Über das Surrealistische und Unbewusste in Vivian Maiers Selbstportraits


Bachelorarbeit, 2014

61 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Vivian Maier
2.1 Vom Finden und Sammeln, Pt
2.2 Ihre Fotografien
2.2.1 Bildthemen
2.2.2 Kamera
2.2.3 Komposition
2.2.4 Einordnung ihrer Arbeiten in die Straßenfotografie
2.3 Biografie und Charakter
2.4 Selbstporträts

3. Rosalind Krauss: Das Photographische
3.1 Schatten und Verdopplungen
3.2 Schatten und die Seh-Prothese

4. Technologien des Unbewussten
4.1 Der seelische und der fotografische Apparat
4.2 Sigmund Freud und der Wunderblock
4.3 Freud und Platon in der dunklen Höhle

5. Susan Sontag: Über Photographie
5.1 In Platos Höhle
5.2 Vom Finden und Sammeln, Pt

6. Schluss

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

„Fotografien schildern Wirklichkeiten, die bereits existieren, wenngleich nur die Kamera sie enthüllen kann.“1

Im Januar 2013 landete während eines Praktikums bei der Redaktion des Wohn- Magazins Living at Home in Hamburg ein Bildband auf meinem Schreibtisch. Schon nach dem Durchsehen der ersten Fotografien in diesem bildgewaltigen Buch wurde mir bewusst, dass ich da auf einen kleinen Schatz aufmerksam gemacht wurde. So ähnlich, und noch viel spektakulärer, entdeckte im Jahr 2007 der damals 26-jährige Immobilienmakler John Maloof die außergewöhnlichen Fotografien von Vivian Maier. Auf der Suche nach Illustrationsmaterial über das Stadtviertel Northwest Side in Chicago erstand Maloof bei einer Zwangsversteigerung eine Kiste mit etwa 30 000 Negativen.2 Auf den ersten Blick enttäuscht, dass auf den Fotografien hauptsächlich Menschen zu sehen sind und keine Gebäude, erkannte auch er, als Fotografie- Unkundiger, dass diese Aufnahmen etwas ganz Besonderes sind. Also stellte er einige der Bilder auf die Fotografie-Plattform Flickr. 3 Daraufhin erhielt er innerhalb kürzester Zeit hundertfache Antworten von faszinierten Experten, unter anderem vom Künstler und Fotografen Allan Sekula, und zahlreichen Hobbyfotografen. Auch seriöse Ausstellungsangebote und der Vorschlag zu einem Dokumentarfilm waren darunter.4 Ab diesem Zeitpunkt sollten die Bilder Menschen rund um den Globus begeistern, zu Spekulationen sowie Interpretationen verleiten und die gesamte Welt der (Straßen-) Fotografie auf den Kopf stellen. Bis zum heutigen Zeitpunkt erschienen zahlreiche Publikationen mit ihren Arbeiten, unter anderem die von John Maloof herausgegebenen Werke Vivian Maier: Street Photographer (2011) und Vivian Maier: Self Portraits (2013) . Der Bildband Out of the Shadows (2012) von Richard Cahan und Michael Williams untersucht neben den ästhetischen Aspekten ihrer Fotografien die Biografie und den Charakter Vivian Maiers mit Hilfe von Berichten ehemaliger Arbeitgeber, bei denen sie als Kindermädchen angestellt war. Ausstellungen in bekannten Museen und Galerien folgten bald nach John Maloofs Aufarbeitung seines sensationellen Fundes. Ein großes Medienecho erhielten die Vorstellungen ihrer Arbeiten beispielsweise in der Hilaneh von Kories Galerie in Hamburg, beim London Street Photography Festival, in der Howard Greenberg Gallery in New York oder der Merry Karnowski Gallery in Los Angeles. Weitere Ausstellungen in Italien bis Ungarn über Belgien und Russland wurden vom Publikum mit viel Begeisterung aufgenommen.5

Die vorliegende Arbeit wird versuchen, das Mysterium Vivian Maier zu erkunden und ihre wunderbar beobachteten Straßenszenen mit Hilfe Fotografie-theoretischer Literatur klarer zu sehen. Die zum heutigen Zeitpunkt bekannten Anhaltspunkte zu ihrer Biografie, eine genauere Betrachtung der Geschichte der Entdeckung ihrer Werke sowie Berichte über ihren Charakter und ihr Wesen sollen zunächst dabei helfen, den Menschen Vivian Maier besser zu verstehen. Da der Fotograf, nach Minor Martin White, sich auf der Suche nach Bildern in alles hinein projiziert was er sieht6, ist es besonders wichtig, Vivian Maier sowohl persönlich als auch als Fotografin kennenzulernen, um eine theoretische Betrachtung ihrer Arbeiten exakter durchführen zu können. Eine Einordnung in das Feld der Straßenfotografie wird dazu dienen, ihre Aufnahmen einem Fotografie-theoretischen Kontext zuzuweisen.

Vor allem ihre markanten Selbstporträts werden in dieser Arbeit einer genaueren Analyse unterzogen, da diese, um mit Roland Barthes Worten zu sprechen, besonders bestechend sind.7 Nach dem umfassenden Durcharbeiten der Fotografie-theoretischen Schriften von William Henry Fox Talbot über Laszlo Moholy-Nagy bis zu Jonathan Crary und Michel Foucault war ein Zitat von Walter Benjamin in Kleine Geschichte der Photographie ausschlaggebend für die Richtung, in welche die Auseinandersetzung mit den Fotografien Vivian Maiers gehen soll: „Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen erschließt sie [die Haltung einer Person in einem bestimmten Augenblick, Anm. d. Verf.] ihm. Von diesem Optisch-Unbewussten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewussten durch die Psychoanalyse.“8 Die Selbstporträts liefern gute Anhaltspunkte für die Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Aussage, dem die Fotografie erlaubt, „die Kultur der Moderne unter den Bedingungen mechanischer Reproduktion zu denken.“9

Das optische Unbewusste wird mit Hilfe einer umfassenden Analyse einer 1854 entstandenen Fotografie von Adrien Tournachon, dem jüngeren Bruder des bekannten, aus Frankreich stammenden Fotografen Nadar, erläutert werden. Das von der amerikanischen Kunstkritikerin Rosalind Krauss untersuchte Bild zeigt den französischen Mimen Charles Debureau und gibt einen ersten Einblick in die theoretische Auseinandersetzung mit Subtexten, die einer Fotografie entnommen werden können. Darauf basierend macht eine Aufnahme vom deutschen Fotografen Umbo, mit bürgerlichem Namen Otto Maximilian Umbehr, eine Sonderform des Selbstbildnisses deutlich. Die Untersuchung der Projektion des Schattens seiner Kamera betont, inwiefern diese als „eine Art künstliches Glied [des Menschen - Anm. d. Verf.] funktioniert.“10 Das Konzept Sigmund Freuds zum Unbehagen an einer im wachsenden Maße technisierten Kultur dient dabei als theoretische Grundlage.11

Beim technischen Aspekt der Fotografie angelangt, besteht der nächste Punkt darin, die Verbindung der Kamera zu unserem Bewusstsein aufzudecken, denn wie Sigmund Freud feststellte, gibt es „eine enge Korrespondenz zwischen psychischen Funktionen und technischen Medien.“12 Diese Analyse bietet sich bei den Fotografien von Vivian Maier an, da sie durch ihre Selbstporträts das Technische in der Fotografie für den Betrachter sichtbar macht und damit zur „Aufdeckung einer verborgenen Wahrheit“13 führt. Neben einer einführenden Klärung dieser engen Korrespondenz werden Freuds Notiz ü ber den Wunderblock und Platons H ö hlengleichnis weitere Gesichtspunkte über Begriffe wie Wahrnehmung, Bewusstsein und Realität unterstützend erläutern.

Dass dieses bekannte Gleichnis aus der antiken Philosophie einige theoretische Aspekte der Fotografie beleuchten kann, wird bei Susan Sontags Essay-Sammlung Ü ber Fotografie deutlich. Zusätzlich zu eben diesem Kapitel wird ihre Auseinandersetzung mit dem Surrealismus eine große Rolle bei der Analyse von Vivian Maiers Selbstporträts spielen. Der Sinn der Fotografin für surrealistische Elemente, den sie durch Spiegelungen und Lichtreflexe einzufangen vermochte, soll eines der Hauptthemen dieser Arbeit darstellen.

2. Vivian Maier

2.1 Vom Finden und Sammeln, Pt. 1

„One of the greatest photographers of the 20th century […] was entirely unknown before 2007.“14 Ab dem Zeitpunkt an dem John Maloof der unfreiwillige Nachlassverwalter für Vivian Maiers Lebenswerk wurde, änderte sich sein Leben grundlegend. Als Vorsitzender der Historical Society on Chicago ’ s Northwest Side und der damit in Verbindung stehenden Koautorschaft der Publikation Portage Park war er ab 2005 fast ein Jahr auf der Suche nach historischen Fotografien, die die Architektur und das alltägliche Leben in der Nordwest Side zeigten. Da der Verleger etwa 220 Bilder von hoher Qualität für das Buch verlangte, startete Maloof zusammen mit seinem Koautor eine ausgiebige Recherche. Im Zuge dessen besuchte er das örtliche Auktionshaus RPN und machte dabei eine der größten Entdeckungen der Fotografie-Geschichte. Der Inhalt der zur Versteigerung stehenden Box wurde ausgewiesen als „negatives depicting Chicago in the 60’s.“15 Diese Beschreibung schien gut auf die von Maloof gesuchten Bilder zu passen. Da er jedoch keine Möglichkeit hatte, das Material vor der Auktion zu sichten, machte er einen riskanten Schritt und kaufte die Negative für rund 400 Dollar. Was er da erstand, war „das Lebenswerk einer der besten Straßenfotografinnen, die bis zu diesem Zeitpunkt keiner kannte.“16

Doch nach den Recherchen von Richard Cahan und Michael Williams in Vivian Maier: Out of the Shadows war er nicht der einzige, der die Hinterlassenschaften der bis dahin unbekannten Fotografin entdeckte. Im Jahr 2007 wurden die Negative, Film- und Audio-Aufnahmen sowie Kameras von Vivian Maier im Laufe von drei Auktionen versteigert. Die meisten der Objekte wurden, neben John Maloof, von Ron Slattery und Randy Prow erworben. Maloof erhielt dabei den Zuschlag für die größte Box mit ungefähr 30 000 Negativen.17 Nachdem er das Material zusammen mit seinem Koautor Daniel Pogorzelski sichtete, deponierten sie zunächst die Negative, da diese für ihr Projekt nicht relevant waren. Nachdem dieses fertiggestellt wurde, kam Maloof auf die Aufnahmen zurück und begann, sie zu sichten. Ohne fotografisches Hintergrundwissen erkannte er, dass diese Bilder etwas ganz Besonderes sein mussten.18 Auf der Suche nach einem Urheber fand er den Namen Vivian Maier auf einem der Kontaktbögen. Beeindruckt von diesen Aufnahmen versuchte er, die Fotografin der außergewöhnlichen Arbeiten zu finden, stieß jedoch nur noch auf eine Todesanzeige in der Chicago Tribune, die kurze Zeit davor aufgegeben wurde.19

Inspiriert von den Motiven, nahm er seine einfache Digitalkamera zur Hand und versuchte, die Stadt so zu dokumentieren, wie es Vivian Maier getan hat. Da er von ihren Arbeiten sehr angetan war, begann er, Kurse über Fotografie zu belegen, eine eigene Dunkelkammer einzurichten und letztendlich ihre Sammlung zu rekonstruieren. Kurz nachdem Vivian Maier in sein Leben trat, kündigte er seinen Job als Immobilienmakler und widmet sich seitdem vollständig dem Vermächtnis dieser mysteriösen Fotografin.

Innerhalb eines Jahres hat er 90 Prozent ihrer Hinterlassenschaft gesichert, indem er das von den anderen Bietern erstandene Material aufkaufte. Er sammelte somit einen Bestand von 100 000 bis 150 000 Negativen, mehr als 3000 Drucken und hunderten Rollen verschiedenster Aufnahmen an, auf dessen Grundlage er den Blog www.vivianmaier.com aufbaute. Ihm fällt damit als Sammler, nach Walter Benjamins Worten, „ein frommes Rettungswerk zu.“20

Zunächst stellte er etwa 100 Fotos auf seiner Website vor, doch nachdem monatelang niemand den Internetauftritt besuchte, öffnete er eine Diskussion auf dem Fotografie- Forum Flickr, auf die innerhalb kürzester Zeit unzählige positive Reaktionen folgten.21 Neben etlichen Publikationen mit ihren Arbeiten, die in den letzten Jahren auf der Basis der zufällig gefundenen Fotografien veröffentlicht wurden, stellte John Maloof zusammen mit Charlie Siskel vor wenigen Monaten den Dokumentarfilm Finding Vivian Maier vor.22 Nachdem er über das Sponsoren-Portal Kickstarter Investoren ausfindig machte, bekam er sehr schnell sehr hohe Summen für die Realisierung des Films zugesichert. „Es scheint, als hätten noch ein paar andere Leute Freude an Geschichten, die das Leben schreibt.“23

2.2 Ihre Fotografien

John Maloof konnte fast 150 000 Negative erwerben und bewies damit, dass Vivian Maier eine erstaunlich produktive und engagierte Künstlerin war.24 Doch es liegt nahe anzunehmen, dass der Fund der Fotografien und die zunächst wenigen bekannten Details zu ihrer Person ausschlaggebend für das weltweite Interesse an dem talentierten Kindermädchen und ihren Aufnahmen sind. Doch Experten und Kritiker sind sich einig, dass sich ihre wunderbar beobachteten Straßenszenen ohne weiteres in die Werke der „großen Chronisten des amerikanischen Lebens, wie Walker Evans und Helen Lewitt“25 einreihen. Sogar Vergleiche ihrer Bilder zu denen von Henri Cartier-Bresson, Robert Frank, Lisette Model und Diane Arbus werden gezogen. Neben den vielen Negativen, die sie im Laufe ihres Lebens ansammelte, lagerte sie auch zahlreiche Zeitungsausschnitte und Fotobücher. Es scheint, als wäre sie nicht ohne Vorbilder auf ihre Streifzüge durch New York und Chicago gegangen.26

2.2.1 Bildthemen

Der Meister des entscheidenden Augenblicks, Henri Cartier-Bresson, der das scheinbar zufällig vorgefundene, alltägliche Straßengeschehen zu einer klaren Komposition verdichtete, war davon überzeugt, dass ein Fotograf ein wahrheitsgetreues Bild eines Menschen nur schaffen kann, wenn er diesen in einer alltäglichen Situation erlebt hat. Genau dies bestätigen die prägnantesten Motive von Vivian Maier: „eilige Passanten, plärrende Kinder, erschöpfte Straßenarbeiter oder traurig zusammengefaltete Menschenbündel an der Ecke“27 im New York und Chicago der 1950er und 60er Jahre.

„Maier machte keinen Unterschied, ob vor der Linse ihrer Rolleiflex eine pelzumschlungene und mit Schmuck behängte Dame der High Society der Fotografin einen arroganten Blick von oben zuwarf, ein zahnloser Bahnarbeiter unter dem Schatten seiner Schiebermütze mit ihr flirtete […] Alles war motivwürdig, weil es von der Fotografin perfekt ins Bild gesetzt wurde.“28

Sie schien einen unbestechlichen Blick für den perfekten Moment gehabt zu haben, in dem sie den Auslöser ihrer Rolleiflex betätigen musste, um ihre außergewöhnliche Fähigkeit zu zeigen, sich mühelos mit Menschen zu identifizieren und eine Verbindung zu ihnen aufzubauen. Dabei starrt sie nicht, verurteilt nicht, kreiert keine Karikaturen. Sie entwickelte ihren eigenen, individuellen Stil, komponierte aufrichtige Bilder, die den Betrachter in ein Gefühl von Staunen und Kuriosität versetzen. Es scheint, als ob ihre Aufnahmen die Menschen demaskieren würden, als könnte sie mit ihrer Kamera unter die Oberfläche ihrer Haut sehen und dieses unverwechselbare Gefühl vermitteln, wir würden die Person so sehen, wie sie wirklich ist. „Somehow she found the decisive moment, the instant her camera revealed something true and telling about life.“29 Die entscheidenden Momente, die Vivian Maier anscheinend instinktiv im alltäglichen Leben fand, waren Augenblicke des Lebens, die die Menschen in ihrer Umgebung nicht bemerkten.30 Oder auch Dinge und Momente, die jeder sieht, aber als zu gewöhnlich beiseite schiebt. Vivian Maier fand tausendfach den richtigen Augenblick zur Betätigung des Auslösers, um das, was andere Augen schon gesehen haben, auf eine neue Weise zu entdecken.31

Dennoch scheint es, als hätte sie keine ihrer Aufnahmen geplant oder inszeniert. Vermutlich nutzte sie ihre Kamera, um sich Notizen zu machen, als eine Art Tagebuch, in dem sie das, was vor ihren Augen geschieht und von dem sie fasziniert war, woran sie sich erinnern wollte, dokumentierte. Vielleicht half die Fotografie ihr auch dabei, „Besitz von einer Umwelt zu ergreifen, in der [sie] sich unsicher fühlt[e].“32 Sie zeigte nie auch nur irgendjemandem ihre Aufnahmen, sprach mit den meisten Menschen noch nicht einmal darüber, dass sie so viel fotografierte. Von den 150 000 Negativen hat sie nur ungefähr 3000 Prints machen lassen; zum einen aus Geldnot, zum anderen, so spekuliert Ulrich Rüter, waren ihr die Ergebnisse ihrer Arbeit vielleicht gar nicht wichtig, „sondern es zählte vor allem das Festhalten der Zeit als Vergewisserung.“33 Möglicherweise machte sie deswegen so unverwechselbare und markante Bilder. Sie wollte niemanden beeindrucken, war nicht auf der Suche nach Kuratoren für eine Ausstellung oder nach Verlegern für Bücher. Ob ihr die jetzige Aufmerksamkeit angenehm wäre, wird von zahlreichen Personen, die sie kannten, bezweifelt.

Der Amerikanische Foto-Kritiker und Künstler Allan Sekula findet noch weitere Aspekte, die ihre außergewöhnliche Sicht erklären. Die Zeit, die sie in ihrer Jugend in Frankreich verbrachte, schien ihr, nach Sekula, die Augen geöffnet zu haben. „She had an open and inclusive and very fundamental idea of what constituted ‘America‘ that was missed by a lot of photographers in the 1950s and 60s.“34 Er schätzt vor allem die beispiellose Art, wie Vivian Maier die Welt der Kinder und Frauen in der Mitte des 20.

Jahrhunderts abbildete. 35 Laut dem britischen Kultur-Journalisten Geoff Dyer zeigen viele ihrer Bilder Frauen in der „historischen Klemme zwischen den eng begrenzten Rollenerwartungen der 1950er Jahre und den 36 - oft von Frustration begleiteten - Freiheiten der 60er und danach.“ (Vgl. Abb. 1)

Außerdem stellt er fest, dass ihre Kamera scheinbar von älteren Damen angezogen wurde, die Vivian Maier auf eine Art nicht nur ähnlich waren, sondern ihr eigenes Leben widerspiegelten. Die Frauen auf den Bildern wirken oft einsam, versponnen und

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Abb. 1: Vivian Maier, 1961, Chicago, IL. In: Maloof, John (2014): www.vivianmaier.com

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ein lebenslanges Geheimnis in sich tragend, das die Fotografin mit ihrem „blitzschnell prüfenden Blick intuitiv erfasst[e]“.37 (Vgl. Abb. 2)

Sie fokussierte sich in ihren Fotografien, neben Frauen und Kindern, besonders auf die Personen, deren Leben eine Parallele zu ihrem eigenen darstellte. Da sie sich ihren Unterhalt selbst auf beschwerliche Weise verdiente, waren Menschen der ärmeren Gesellschaftsschichten überwiegend ihr Bildmotiv. Sie kämpfte auf ihre eigene Art für die Unterdrückten.38 Ein besonders anschauliches Beispiel für ihren Fokus auf die Bedürftigen ist der Maxwell Street Market in Chicago, ein Flohmarkt, der eine der Lieblingskulissen von Vivian Maier gewesen sein muss. „When Chicago is the melting

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Abb. 2: Vivian Maier, 1957, Chicago, IL. In: Maloof, John (2014): www.vivianmaier.com

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pot of the Midwest, then Maxwell Street was where the cauldron boiled.“39 Sie ging dorthin, um die Menschen zu beobachten; Tausende, die sich auf ein kleines Areal an einem Samstag quetschten, um Krimskrams und Plunder zu kaufen. Sie wurde angezogen von den Reichen und Armen, von den Narren und Verrückten. Ihre Bilder von den Menschen in den heruntergekommenen Vierteln von Chicago und New York beschönigen nichts, zeigen aber ganz deutlich Vivian Maiers Empathie für diejenigen, die als Faulenzer und Penner von der Gesellschaft abgewiesen wurden.40 Sie schien nicht die offizielle Realität der Stadt sehen und abbilden zu wollen, sondern ihre dunklen Winkel und vernachlässigten Bevölkerungsschichten.41

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Abb. 3: Vivian Maier, September 24, 1959, New York, NY. In: In: Maloof, John (Hg.) (2011): Vivian Maier: Street Photographer. München, Schirmer/Mosel, S. 113

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Alle ihre Bilder von Menschen aus verschiedensten Gesellschaftsschichten haben dabei gemein, dass sie als dichte Porträtstudien gelten können. Die Aufnahmen, die wegen der an der Hüfte der Fotografin positionierten Rolleiflex aus einer leichten Untersicht aufgenommen wurden, zeigen die Porträtierten meist mit einem ernsten Gesichtsausdruck, einer strengen Pose und einem direkten Blick in die Kamera. Ihr Interesse für die Menschen auf der Straße, den alltäglichen Gegebenheiten und dem unverstellten Leben wird in diesen unverfälscht wirkenden Fotografien nochmals Ausdruck verliehen.42 (Vgl. Abb. 4)

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Abb. 4: Vivian Maier, September 1965, New York, NY. In: Maloof 2011, S. 89

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2.2.2 Kamera

„Und doch ist, was über die Photographie entscheidet, immer wieder das Verhältnis des Photographen zu seiner Technik. […] Der Geigenspieler […] muß den Ton erst bilden, muß ihn suchen, blitzschnell finden, der Klavierspieler schlägt die Taste an: der Ton erklingt. Das Instrument steht dem Maler wie dem Photographen zur Verfügung. Zeichnung und Farbengebung des Malers entsprechen der Tonbildung des Geigenspielers, der Photograph hat mit dem Klavierspieler das maschinelle voraus, das einschränkenden Gesetzen unterworfen ist, die dem Geiger lange nicht den gleichen Zwang auferlegen.“43

Mit einer einfachen Kodak Brownie begann Vivian Maier 1949, ihr Umfeld zu dokumentieren. Zwei Jahre später kaufte sie sich eine Rolleiflex, die während der Aufnahme auf der Höhe der Hüfte gehalten wird, da der Fotograf auf die Oberseite der Kamera schaut, um das Bild zu gestalten. Diese zweiäugige Spiegelreflexkamera half ihr, um besonders nah an den von ihr fotografierten Menschen heranzukommen, denn „…it doesn't require the photographer to raise the camera to her face in a dramatic, obvious, intimidating gesture, the way a single-lens reflex does.“44 Vivian Maier konnte sich ihren Modellen unaufdringlich und ohne aggressive Bewegung nähern, sodass diese es nicht bemerkten. Sie wurde toleriert, zum Teil ignoriert, wodurch sich die Menschen in ihrem Umfeld natürlich verhielten, was sie vermutlich nicht getan hätten, wäre eine Kamera auf Augenhöhe auf sie gerichtet worden. Dies erklärt die zum Teil bildfüllende Nähe von vielen der, wie Ulrich Rüter es nennt, Porträtstudien.45 Damit befolgte sie, ob wissentlich oder nicht, die wichtigsten Regeln für Straßenfotografen, die Henri Cartier-Bresson in seiner Schrift Der entscheidende Augenblick (1952) aufstellte. Um ein wahrheitsgetreues Bild eines Menschen zu schaffen, müsse das Modell den Fotografen, der sich auf Zehenspitzen an das Objekt heranschleichen soll, sowie die Ausrüstung vergessen oder besser gar nicht bemerken. Denn nichts sei „flüchtiger und weniger greifbar […] als ein Gesichtsausdruck.“46 Es braucht eine enorme Konzentration und Geschick, solche Momente mit der Kamera einzufangen. Mit ihrem Talent schaffte es Vivian Maier, die Männer, Frauen und Kinder, die sie selten registrierten, tief in Gedanken versunken abzulichten. Sie wirken oft isoliert und einsam.47 (Abb. 5, S. 15)

Mit ihrer Rolleiflex um den Hals wirkte sie zu der Zeit der simplen und schnellen 35mm Kameras jedoch völlig altmodisch. Anscheinend schätzte sie die enormen Vorteile dieser Kamera, die sie bis ans Ende ihres Lebens bei ihren täglichen Streifzügen durch die Welt begleitete. Obwohl die Rolleiflex nur 12 quadratische Negative mit einer Filmrolle produzieren konnte, war sie besonders leise.48 Wegen ihres Formates negiert sie zudem jegliche Oben-Unten und Rechts-Links Hierarchie der Komposition. Dadurch bekommt der Betrachter „an oddly artificial, always formal square view of the world.“49

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Abb. 5: Vivian Maier, Undated. In: Maloof, John (2014): www.vivianmaier.com

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2.2.3 Komposition

Vivian Maier gestaltete ihre Aufnahmen, trotz aller Spontaneität, mit einem ausgeprägten Sinn für das Wesentliche und für eine ausgewogene Komposition. Sie schaffte es, das Modell in den Mittelpunkt zu rücken und dennoch dem erzählerischen Umfeld der Stadt und der Straße genügend Raum zu lassen. „She gets people in mid- stride but makes them somehow classical in stature, not fleeting, but whole, self- evident, mortal. Bells go off when you look at her pictures; you become witness of something big.“50 Es scheint, als hätte sie von Henri Cartier-Bressons Definition, fotografieren bedeute, „in der realen Welt den Rhythmus [zu] erkennen“51 gewusst und

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Abb. 6: Vivian Maier, October 31, 1954, New York, NY. In: Maloof 2011, S. 77

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im richtigen Moment die Entscheidung getroffen, den Auslöser zu betätigen. Vor allem Menschen in Bewegung konnte sie auf eine fesselnde Art und Weise im perfekten Augenblick einfangen. „Innerhalb der Bewegung gibt es einen Moment, in dem sich alle Elemente in Harmonie befinden. Diesen Moment muss die Photographie erfassen und seine Balance für immer festhalten.“52

Sie hatte zudem die außergewöhnliche Fähigkeit, Muster zu erkennen sowie Licht und Schatten so zu nutzen, dass die Fotografien klar und strukturiert wirken. „The work sings with photographic purity.“53

[...]


1 Sontag, Susan (1977): Über Fotografie. Frankfurt am Main, S. Fischer, S. 118

2 Vgl. Maloof, John (2014): http://www.vivianmaier.com/about-vivian-maier/history/, zugegriffen am: 21.03.2014

3 Vgl. Petersen, Jana (2011): Das Märchen der Vivian Maier. In: taz. die tageszeitung Bilderwelt vom 29./30. Januar 2011, S. 34

4 Vgl. Cahan, Richard/Williams, Michael (2012): Vivian Maier: Out Of The Shadows. Chicago, CityFiles Press, S. 283

5 Maloof 2013, http://www.vivianmaier.com/exhibitions-events/

6 Vgl. Sontag 1977, S. 112

7 Barthes, Roland (1989): Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt am Main, Suhrkamp

8 Benjamin, Walter (1931): Kleine Geschichte der Photographie. In: Stiegler, Bernd (Hg.): Texte zur Theorie der Fotografie. Stuttgart, Reclam, S. 252

9 Krauss, Rosalind (1998): Das Photographische. Eine Theorie der Abstände. München, Fink Verlag, S. 15

10 Ebd., S. 206-207

11 Vgl. Ebd,

12 Vogl, Joseph (1999): Technologien des Unbewussten. Zur Einführung. In: Engell, Lorenz/Fahle, Oliver/ Neitzel, Britta/Pias, Claus/Vogl, Joseph (Hg.) (1999): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. 6. Auflage. München, Random House, S. 373

13 Sontag 1977, S. 58

14 Saltz, Jerry (2014): Jerry Saltz on Finding Vivian Maier: An invisible Artist and the Man who Found her. In: http://www.vulture.com/2014/03/saltz-on-finding-vivian-maier.html, zugegriffen am: 03.04.2014.

15 Maloof 2014, www.vivianmaier.com/about-vivian-maier/history/

16 Weissmüller, Laura (2011): Die Unbekannte. In: Süddeutsche Zeitung vom 28. Januar 2011, S. 11

17 Vgl. Cahan/Williams 2011, S. 283

18 Maloof 2014, www.vivianmaier.com/about-vivian-maier/history/

19 Vgl. Wiensowski, Ingeborg (2011): Das geheime Genie des Kindermädchens. In: http:// www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fotografie-ausstellung-das-geheime-genie-des-kindermaedchens- a-744038.html, zugegriffen am: 15.02.2014

20 Benjamin, Walter. In: Sontag, Susan, 1977, S. 77

21 Maloof 2014, www.vivianmaier.com/about-vivian-maier/history/

22 Vgl. Maloof, John/Siskel, Charlie (2014): http://www.findingvivianmaier.com, zugegriffen am: 15.03.2014

23 Schulz, Tom (2011): Die tausend Gesichter der Vivian Maier. In: Hamburger Abendblatt vom 27. Januar 2011, S. 20

24 Vgl. Saltz 2014

25 Petersen, 2011

26 Vgl. Schulz, 2011

27 Weissmüller, 2011

28 Ebd.

29 Cahan/Williams, 2011, S. 16

30 Ebd., S. 16

31 Vgl. Sontag 1977

32 Sontag 1977, S. 15

33 Rüter, Ulrich (2011): Vivian Maier. Ein neues Kapitel der Street Photography. In: Photonews, Ausgabe Februar 2011, S. 11

34 Cahan/Williams 2011, S. 40

35 Vgl. Ebd.

36 Dyer, Geoff (2011): Geoff Dyer über Vivian Maier. In: Maloof, John (Hg.) (2011): Vivian Maier: Street Photographer. München, Schirmer/Mosel, S. 9

37 Dyer 2011, S. 9

38 Cahan/Williams 2011, S. 133

39 Cahan/Williams 2012, S. 132

40 Vgl. Ebd.

41 Vgl. Sontag 1977 (Vgl. Abb. 3)

42 Vgl. Rüter 2011 (Vgl. Abb. 4)

43 Benjamin 1931, S. 259

44 Saltz 2014

45 Vgl. Ebd.

46 Cartier-Bresson, Henri (1952): Der entscheidende Augenblick. In: Stiegler, Bernd (Hg.) (2010): Texte zur Theorie der Fotografie. Stuttgart, Reclam, S. 202

47 Vgl. Cahan/Williams 2012

48 Vgl. Cahan/Williams 2012

49 Saltz 2014

50 Rüter 2011

51 Cartier-Bresson 1952, S. 203

52 Cartier-Bresson 1952, S. 203

53 Avedon, Elizabeth (2013): Self-Portrait. My impressions of Vivian Maier. In: Maloof, John (Hg.) (2013): Vivian Maier. Self-Portraits. powerHouse Books, New York, S. 12

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Details

Titel
Über das Surrealistische und Unbewusste in Vivian Maiers Selbstportraits
Hochschule
Bauhaus-Universität Weimar
Note
2,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
61
Katalognummer
V421699
ISBN (eBook)
9783668725416
ISBN (Buch)
9783668725423
Dateigröße
522 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Fotografie, Medienwissenschaft, Kulturwissenschaft, Fotografietheorie
Arbeit zitieren
Silvia John (Autor:in), 2014, Über das Surrealistische und Unbewusste in Vivian Maiers Selbstportraits, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/421699

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