Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Hauptteil
2.1 Vergessen und Versprechen
2.2 Das Gewissen
2.3 Die Strafe
2.3.1 Ursprünglicher Zweck der Strafe
2.3.2 Gläubiger und Schuldner
2.3.3 Recht und Gemeinschaft
2.3.4 Gerechtigkeit
2.3.5 Schlussfolgerungen über die Strafe
2.4 Die Herkunft des schlechten Gewissens
2.4.1 Das schlechte Gewissen als Krankheit
2.4.2 Die Ursache in der Gesellschaft
2.4.3 Die Schuld gegenüber Gott
2.4.4 Synthese von Schuld und schlechtem Gewissen
3 Schlussbemerkung
4 Literaturliste
1. Einleitung
Das Ziel meiner Arbeit ist die Herleitung des schlechten Gewissens aus der zweiten Abhandlung ״Schuld, schlechtes Gewissen und Verwandtes“. Diese umfasst nach einem einleitenden Teil, in dem Nietzsche die Möglichkeit eines guten Gewissens durch ein “souveraines Individuum“ darlegt (Abschnitt 1-3), einen ausführlichen Teil über die Herleitung des schlechten Gewissens (Abschnitt 4-21) sowie einen Schlussteil, in dem er die Möglichkeit eines vom schlechten Gewissen befreiten Menschens aufzeigt. (Abschnitt 22-25)[1]
Ich werde die Entwicklung des Gewissens zum schlechten Gewissen verfolgen und die Umstände darlegen, die dazu führten. Dazu werde ich mich entlang der einzelnen Abschnitte bewegen, ohne Sekundärliteratur mit einzubeziehen. Eine Herleitung direkt aus dem Text scheint mir das sinnvollste zu sein.
2. Hauptteil
2.1 Vergessen und Versprechen
Im ersten Abschnitt stellt Nietzsche zwei aktive Prozesse des menschlichen Geistes gegenüber: Das Vergessen als ureigenste menschliche Fähigkeit, welche ״eine Kraft, eine Form der starken Gesundheit“ darstellt und das Versprechen, welches im Laufe der Kultivierung des Menschen ״angeztichteť[2] worden ist.
Der Mensch muss vergessen, damit ״wieder Platz wird für neues,vor Allem für die vornehmeren Funktionen und Funktionäre, für Regieren, Voraussehn, Vorausbestimmen[3] Er hält seinen Geist damit gesund und gewinnt die notwendige Stärke, um im Leben handlungsfähig zu sein.
Die Entwicklung des ״Gedächtnisses“ setzt diesem Vermögen ein jähes Ende. Nietzsche beschreibt den Menschen, der die Fähigkeit des Vergessens verloren hat, in der Extremform als einen ״Dyspeptiker“ - einem Verdauungsgestörten, der ״mit Nichts ״fertig“ wird'[4].
Der Mensch, der versprechen gelernt hat, ist zum verantwortlichen Wesen geworden. Einem Wesen, welches zu dem, was es verspricht, Stehen muss. Das Versprechen stellt eine Verbindlichkeit, eine Schuld jemand Anderem gegenüber dar.
Diese Verantwortlichkeit hat sich beim Menschen ״bis in seine unterste Tiefe hinabgesenkt und ist zum Instinkt geworden “[5]
Nietzsche bezeichnet diese verinnerlichte Verantwortlichkeit, diesen Instinkt als Gewissen.
Nietzsche unterscheidet nun zwischen zwei Typen von Menschen. Auf der einen Seite steht der reaktive Mensch. Dieser ist das Ergebnis einer den Großteil der menschlichen Vorgeschichte einnehmenden Züchtung, auf die ich in 2. noch weiter eingehe:
״[...]seine ganze vorhistorische Arbeit hat hierin ihren Sinn, ihre grosse Rechtfertigung, wie viel ihr auch von Härte, Tyrannei, Stumpfsinn und Idiotismus innewohnt: der Mensch wurde mit Hülfe der Sittlichkeit der Sitte und der socialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht “[6]
Der reaktive Mensch ist berechenbar und schwach, er hat das Gewissen als schlechtes Gewissen verinnerlicht und lebt unterdrückt durch die Gesellschaft.
Auf der anderen Seite steht der aktive Mensch, der aus dem reaktivem Menschen hervorgeht:
״Jedermann, der wie ein Souverain verspricht, schwer, selten, langsam, der mit seinem Vertrauen geizt, der auszeichnet, wenn er vertraut, der sein Wort giebt als Etwas, auf das Verlass ist, weil er sich stark genug Weiss, es selbst gegen Unfälle, selbst »gegen das Schicksal« aufrecht zu halten “[7]
Dieser Mensch, der verantwortlich ist, ein Gewissen hat und trotzdem autonom handelt, hat das Gewissen in ein gutes gewandelt, da er zu seinen Taten steht und sich den Folgen ohne Furcht stellt. Er ist jedoch eine absolute Ausnahme. Man könnte ihn als Primat des von Nietzsche propagierten Übermenschen sehen.
Doch möchte ich nun auf den Begriff des Gewissens detaillierter eingehen.
2.2 Das Gewissen
Dem Menschen ist durch das Gewissen eine zweite Natur gegeben. Er kann nicht mehr entscheiden, ob er Verantwortlichkeit zeigen möchte oder nicht, da er instinktiv handelt. Das Gewissen ist in der Lage, zwischen guten und bösen Handlungen zu entscheiden. Es ist Ergebnis einer langen ״Züchtung“ des Menschen, welche ihm ein Gedächtnis für Verantwortung gegeben hat und nur durch die Strafe in ihn eingebrannt werden konnte. Es ist dann jedoch ein anderer Aspekt gewesen, welcher das Gewissen in das schlechte Gewissen transformiert hat. Diesen möchte ich in der vorliegenden Arbeit herausarbeiten. Beginnen werde ich mit dem Begriff der Strafe, da dieser das Gedächtnis erst ermöglicht hat.
2.3 Die Strafe
2.3.1 Ursprünglicher Zweck der Strafe
Anders als die Moralpsychologen seiner Zeit erklärt Nietzsche die Herkunft der Strafe nicht aus dem Zweck der Abschreckung heraus. Er trennt Ursprung und Zweck der Strafe konsequent - er ist sogar der Meinung, dass dieser Zweck erst später in die Strafe hereingelegt worden ist. Um diese These zu bekräftigen, beschreibt er die gesamte Entwicklung der Strafe von Anfang an.
Der ursprünglichste Zweck der Strafe liegt schlicht in der Konditionierung des Menschen. Er soll die Verantwortung, die er einer Fülle von anderen Menschen gegenüber hat, nicht vergessen. Nietzsche fragt hierzu:
״ Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtniss? Wie prägt man diesem theils stumpfen, theils faseligen Augenblicks-Verstände, dieser leibhaften Vergesslichkeit Etwas so ein, dass es gegenwärtig bleibt? “[8]
Und antwortet darauf:
״Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss« - das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden “[9]
Die Strafe hat also den ursprünglichen Zweck, dem Schmerzen zuzufügen, der vergisst, der sich vor der Verantwortlichkeit flüchten möchte, auf das er sich wieder an sein Versprechen erinnert. Der heilsame Prozess des Vergessens, wie ich ihn unter E beschrieben habe, wird mit Hilfe der Bestrafung unterdrückt und bei ständiger Wiederholung dieser (der Strafe) schließlich ganz neutralisiert.
Hierbei wurde in Hinsicht auf die Regeln nicht darauf geachtet, besonders moralisch zu handeln. Es ging lediglich darum, ״Dem, der verspricht, ein Gedächtnis zu machen“[10] Nun stellt sich die Frage, wem sich der Mensch überhaupt verantwortlich gemacht hat. Dies führt zum Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner.
2.3.2 Gläubiger und Schuldner
Im vierten Abschnitt leitet Nietzsche den moralischen Begriff der Schuld aus dem Begriff Schulden ab. Genau wie der Zweck der Strafe erst später in sie hineingedeutet wurde, ist auch der Begriff der Schuld später zu dem moralischen Begriff umgedeutet worden, den die Gesellschaft heute kennt.
״[...],der Verbrecher verdient Strafe, weil er hätte anders handeln können« ist thatsächlich eine überaus spät erreichte, ja raffmirte Form des menschlichen Urtheilens und Schliessens; [...] Es ist die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch durchaus nicht gestraft worden, weil man den Übelanstifter für seine That verantwortlich machte, also nicht unter der Voraussetzung, dass nur der Schuldige zu Strafen sei: - vielmehr, so wie jetzt noch Eltern ihre Kinder Strafen, aus Zorn über den erlittenen Schaden, der sich am Schädiger auslässt, [...] “[11]
Das Wechselverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner war in der Ursprungszeit einem ständigem Wandel unterzogen.
Die Strafe hatte in diesem alten Verhältnis eine Funktion der Vergeltung, die dem, der in der Gläubigerposition Stand, eine Genugtuung verschaffen sollte. Die Schulden konnten damit abgezahlt werden. Wenn der Schuldner keine Wertgegenstände besaß, dann konnte die Schuld auch durch körperliche Qualen abbezahlt werden. Die Strafe glich die Schuld aus und führte wieder zu Harmonie unter den Betroffenen. Nur durch diesen Ausgleich war dauerhaftes koexistieren überhaupt möglich und eine Kultur konnte entstehen.
Nietzsche erwähnt im weiteren Verlauf des fünften Abschnitts verschiedene geschichtliche Formen dieses Gläubiger - Schuldner Verhältnisses, die alle auf ein Äquivalenzprinzip hindeuten, das sich im Laufe der Zeit zunehmend humanisiert hat.
״Ich nehme es bereits als Fortschritt, als Beweis freierer, grösser rechnender, römischerer Rechtsauffassung, wenn die Zwölftafel-Gesetzgebung Rom's dekretierte, es sei gleichgültig, wie viel oder wie wenig die Gläubiger in einem solchen Falle herunter schnitten [...]. Machen wir uns die“ Logik dieser ganzen Ausgleichungsform klar: sie ist fremdartig genug. Die Äquivalenz ist damit gegeben, dass an Stelle eines gegen den Schaden direkt aufkommenden Vortheils [...] dem Gläubiger eine Art Wohlgefühl als Rückzahlung und Ausgleich zugestanden wird, - das Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen, [...]. Der Ausgleich besteht also in einem Anweis und Anrecht auf Grausamkeit. “[12]
Dem Schuldner wird also so lange Leid zugefügt, bis der Gläubiger bestimmt, dass die Schulden abbezahlt worden sind.
Auf die Frage hin, warum Leiden ״eine Ausgleichung von Schulden “[13] sein kann, erwähnt Nietzsche die sadistische Neigung des Menschen, dem Leiden machen eine Genugtuung, ja sogar eine Wohltat ist und der die Bestrafung gar als Fest feiert. Er spricht im weiteren Verlauf von ״uninteressierter Bosheit“[14], eine Abwandlung des Interessenlosen Wohlgefallens aus der Theorie des Schönen in Kants Kritik der Urteilskraft[15], und weitet die Thematik des Sadismus weiter aus, doch soll dies hier für eine Arbeit über das schlechte Gewissen ausreichen.
Das Prinzip der Bestrafung durch den Gläubiger lässt sich auch über die Ebene des Ausgleiches zwischen zwei Personen heben. Auch die Menschen als Gemeinschaft, von Nietzsche Gemeinwesen genannt, können Abtrünnige bestrafen:
״Man lebt in einem Gemeinwesen, man geniesst die Vortheile eines Gemeinwesens (oh was für Vortheile! wir unterschätzen es heute mitunter), man wohnt geschützt, geschont, im Frieden und Vertrauen, sorglos in Hinsicht auf gewisse Schädigungen und Feindseligkeiten, denen der Mensch ausserhalb, der »Friedlose«, ausgesetzt ist [...]. Was wird im andren Fall geschehn? Die Gemeinschaft, der getäuschte Gläubiger, wird sich bezahlt machen, so gut er kann, darauf darf man rechnen. Es handelt sich hier am wenigsten um den unmittelbaren Schaden, den der Schädiger angestiftet hat: von ihm noch abgesehn, ist der Verbrecher vor allem ein »Brecher«, ein Vertrags- und Wortbrüchiger gegen das Ganze, in Bezug auf alle Güter und Annehmlichkeiten des Gemeinlebens, an denen er bis dahin Antheil gehabt hat. Der Verbrecher ist ein Schuldner, der die ihm erwiesenen Vortheile und Vorschüsse nicht nur nicht zurückzahlt, sondern sich sogar an seinem Gläubiger vergreift: daher geht er von nun an, wie billig, nicht nur aller dieser Güter und Vortheile verlustig, - er wird vielmehr jetzt daran erinnert, was es mit diesen Gütern auf sich hat. Der Zorn des geschädigten Gläubigers, des Gemeinwesens giebt ihn dem wilden und vogelfreien Zustande wieder zurück, vor dem er bisher behütet war: es stösst ihn von sich, - und nun darf sich jede Art Feindseligkeit an ihm auslassen. “[16]
Deijenige, der sich gegen die Gesetze des Gemeinwesens stellt, das Recht bricht, ist also der Schuldner, der sich gegenüber der Masse schuldig gemacht hat. Wie Nietzsche sagt, kommt es hierbei nicht so sehr auf die Tat selbst an, sondern auf den Umstand, dass jemand überhaupt gegen das Gemeinwesen handelt. Dieser Schuldner wird von der Gemeinschaft ausgeschlossen und verliert alle Privilegien, die er innerhalb derer genossen hat.
In diesem Zusammenhang führt Nietzsche auf den Begriff der Gerechtigkeit.
2.3.4 Gerechtigkeit
״Alles kann abbezahlt werden. “[17], erwähnt Nietzsche am Ende des achten Abschnitts. Nach diesem Satz erscheint zum ersten Mal der Begriff der Gerechtigkeit in Nietzsches Ausführung. Es ist keine Form von moralischer Gerechtigkeit, da sie rein praktischer Natur ist. Wie unter 2.3 dargelegt, geht es hierbei um einen Ausgleich. Ein effizientes
[...]
[1] Vgl. Siegmeier, Werner. Nietzsches Genealogie der Moral. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Bonn: 1994. S.131
[2] Nietzsche, Friedrich. Zur Genealogie der Moral (GdM). Dtv, München: 1980, s. 292
[3] Ebd.
[4] Nietzsche, GdM, s. 292
[5] Ebd.
[6] Nietzsche, GdM, s. 293
[7] Nietzsche, GdM, s. 294
[8] Nietzsche, GdM, s. 295
[9] Ebd.
[10] Nietzsche, GdM, s. 299
[11] Nietzsche, GdM, s. 298
[12] Nietzsche, GdM, s. 299f.
[13] Ebd.
[14] 1Nietzsche,GdM, s. 301
[15] Vgl. Kant, Immanuel. Die Kritik der Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt am Main: 1974, s. 139
[16] Nietzsche, GdM, s. 307f.
[17] Nietzsche, GdM, s. 306