mein Vater!”[13] Dabei ist es nicht die Grausamkeit gegenüber den Maquis, die Ofelia Vidal verabscheuen lässt – keiner der Protagonisten, sondern allein der Zuschauer erfährt, wie gewalttätig Vidal wirklich ist[14] –, sondern Eifersucht. Ofelia fühlt sich durch Vidal ersetzt:
OFELIA: Wieso hast du wieder geheiratet?
CARMEN: Ich bin so lange allein gewesen.
OFELIA: Ich bin doch da. Du warst gar nicht allein. Du warst nie allein.[15]
Ofelia lässt sich somit als Kind charakterisieren, welches durch den frühen Tod des Vaters eine enge Beziehung zur Mutter aufgebaut hat und diese nun bedroht sieht. Als junges Mädchen in einer franquistischen, patriarchalen Welt besteht für sie keinerlei Chance auf Handlungsfreiheit oder gar Rebellion[16], weshalb sie Trost in Büchern findet; eine Beschäftigung, die vom Großteil ihrer Umwelt scharf kritisiert wird. Anweisungen von Autoritätspersonen folgt sie, wenn auch manchmal widerstrebend, trotzdem immer zuverlässig – in dieser Hinsicht gleicht del Toros Ofelia ihrer Namenspatronin Ophelia aus Shakespeares Hamlet.[17] Ab dem Zeitpunkt, an dem Ofelia das Labyrinth betritt, beginnt jedoch der Prozess der Veränderung: Sukzessive wandelt sie sich von einem gehorsamen Kind hin zu einer eigenständigen, sich Weisungen widersetzenden Person.
2.2 Nach dem Betreten des Labyrinths
Der erste Hinweis auf eine Veränderung in Ofelias Benehmen zeigt sich in der zweiten Erzählphase des Films, als das Mädchen das Labyrinth betreten hat und sich seiner ersten Prüfung stellt. Der Aufforderung der Mutter, sich für den Hauptmann, der eine Dinnerparty ausrichtet, schön zu machen[18], kommt Ofelia nach und legt das von Carmen zu diesem Zweck gefertigte Kleid zunächst an, bevor sie sich auf den Weg in den Wald macht (vgl. Abb. 1).
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Abb. 1: Ofelia im Wald.
Dort angekommen zieht sie es allerdings wieder aus, als sie die Höhle unterhalb des Baumes betritt, um die Kröte zu töten, und hängt es an einen Ast.[19] Ihr Ziel, es so nicht zu beschmutzen, wird freilich verfehlt. Nach der bestandenen Prüfung kehrt sie an die Oberfläche zurück und sieht ihr durch einen Windstoß weggewehtes Kleid völlig verdreckt in einer Pfütze liegen.[20]
Das Ablegen des Kleides symbolisiert für mich einen point of no return und den definitiven Beginn von Ofelias Transition. Ihr neu gewonnenes Selbstbewusstsein zeigt sich, als Carmen ihre Verärgerung über das verschmutzte Kleid zum Ausdruck bringt:
CARMEN: Du hast mich enttäuscht, Ofelia. Und deinen Vater ebenfalls.
OFELIA: Den Hauptmann.
CARMEN: Ihn noch mehr als mich. Sie geht ab.
Ofelia lächelt und lässt sich in das Wasser der Badewanne zurückgleiten. [21]
Es ist das erste Mal, dass Ofelia ihrer Mutter widerspricht. In der Konsequenz muss sie ohne Abendbrot zu Bett gehen.
Um die zweite Prüfung zu bestehen, soll Ofelia einen Dolch an sich nehmen. Sie betritt hierfür einen Raum, in dem, bewacht von einem bleichen, regungslosen Monster, ein opulentes Festmahl aufgetischt ist. Obwohl der Faun sie zuvor eindringlich davor warnte, „nichts, absolut nichts”[22] von den Speisen zu essen, steckt sie sich, nachdem sie den Dolch gefunden hat, zwei Weintrauben in den Mund. In der Folge erwacht das Monster und tötet zwei der drei Feen, die Ofelia begleiten (vgl. Abb. 2). Sie selbst kommt nur knapp mit dem Leben davon. Als Pan von diesem Zwischenfall erfährt, rast er vor Zorn. Er verweigert Ofelia die Fortsetzung ihrer Prüfungen und damit den Zugang zum unterirdischen Reich[23] – eine Entscheidung, die er jedoch zu einem späteren Zeitpunkt revidiert.
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Abb. 2: Das bleiche Monster tötet die Feen.
Mit der Rückkehr des Fauns wird Ofelias dritte und letzte Aufgabe eingeleitet. Pan nimmt ihr zunächst das Versprechen ab, zu gehorchen: „Werdet Ihr alles tun, was ich Euch sage, ohne es zu hinterfragen?”[24] und schickt sie anschließend los, ihren neugeborenen Bruder in das Labyrinth zu bringen. Dieser befindet sich in Vidals Arbeitszimmer. Ofelia versetzt Vidals Schnaps mit Beruhigungsmittel und will mit ihrem Bruder auf dem Arm das Zimmer verlassen, als Vidal sie bemerkt. Seine Aufforderung, das Baby loszulassen, ignoriert sie und flüchtet; der durch das Beruhigungsmittel benommene Hauptmann folgt ihr. Im Labyrinth angekommen, befiehlt Pan ihr, ihm den Säugling zu überreichen, was Ofelia ihm angesichts des Dolchs in seiner Hand verweigert. Auf ihre Nachfrage eröffnet der Faun ihr, dass, um das Tor zum unterirdischen Reich zu öffnen, das Blut eines Unschuldigen vergossen werden müsse – „nur ein bisschen, mehr nicht. Ein winziger Stich, das ist alles. Das ist die letzte Prüfung für Euch.”[25] Ofelia weigert sich nochmals:
PAN: Wo bleibt denn Euer Versprechen, mir zu gehorchen, ohne aufzubegehren? Jetzt gebt mir das Kind!
OFELIA: Nein! Mein Bruder bleibt bei mir!
PAN: Ihr verzichtet also auf Euer heiliges Recht für diese Rotznase, die ihr kaum kennt?
OFELIA: Ja, ich verzichte.
PAN: Seinetwegen verleugnet Ihr Eure Herkunft? Obwohl er die Ursache ist, dass Ihr gedemütigt wurdet?
OFELIA: Ja, ich verleugne sie.[26]
In einem Akt des ultimativen Ungehorsams widersetzt sich Ofelia während ihrer dritten Aufgabe gleich zwei mächtigen Autoritätspersonen: Dem Hauptmann und dem Faun.
3. Folgen von Ofelias Ungehorsam
Wie ich anhand der beschriebenen Schlüsselszenen zeigen konnte, erhält Ofelia erst durch die Fantasiewelt die Möglichkeit, eigenständig Entscheidungen zu treffen: „The fairy tale of Princess Moana provides Ofelia with justification to disobey her hated stepfather, but just as importantly, it is in the fairy tale that Ofelia actively pursues her own goals and desires without deference to Vidal or his world while at the same time causing real effects in it.“[27]
[...]
[1] Vgl. Frank Schauff: Der Spanische Bürgerkrieg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006, S. 178.
[2] Vgl. Felicitas Pommerening: Die Dramatisierung von Innenwelten im Film. Mainz: Springer VS, 2012, S. 307.
[3] Irene Gómez-Castellano: „Lullabies and postmemory: hearing the ghosts of Spanish history in Guillermo del Toro’s Pan’s Labyrinth (El laberinto del fauno, 2006)”. In: Journal of Spanish Culture Studies. Jg. 14, Ausgabe 1 (2013), S. 11.
[4] Vgl. u.a. „Pans Labyrinth”. Entn. www.cinema.de. <http://www.cinema.de/film/pans-labyrinth,1323337.html>, letzter Zugriff: 03.03.2018.
[5] Vgl. u.a. Francisco J. Sánchez: „A Post-National Spanish Imaginary. A Case-Study: Pan’s Labyrinth”. In: The Comparatist. Jg. 36 (2012), S. 137ff.
[6] Vgl. Jennifer Orme: „Narrative Desire and Disobedience in ‘Pan’s Labyrinth’”. In: Marvels & Tales. Jg. 24, Ausgabe 2 (2010), S. 226.
[7] Timothy Segal: „ Pan’s Labyrinth: A subjective view on childhood fantasies and the nature of evil”. In: International Review of Psychiatry, Jg. 21, Ausgabe 3 (2009), S. 269.
[8] Vgl. Pan’s Labyrinth (Spanien [u.a.]: Estudios Picasso [u.a.], 2006, Reg.: Guillermo del Toro), entn. Amazon Prime.
<https://www.amazon.de/gp/video/detail/B00IK9TM66/ref=atv_hm_hom_2_c_obwan_2_1?ie=UTF8&pf_rd_i=home&pf_rd_m=A3JWKAKR8XB7XF&pf_rd_p=1668752507&pf_rd_r=7JXF894AFG0B0PNWFJ74&pf_rd_s=center-3&pf_rd_t=12401>, letzter Zugriff: 03.03.2018, TC 00:03:10.
[9] Ebd., TC 00:04:54.
[10] Vgl. ebd., TC 00:03:01ff.
[11] Vgl. TC 00:08:27ff.
[12] Ebd., TC 00:06:53.
[13] Ebd., TC 00:08:38 - 00:08:48.
[14] Vgl. ebd., TC 00:17:02ff.
[15] Ebd., TC 00:12:37 - 00:12:52.
[16] Vgl. Ana Vivancos: „Malevolent Fathers and Rebellious Daughters: National Oedipal Narratives and Political Erasures in El laberinto del fauno (2006)”. In: Bulletin of Spanish Studies. Jg. 89, Ausgabe 6 (2012), S. 884.
[17] Vgl. Gómez-Castellano 2013. S. 9.
[18] Vgl. Pan’s Labyrinth 2006, TC 00:28:20.
[19] Vgl. ebd., TC 00:32:04.
[20] Vgl. ebd., TC 00:37:55.
[21] Vgl. ebd., TC 00:43:00 - 00:43:18.
[22] Ebd., TC 00:53:19 - 00:53:22.
[23] Vgl. ebd., TC 01:17:29ff.
[24] Ebd., TC 01:36:38 - 01:36:43.
[25] Ebd., TC 01:45:08 - 01:45:14.
[26] Ebd., TC 01:45:19 - 01:45:47.
[27] Orme 2010, S. 232.
- Arbeit zitieren
- Juliane Becker (Autor:in), 2018, Ungehorsam und Widerstand in Guillermo del Toros "Pans Labyrinth", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/421163
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