Bei der Bundestagswahl 2002 wurde die alte Regierung mit einem äußerst knappen Vorsprung vor den konkurrierenden Parteien im Amt bestätigt.
Was war diesem Ergebnis nicht alles vorausgegangen: Die Jahrhundertflut in Ostdeutschland und ihre dramatischen Folgen, der drohende Irakkrieg, die beiden Fernsehduelle, die antsemitische Diskussion um die FDP sowie der Machtkampf der beiden Kanzlerkandidaten: Bestimmt wurde der Wahlkampf zur Bundestagswahl 2002 zu einem Großteil von Personalisierung der Wahlkampagne, Inszenierung durch die Medien und vielmehr durch eine Dramatisierung als eine sachliche Darstellung der politischen Inhalte. Damit lag diese Strategie ganz im Trend der „Amerikanisierung“, welche in den letzten Jahren immer stärker in die deutschen Wahlkämpfe Einzug gehalten hat. Ziel war es dabei vor allem, Meinungen zu polarisieren, um so die noch unentschlossenen Wähler emotional für die eigene Partei zu gewinnen.
Diesen gefühlsorientiert handelnden Menschen steht der „rationale Wähler“ gegenüber, der im Vorhinein exakt einen Plan über die Vorteile und Nachteile seiner Wahlentscheidung aufstellt und auf diese Weise niemals spontan aus einer Gefühlskomponente heraus handelt: Ganz im Gegenteil ist sein Handeln stets bewusst auf ein politisches Ziel ausgerichtet.
Doch besitzt das Konzept des rationalen Wählers, welches bereits im Jahr 1957 von Anthony Downs entwickelt und seit den 80er Jahren in der Wahlforschung immer wieder zur Erklärung von Wahlverhalten herangezogen wurde, überhaupt noch eine Relevanz für die Analysen des Ergebnisses der Bundestagswahl 2002? Wird in den Nachbetrachtungen der Wahl berücksichtigt, inwieweit sich die Wähler an politischen Sachfragen orientiert oder sie eher spontan gewählt haben? War das Ergebnis der Bundestagswahl lediglich ein reiner Zufall und somit verursacht von Wählern, die aus dem Affekt heraus ihre Stimme abgegeben haben? Oder verbergen sich dahinter genau abgewogene Wählermeinungen?
Von Interesse ist darüber hinaus, wie die wissenschaftliche Theorie und die Praxis miteinander in Verbindung stehen: Denn was passiert, wenn das Modell von Downs mit der Realität einer politischen Wahl konfrontiert wird? Handelt der Wähler rational, wenn er wählt? Handelt er irrational? Und: Kann rationales Wählen in der Praxis überhaupt von irrationalem Wählen unterschieden werden?
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diese Fragen zu erörtern und zu beantworten.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Rational-Choice-Theorien
2.1. Die Grundlagen von Rational-Choice-Modellen
2.1.1. Der Ursprung und die Idee von Rational-Choice
2.1.2. Der Begriff der Rationalität
2.1.3. Das zugrunde liegende Menschenbild
2.1.3.1. Der Homo Ökonomicus
2.1.3.2. Kritik und Konkurrenzmodelle
2.2. Modelle rationaler Wahlhandlungen
2.2.1. Warum ausgerechnet Downs?
2.2.2. Das Modell des rationalen Wählers
2.2.2.1. Die Grundannahmen
2.2.2.2. Der rationale Wähler im Zweiparteiensystem
2.2.2.3. Der rationale Wähler im Mehrparteiensystem
2.2.2.4. Das Problem der Informationskosten
2.2.2.5. Das Wahlparadoxon
2.2.3. Das „RREEMM“-Akteursmodell
3. Die Bedeutung von Rational-Choice-Theorien im Rahmen von Analysen der Bundestagswahl 2002
3.1. Das Wahlergebnis und seine Interpretationen
3.2. Die Rolle von Rational-Choice-Theorien innerhalb der Wahlanalysen
3.2.1. Zufallssieg oder Leistungssieg?
3.2.2. Die Berücksichtigung des rationalen Wählers
3.2.3. Der Versuch einer Erklärung
4. Zusammenfassung
5. Literaturverzeichnis und Internetquellen
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Das RREEMM-Modell als Modell der Wahlentscheidung
1. Einleitung
Vor fast genau einem Jahr wurde bei der Bundestagswahl 2002 die alte Regierung mit einem äußerst knappen Vorsprung vor den konkurrierenden Parteien im Amt bestätigt. Was war diesem Ergebnis nicht alles vorausgegangen: Die Jahrhundertflut in Ostdeutschland und ihre dramatischen Folgen, der drohende Irakkrieg, die beiden Fernsehduelle, die antisemitische Diskussion um die FDP sowie der Machtkampf der beiden Kanzlerkandidaten: Bestimmt wurde der Wahlkampf zur letzten Bundestagswahl zu einem Großteil von Personalisierung der Wahlkampagne, Inszenierung durch die Medien und vielmehr durch eine Dramatisierung als eine sachliche Darstellung der politischen Inhalte. Damit lag diese Strategie ganz im Trend der „Amerikanisierung“, welche in den letzten Jahren immer stärker in die deutschen Wahlkämpfe Einzug gehalten hat. Ziel war es dabei vor allem, Meinungen zu polarisieren, um so die noch unentschlossenen Wähler emotional für die eigene Partei zu gewinnen.
Diesen gefühlsorientiert handelnden Menschen steht der „rationale Wähler“ gegenüber, der im Vorhinein exakt einen Plan über die Vorteile und Nachteile seiner Wahlentscheidung aufstellt und auf diese Weise niemals spontan aus einer Gefühlskomponente heraus handelt: Ganz im Gegenteil ist sein Handeln stets bewusst auf ein politisches Ziel ausgerichtet.
Doch besitzt das Konzept des rationalen Wählers, welches bereits im Jahr 1957 von Anthony Downs entwickelt und seit den 80er Jahren in der Wahlforschung immer wieder zur Erklärung von Wahlverhalten herangezogen wurde, überhaupt noch eine Relevanz für die Analysen des Ergebnisses der Bundestagswahl 2002? Wird in den Nachbetrachtungen der Wahl berücksichtigt, inwieweit sich die Wähler an politischen Sachfragen orientiert oder sie eher spontan gewählt haben? War das Ergebnis der Bundestagswahl – wie Politikwissenschaftler Joachim Raschke behauptet – lediglich ein reiner Zufall und somit verursacht von Wählern, die aus dem Affekt heraus ihre Stimme abgegeben haben? Oder verbergen sich dahinter genau abgewogene Wählermeinungen?
Von Interesse ist darüber hinaus, wie die wissenschaftliche Theorie und die Praxis miteinander in Verbindung stehen: Denn was passiert, wenn das Modell von Downs mit der Realität einer politischen Wahl konfrontiert wird? Handelt der Wähler rational, wenn er wählt? Handelt er irrational? Und: Kann rationales Wählen in der Praxis überhaupt von irrationalem Wählen unterschieden werden?
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diese Fragen zu erörtern und zu beantworten – wobei der Betrachtung des rationalen Wählers im Rahmen der Analysen zur Bundestagswahl 2002 eine grundlegende Darstellung von Rational-Choice-Theorien und ihrer Modelle vorausgehen soll.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich unter Berücksichtigung der relevanten Fachliteratur mit den theoretischen Grundlagen von Rational-Choice-Theorien und ihren Anwendungsmöglichkeiten bei politischen Wahlen. In Abschnitt 2.1. erfolgt zunächst eine einführende Betrachtung von Rational-Choice: Der Fokus liegt hier hauptsächlich auf den Wurzeln von Theorien rationaler Wahlhandlungen, auf der Begriffsdefinition der „Rationalität“ sowie auf dem zugrunde liegenden Menschenbild der Theorien, dem Homo Ökonomicus. Der darauf folgende Kapitelteil 2.2. setzt sich mit Modellen rationaler Wahlhandlungen auseinander, die versuchen, das Wahlverhalten bei politischen Wahlen zu erklären: Dabei steht in erster Linie Downs’ Modell des rationalen Wählers, das als Klassiker in der Wahlforschung gilt, im Vordergrund der Ausführungen. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels soll dann exemplarisch auf ein weiteres Modell zur Erklärung von Wahlverhalten – das sogenannte „RREEMM“-Modell – eingegangen werden.
Das dritte Kapitel dieser Arbeit untersucht, inwieweit die zuvor dargestellten theoretischen Erkenntnisse in den Analysen zur letzten Bundestagswahl ihre Anwendung finden: Zu diesem Zweck soll im Kapitelteil 3.1. zunächst eine knappe Übersicht über die Ergebnisse der Wahl gegeben werden sowie danach – im Abschnitt 3.2.1. – eine nähere Darstellung zweier gegensätzlicher Thesen erfolgen: War der Sieg der SPD eher ein Zufalls- oder ein Leistungssieg?
Im darauf folgenden Abschnitt 3.2.2. steht im Mittelpunkt der Untersuchung, inwiefern der Aspekt des rationalen Wählers für die Analysen zur Bundestagswahl 2002 tatsächlich von Bedeutung ist. Abschließend soll versucht werden, eine Erklärung für das Ergebnis dieser Untersuchung zu finden.
2. Rational-Choice-Theorien
2.1. Die Grundlagen von Rational-Choice-Modellen
Auch wenn es uns nicht immer bewusst vor Augen geführt wird: Eine Wahl zu treffen und dann entsprechend zu handeln ist ein ganz normaler, alltäglicher Vorgang. Ob es dabei um tagtägliche, eher unbedeutende Entscheidungen geht – wie z.B. welches Fernsehprogramm eingeschaltet wird, was es zum Frühstück zu essen gibt oder wie man sich kleidet – oder um sehr wichtige Entscheidungen, die beispielsweise im Bereich der Politik getroffen werden und Auswirkungen auf die Weltordnung haben könnten, soll dabei zunächst unwichtig sein: Unabhängig von Bedeutung der Entscheidungen und Tragweite der Folgen, die die Wahl eines Individuums besitzt, ist festzuhalten, dass jedem Menschen Tag für Tag aufs Neue Entscheidungen abverlangt werden.
Immer dann, wenn ein Mensch eine Entscheidung trifft – also zwischen mindestens zwei Alternativen auswählt – können die Motive, aus denen er heraus handelt, sehr gegensätzlicher Natur sein. So ist es einerseits möglich, dass der Akteur in einer Wahlsituation seine Entscheidung aufgrund von Normen trifft, die ihm die Gesellschaft vorschreibt und die durch ihn verinnerlicht worden sind: Die Wahl zwischen den Handlungsalternativen würde in einem solchen Fall also aufgrund eines Erwartungszwanges aus gegenseitigen sozialen Abhängigkeiten heraus stattfinden. Andererseits wäre es aber auch möglich, dass das Individuum nach seinen eigenen Normen handelt und unter Zuhilfenahme einer Kalkulation des zu erwartenden Erfolges danach strebt, seine eigenen Nutzenvorstellungen zu verwirklichen: Wenn dies der Fall ist, dann resultiert die Entscheidung für eine der alternativen Handlungsmöglichkeiten aus einer rationalen Abwägung heraus (vgl. Braun 1999: 41, Erläuterung 3, bezogen auf Weise 1989: 150-156).
Mit diesem Typ Wahlhandlung, also eben genau der rationalen Wahl (in Englisch: „Rational-Choice“), setzt sich der folgende Teil dieser Arbeit näher auseinander. Zunächst soll aufgezeigt werden, in welchen Theorien die Wurzeln des rationalen Wählens liegen, womit sich Rational-Choice-Theorien beschäftigen und welches Menschenbild ihnen zugrunde liegt. Später wird dann dargestellt, wo die ursprünglich soziologisch angesiedelten Rational-Choice-Modelle in der Politikwissenschaft ihre Anwendung finden und inwieweit diese eine Erklärung für das Wahlverhalten im Rahmen einer politischen Wahl bieten können – wobei der Schwerpunkt der Betrachtung auf Anthony Downs’ Modell des rationalen Wählers liegen soll.
2.1.1. Der Ursprung und die Idee von Rational-Choice
Ein hauptsächlicher Ursprung von Modellen rationaler Wahlhandlungen liegt in den aus der Soziologie stammenden Handlungstheorien, deren Ziel es ist, individuelles Handeln von Akteuren zu erklären. Im Gegensatz zu ihren Vorläufern erkennen diese Theorien an, dass die bloße Nennung der Ziele eines Individuums für die Erklärung seines Handelns nicht ausreichend ist, weswegen sie das zielgerichtete Verhalten eines Akteurs nicht nur im Allgemeinen analysieren: Stattdessen untersuchen sie die Wahlhandlung in Bezug auf eine bestimmte, konkrete Situation – nämlich genau auf diejenige Situation, in der das Individuum die Entscheidung fällt. Durch die Koppelung von Vermutungen über die individuellen Ziele und die institutionellen, kulturellen und situationellen Rahmenbedingungen, in denen sich das Individuum befindet, versuchen die Vertreter der Handlungstheorien den Vorgang des individuellen Entscheidens zu erklären (vgl. Büschges / Abraham / Funk 1998: 120 f.).
Dabei ist es nur natürlich, dass es in der Soziologie keinesfalls nur „eine richtige“ oder sogar „die wahre“ Handlungstheorie gibt (vgl. Roth 1998: 23): Vielmehr ist eine Vielzahl von Vorschlägen für eine allgemeine Handlungstheorie vorhanden, die von behavioristischen Lerntheorien, über den Ansatz des normorientierten Homo Sociologicus bis hin zu phänomenologischen Alltagstheorien reicht (vgl. Hill 2002: 29, bezogen auf Turner 1988, 1998). So viele Theorien es allerdings in der Soziologie zur Erklärung des menschlichen Entscheidungsvorganges in einer bestimmten Situation auch gibt: Allen Ansätzen muss gemeinsam sein, dass sie grundsätzlich auf alle Akteure und Handlungssituationen übertragbar sein sollten (vgl. Hill 2002: 29).
Auch die Idee der rationalen Wahlhandlung setzt genau an diesem Punkt an: Besonders im Rahmen von Rational-Choice wurden Modelle entwickelt, die bemüht sind, diese Voraussetzung – nämlich, dass die Theorie auf sämtliche Akteure und Arten von Handlungen angewendet werden kann – zu erfüllen: Rational-Choice, welches in der Fachliteratur als „ein der Handlungstheorie eng verwandtes sozialwissenschaftliches Theorieschema“ (Hennen / Springer 1996: 35) bezeichnet wird, hat sich zum Ziel gesetzt, soziale Handlungen zu erklären, um daraus wiederum eine Erklärung für soziale Tatbestände ableiten zu können. Dabei geht es in dieser Theorierichtung vor allem und hauptsächlich darum, die Auswahl der Handlungen eines Individuums zu beleuchten – d.h. speziell die Frage nach der Handlungswahl eines Akteurs ist das Kernstück der Modelle der rationalen Wahl (vgl. Hill 2002: 29).
Innerhalb der Rational-Choice-Idee hat sich ebenfalls keine große, homogene Theorie herausgebildet: Vielmehr liegen auch in diesem Theoriefeld mehrere unterschiedliche Varianten und Modelle vor, die versuchen, auf ihre Weise und unter dem Oberbegriff des Rational-Choice eine Erklärung für menschliches Entscheidungsverhalten zu präsentieren (vgl. Büschges / Abraham / Funk 1998: 120 f.). Dabei werden sämtlichen Theorien rationaler Wahlhandlungen trotzdem die gleichen Annahmen zugrunde gelegt: Vorausgesetzt wird, dass das Individuum sich in einer Situation befindet, in der Knappheit vorherrscht. Daher muss es eine Entscheidung darüber treffen, welchen seiner Bedürfnisse es den Vorzug gibt – und welche es hinten anstellt: Der Akteur besitzt also im Rahmen seines Handlungsspielraumes, der durch natürliche und soziale Restriktionen sowie durch die persönlichen Präferenzen beeinflusst wird, mehrere Möglichkeiten, wie er sich entscheiden kann. Diese verschiedenen Handlungsmöglichkeiten stellen verfügbare Mittel für das Individuums dar, zwischen denen es seine Entscheidung fällt – wobei dieser Vorgang nach der Annahme der Rational-Choice-Theorien stets rational erfolgt (vgl. Schmitt 1996: 111).
Voraussetzung für diese Rationalität allerdings – und auch darin sind sich die Vertreter der verschiedenen Modelle rationaler Wahlhandlungen einig – ist, dass die Akteure befähigt sind, die Folgen ihres eigenen Handelns abzuschätzen, sie in Bezug auf ihre Erwünschtheit in Relation zueinander zu setzen und sie in einem weiteren Schritt in eine Reihenfolge bringen zu können, die keine Widersprüche in sich bergen darf. Zwar ist diese sogenannte Präferenzreihenfolge der Individuen nicht selbst Element von Rational-Choice-Theorien – als Input für dieselben aber in jedem Fall unerlässlich (vgl. Büschges / Abraham / Funk 1998: 120 f.).
2.1.2. Der Begriff der Rationalität
Doch was eigentlich genau zeichnet eine Handlung im Rahmen der Rational-Choice-Theorien als rational aus? Wie ist der Begriff der Rationalität zu definieren?
Schon in den Vorläufern der Rational-Choice-Modelle hat der Rationalitätsbegriff, der in der politischen Ideensgeschichte von Philosophen wie Platon und Aristoteles mit dem Begriff der Vernunft gleichgesetzt wurde, einen grundlegenden Wechsel hinsichtlich seiner Interpretation erfahren müssen: So wird die Vernunft – im Sinne der Rationalität – heute nicht mehr wie damals als ein am Gemeinwohl ausgerichtetes Handeln der einzelnen Akteure angesehen, sondern stattdessen auf die unabhängige, freie Entscheidung des Individuums bezogen. Durch diesen Interpretationswechsel erfolgte gleichzeitig eine deutliche Zuspitzung des Rationalitätsbegriffes in Richtung Rational-Choice: Die ehemals ethischen Hintergedanken des vernünftigen und rationalen Handelns traten mehr und mehr in den Hintergrund (vgl. Braun 1999: 29).
In der heutigen Fachliteratur sind zu der Frage, wie sich die Rationaliät im Sinne der Rational-Choice-Theorie definieren lässt, unterschiedliche Interpretationen zu finden. Im Folgenden sollen daher zunächst verschiedene Positionen diverser Autoren dargestellt werden.
Thomas Bayes beispielsweise – als Vertreter einer Variante der rationalen Entscheidungstheorie – erklärt die Rationalität einer Handlung durch die subjektivistische Natur des Menschen und unterscheidet drei Entscheidungszustände des Individuums – nämlich Entscheidungen, die unter Sicherheit, unter Unsicherheit oder unter Risiko gefällt werden. In der ersten Situation bewertet demnach der Akteur zunächst die eventuellen Folgen seiner möglichen Handlungen; danach wählt er stets diejenige Handlungsalternative aus, der er die am höchsten bewertete Folge zugewiesen hat. In einer Situation hingegen, in der Unsicherheit herrscht, ordnet das Individuum den Folgen seiner möglichen Handlungen Wahrscheinlichkeitswerte zu und wählt daraufhin diejenige Handlung, die für es den höchsten positiven Erwartungswert besitzt. Im Rahmen der letzten Handlungssituation schließlich – Handeln unter Risiko – bietet sich der Akteur nicht einmal mehr die Chance, den möglichen Folgen einer Handlungsalternative Wahrscheinlichkeitswerte zuzuordnen (vgl. Dreier 1996: 69 f., bezogen auf Bayes 1958).
Es wird also bei diesem Modell für das Individuum mit abnehmender Sicherheit in der Entscheidungssituation immer problematischer, die Folgen seiner Handlungen abzuschätzen und deswegen auch schwieriger, sich für eine der Handlungsmöglichkeiten zu entscheiden. Betreffend der Rationalitätskriterien steht bei diesem Modell in der Kritik, dass keine Begründung für die oben genannten drei Entscheidungszustände genannt wird. Außerdem wird der Zeitfaktor in Bezug auf die Anwendung der Handlungsfolgen vernachlässigt. Das Modell bleibt also somit hinsichtlich der Definition des Rationalitätsbegriffes recht allgemein (vgl. Dreier 1996: 70).
Anthony Downs dagegen, mit dessen Modell des rationalen Wählers sich im späteren Verlauf dieser Arbeit eingehender beschäftigt werden soll, ist einer der Vertreter des ökonomischen Ansatzes zur Erklärung menschlichen Handelns und bestimmt den Begriff der Rationalität konkreter: Fünf Kriterien stellt Downs auf, nach denen eine Entscheidung als rational definiert werden kann. So ist seiner Ansicht nach eine Wahl genau dann als rational zu bezeichnen, wenn der Akteur erstens bei mehreren ihm zur Auswahl stehenden Handlungsmöglichkeiten immer dazu in der Lage ist, eine Entscheidung zu fällen, wenn der Akteur zweitens alle Handlungsmöglichkeiten nach seinen Präferenzen ordnet und sie so in eine Rangordnung bringt, wenn diese Rangordnung drittens transitiv, das heißt logisch und in sich widerspruchsfrei ist, wenn der Akteur viertens aus den zur Wahl stehenden Alternativen derjenigen den Vorzug gibt, die in seiner Präferenzordnung den ersten Platz einnimmt und schließlich, wenn der Akteur fünftens bei gleichen Handlungsmöglichkeiten stets die gleiche Wahl treffen wird (vgl. Downs 1968: 6).
Die Kritiker von Downs dagegen lehnen diese Definition der ökonomischen Rationalität als der Realität nicht angemessen ab (für den folgenden Abschnitt vgl. Fuchs / Kühnel 1994: 308, Shahla 2001a: 651): Für sie ist die Begriffsbestimmung zu einseitig und zu eng formuliert. Im Gegensatz zu den Vertretern der strikten Variante der ökonomischen Rational-Choice-Theorie gehen Downs’ Kritiker nicht davon aus, dass die Akteure in der realen Welt stets über sämtliche Informationen verfügen, die sie für ihre Handlungsmöglichkeiten und die Beurteilung der Konsequenzen derselben benötigen – und aus diesem Grund definieren sie „rationales Handeln“ oder „Rationalität“ auch auf eine andere Weise als Downs. Bei dieser gemäßigteren Variante des Rational-Choice-Ansatzes nämlich wird vorausgesetzt, dass die Umwelt, in der die Akteure handeln, komplex ist, und darüber hinaus die Kapazitäten der Individuen zur Informationsverarbeitung stark eingegrenzt sind – woraus sich für den einzelnen Akteur das Problem ergibt, die Auswirkungen seines Handelns nicht gegeneinander abwägen zu können, was wiederum eine Unsicherheit beim ihm hervorruft. Aus dieser Annahme entstanden ist der Begriff einer gelockerten Rationalität, der sogenannten „beschränkten Rationalität“ (bounded rationality), der bereits in den 60er Jahren durch Herbert Simon geprägt wurde. Dieser Begriff ist die Grundlage der Versuche in den letzten Jahrzehnten, realitätsnähere Modelle rationaler Wahlhandlungen zu konstruieren.
Ein weiterer Vorschlag, der der Realitätsferne der Definition des Rationalitätsbegriffes durch die klassische ökonomische Rational-Choice-Theorie Rechnung trägt, ist das „RREEMM“ (Ressourceful, restricted, expecting, evaluating, maximizing man)-Modell, welches unter anderem von Siegwart Lindenberg entwickelt wurde und eine weitergehende Präzisierung dessen, was eine rationale Handlung ausmacht, darstellt. Auch in dieses Modell ist die Annahme über eine gewisse Nicht-Informiertheit und somit Unsicherheit des Akteurs (vgl. obiger Abschnitt) integriert – allerdings wird hier davon ausgegangen, dass das handelnde Individuum immer ein Minimum an Informationen über die sozialpolitischen Verhältnisse und die Akteure in der Politik besitzt, mit deren Hilfe es seine Bedürfnisse und Präferenzen zum Ausdruck bringen kann. Basierend auf dieser Grundlage wird es dem Akteur möglich, die Vorteile und die Nachteile, die sich als Konsequenzen aus den denkbaren Handlungsalternativen ergeben würden, in Relation zueinander zu setzen und folgend eine dieser Alternativen auszuwählen – nämlich exakt diejenige, die seine Bedürfnisse am ehesten in der Realität befriedigen kann und ihm in Aussicht stellt, den von ihm erwarteten Nutzen zu maximieren. Genau dieser beschriebene Vorgang also zeichnet nach dem „RREEMM“-Modell, auf das später in dieser Arbeit im Rahmen von Modellen rationaler Wahlentscheidungen noch einmal genauer eingegangen werden soll, die Definition einer rationalen Handlung aus (vgl. Shahla 2001a: 651, 683 f.).
2.1.3. Das zugrunde liegende Menschenbild
Nachdem in den vorherigen Abschnitten schon erwähnt wurde, dass der Akteur in Rational-Choice-Modellen in derjenigen Absicht eine Entscheidung trifft und eine entsprechende Handlung ausführt, um den eigenen Nutzen zu maximieren, soll an dieser Stelle zunächst noch einmal zusammengefasst werden, aus welchen Aspekten das Menschenbild besteht, welches den Modellen rationaler Wahlhandlungen zugrunde liegt bzw. welche grundsätzlichen Annahmen die Vertreter dieser Schule über die Handlungen des Akteurs in Entscheidungssituationen formulieren.
2.1.3.1. Der Homo Ökonomicus
Die Vorstellungen über den Charakter des Akteurs in den heute existenten Rational-Choice-Modellen basieren auf alter, ökonomischer Tradition, deren Ursprung bis ins 18. Jahrhundert zurückgeht. So stellte Adam Smith als Vertreter des Liberalismus und der schottischen Moralphilosophie zu dieser Zeit erstmals eine Verbindung zwischen Vorstellungen von der Natur des Menschen und wirtschaftlichen Prozessen her – und bereitete damit den Weg für die ökonomische Interpretation des Rationalitätsbegriffes: In der Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten neoklassischen ökonomischen Theorie wurden die Ideen Smiths dann aufgegriffen und auf das Individuum als Wirtschaftssubjekt übertragen (vgl. Braun 1999: 31).
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- Arbeit zitieren
- Holger Quadfasel (Autor:in), 2003, Rational-Choice-Theorien und ihre Bedeutung bei der Analyse der Bundestagswahl 2002, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42404
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