Thomas Manns "Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis": L'art pour l'art oder Faschismuskritik?


Hausarbeit, 2000

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. "Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis"
Die inhaltliche Ebene der Novelle

3. Cipolla, ein vielschichtiger Verführer
3.1. Cipolla, die Verkörperung des Dämonischen
3.2. Cipolla als faschistische Figur
3.3. Cipolla, ein Zauber- Künstler

4. "Nur" literarisches Meisterstück oder auch politische Äußerung zur Psychologie des Faschismus? Wirkungsgeschichte und Forschungsstand
4.1. Die zeitgenössische Rezeption
4.2. Des Autors eigene Äußerungen über die Novelle
4.3. Der Erzähler, ein Alter ego des Autors

5. Schlusswort

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die 1929 nach Reiseeindrücken eines drei Jahre zurückliegenden Ferienaufenthaltes geschriebene, 1930 veröffentlichte Novelle "Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis"[1] besticht nicht nur durch formale Virtuosität, sie ist vor allem auch durch ihr Sujet von Interesse für eine Untersuchung des politisch-ethisch engagierten Thomas Mann:

Schilderungen von alltäglichen Situationen am Strand und im Hotel bieten Einblicke in soziale Strukturen, die vom Erzähler als "merkwürdig", befremdlich erlebt werden und sich offenbar von Eindrücken aus früheren Reisen unterscheiden. In diesem Sinne ist der Text auch als zeitgeschichtliche Dokumentation einer nationalistisch-faschistisch geprägten Gesellschaft zu interpretieren.

In der Erzählung begegnet die Familie des Erzählers dem in Italien herrschenden Faschismus, und zwar in sich zuspitzenden Situationen und sich steigernder Spannung, die sich am Ende explosionsartig entlädt.

Inwieweit Thomas Mann tatsächlich die Intention verfolgt hat, durch die Erzählung eine Reflexion politischer Umstände zu liefern oder gar Kritik zu üben, ist eine Fragestellung dieser Hausarbeit. Thomas Manns eigene zum Teil widersprüchliche Äußerungen über die Novelle werden herangezogen, und unterschiedliche Interpretationsansätze der Forschung werden gegenübergestellt, um zu einer Beurteilung aus heutiger Sicht zu gelangen.

2. "Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis" Die inhaltliche Ebene der Novelle

Der deutsche Ich-Erzähler verbringt im fiktiven italienischen Badeort Torre di Venere mit seiner Frau und seinen zwei Kindern die Ferien. In gereizter Atmosphäre - die erzählerisch mit Schilderungen der Witterung verstärkend untermalt wird - erfährt die Familie in sich zuspitzendem Ausmaß nationalistische Ressentiments durch die einheimischen Urlauber und Anwohner. In einer Abendvorstellung fasziniert der Zauberkünstler Cipolla mit Hypnose-Tricks sein Publikum. Der Erzähler ist von der dargebotenen Art der Willensbeeinflussung angewidert, bleibt aber mit seiner Familie bis zum Schluss der Vorstellung. Diese endet, als der Kellner Mario, nachdem er erkannt hat, wie seine Gefühle unter Hypnose missbraucht worden sind, sich rächt, indem er den Magier erschießt.

Strukturell gliedert sich die Novelle in zwei Teile, von denen der erste der vorbereitenden Einstimmung auf den zweiten, gewichtigeren Teil mit den Darbietungen des Zauberers dient. Der übertriebene Nationalismus der Italiener, der sich in einzelnen Episoden im ersten Teil äußert, findet in Cipollas Auftritt ihren Höhepunkt. Schon der erste Satz "Die Erinnerung an Torre di Venere ist atmosphärisch unangenehm"(523) deutet darauf hin, dass das Hauptanliegen des erzählten Textes die Analyse des "tragischen Reiseerlebnisses" ist. In der Schilderung der Publikumsmanipulation klingen die Psychologie des freien Willens und die Psychologie des Faschismus an. Bevor auf das Spannungsverhältnis von Individualpsychologie und Massenpsychologie (Psychologie des Faschismus) eingegangen wird, soll zunächst am Text der übersteigerte Nationalismus beleuchtet werden:

Die "unangenehme Atmosphäre" - fast immer ist das Wetter ein Vorbote der Unannehmlichkeiten - manifestiert sich in den nationalistischen Anfeindungen.[2] Die Eltern erklären diesen Zustand ihren Kindern als "eine Krankheit, nicht sehr angenehm, aber wohl notwendig" (530).[3]

In dem zwölfjährigen Jungen Fuggièro[4], ein abscheulicher Junge "mit ekelerregender Sonnenbrandwunde zwischen den Schultern, der an Widerspenstigkeit, Unart und Bosheit das Äußerste zum Besten gab", entdeckt der Erzähler einen der "Hauptträger der öffentlichen Stimmung, die, schwer greifbar in der Luft liegend, [der Familie] einen so lieben Aufenthalt als nicht geheuer verleiden wollte"(529). Auffällig ist, dass die "Krankheit" Nationalismus[5] sich schon durch die Kinder artikuliert, sie werden als "patriotische Kinder"(530). bezeichnet. Sie sind damit nicht mehr politisch unschuldig und verletzen das "Naturgesetz", demgemäß Kinder "eine Menschenspezies und Gesellschaft für sich, sozusagen eine eigene Nation"(531) bilden. "Redensarten von der Größe und Würde Italiens fielen, unheiter-spielverderberische Redensarten"(530). Wie zwischen den Erwachsenen ist auch unter Kindern keine Unbeschwertheit, keine Zwanglosigkeit mehr vorhanden: der Nationalismus durchdringt alle Daseinssphären. So erst kann es dazu kommen, dass der Anblick der kurzfristig unbekleideten achtjährigen Tochter des Erzählers von den inländischen Badegästen zu einem "Verstoß gegen die nationale Würde"(531) Italiens hochgespielt wird. Aber auch hier schafft der Erzähler in seiner charakteristischen Art Distanz, indem er Ironie einsetzt und zeigt, wie lächerlich die Situation ist: "Die Schamwidrigkeit, die wir uns hätten zuschulden kommen lassen, hieß es, sei um so verurteilenswerter, als sie einem dankvergessenen und beleidigenden Mißbrauch der Gastfreundschaft Italiens gleichkomme"(530). Mit gespieltem Ernst tat die Familie dann ihr "Bestes, diese Suade mit nachdenklichem Kopfnicken anzuhören"(531).

Die Figur des Zauberers soll im folgenden Abschnitt untersucht werden.

3. Cipolla, ein vielschichtiger Verführer

3.1. Cipolla, die Verkörperung des Dämonischen

Der Erzähler kündigt das Auftreten des Zauberkünstlers Cipolla mehrfach vor dessen eigentlichem Erscheinen in der Handlung an.[6]: "Zum Schluß kam dann der Choc mit diesem schrecklichen Cipolla, in dessen Person sich das eigentümlich Bösartige der Stimmung auf verhängnishafte und übrigens menschlich sehr eindrucksvolle Weise zu verkörpern und bedrohlich zusammenzudrängen schien."(523)

Der Erzähler fragt sich rückblickend "Hätten wir nicht abreisen sollen? Hätten wir es nur getan! Wir hätten dann diesen fatalen Cipolla vermieden,"(531) aber: "Wir blieben [...] und erlebten als schrecklichen Lohn unserer Standhaftigkeit die eindrucksvoll-unselige Erscheinung Cipollas"(532).

Diese antizipierenden Verknüpfungen führen dazu, dass in Cipollas Auftritt eine Verdichtung der im ersten Teil der Novelle gestellten Problematik von Nationalismus und Machtmissbrauch[7] geradezu erwartet werden. Zunächst ist die äußerliche Erscheinung des Zauberers in solchem Maße grotesk, dass sie seine "Verkörperung des Dämonischen" überspielt. Er trägt die typische Bekleidung eines Zauberkünstlers, "einen weiten schwarzen und ärmellosen Radmantel mit Samtkragen und atlasgefütterter Pellerine, den er mit den weiß behandschuhten Händen bei behinderter Lage vorn zusammenhielt, einen weißen Schal um den Hals und einen geschweiften, tief in die Stirne gerückten Zylinderhut", doch scheint etwas "hier falsch gestrafft und dort in falschen Falten am Leibe"(536) zu sitzen, was beim Publikum Lachen hervorruft. Cipolla jedoch will alles andere, als sein Publikum zum Lachen bringen: "Vielmehr sprachen strenge Ernsthaftigkeit, Ablehnung alles Humoristischen, ein gelegentlich übellauniger Stolz, auch jene gewisse Würde und Selbstgefälligkeit [...] daraus"(536). Der Auftritt Cipollas kündigt sich somit schon als Machtprobe zwischen ihm und seinem Publikum an. "Bei den jungen Leuten auf den Stehplätzen sah man zusammengezogene Brauen und bohrende, nach einer Blöße spähende Blicke, die dieser allzu Sichere sich geben würde. Er gab sich keine."(537) Cipolla gibt sich keine Blöße, er hält sich bedeckt, er wartet geduldig, bis sich das Publikum eine Blöße gibt. Seine anfängliche Haltung, der "scharfe" Blick, mit dem "seine kleinen Augen, mit schlaffen Säcken darunter, musternd durch den Saal schweifen"(536), ist eine Provokation an den "Gegner" Publikum und ermöglicht Cipolla zugleich dessen Einschätzung und das Ausfindigmachen späterer "Opfer". Das "Buena sera"(537), das ihm schließlich ein Ungeduldiger entgegenwirft, wirkt wie ein Signal zum Kampf. Beim nun folgenden Auftritt Cipollas wird dem Publikum zunehmend sein Wille aufgezwungen. Dabei überspielt er seine psychologischen Tricks mit gewandten Reden, die das Publikum beeindrucken: "'Parla benissimo', stellte man in unserer Nähe fest. Der Mann hatte noch nichts geleistet, aber sein Sprechen allein ward als Leistung gewürdigt, er hatte damit zu imponieren gewußt"(540).

Cipollas Schauspiel folgt einer festgesetzten Dramaturgie, sein Handeln ist nicht spontan, sondern kalkuliert. Schon die Tatsache, dass der Zauberer auf sich und den Beginn der Vorstellung warten ließ, ist Teil der berechneten Inszenierung. Schon der Auftritt Cipollas auf die Bühne ist reine Vorspiegelung von Energie und Tatkraft: "Er kam in jenem Geschwindschritt herein, in dem Erbötigkeit gegen das Publikum sich ausdrückt und der die Täuschung erweckt, als habe der Ankommende in diesem Tempo schon eine weite Strecke zurückgelegt, um vor das Angesicht der Menge zu gelangen, während er doch eben noch in der Kulisse stand"(535). Den Eindruck des Von-außen-her-Eintreffens soll die vom Erzähler ironisch als "anspruchsvoll" bezeichnete Kleidung des Magiers erwecken, tatsächlich wirkt diese Kostümierung eher bemüht wie eine angestrengte Maskerade.

Was die Person Cipollas anbelangt, lässt sich sagen, dass der Name (wie so oft bei Thomas Mann) die Figur charakterisiert: Cipolla (= italienisch "Zwiebel") trägt nicht nur etliche Lagen Kleidung: einen Abendmantel, einen Gehrock, Weste, Schärpe, Schal und Hut (für eine überdachte Veranstaltung an einem schwülen Sommerabend wirklich übertrieben) - auf Cipolla wird im Text auch unter den verschiedensten Bezeichnungen, die sich in ihrer Tendenz steigern, Bezug genommen, so dass er als mehrdimensionale Figur zu verstehen ist. - Eine Zitat-Auswahl mag dies illustrieren: eingangs noch "ein merkwürdiger Mann"(523), "eine eindrucksvoll-unselige Erscheinung"(532), "ein Zauberkünstler, ein Taschenspieler"(533), was noch halbwegs harmlos klingt, keinesfals jedoch bedrohlich, wenig später schon der "Typus des Scharlatans, des marktschreierischen Possenreißers"(536), der selbstgefällige "Krüppel"(536 und 546), später "ein Phänomen"(!)(539), dann der "Bucklige"(546 und 555) "Leiter und Hauptakteur des dunklen Spieles"(549), der "selbstbewußte Verwachsene", "stärkste Hypnotiseur"(553), "verfluchte Cavaliere"(555) und schließlich der "Verführer"(555), der "Schreckliche", der "Gewaltige"(560) und zuletzt "der Betrüger"(563), nach den tödlichen Schüssen aus Marios Pistole nur noch ein "Bündel Kleider und schiefer Knochen"(565). Tyroff nennt ihn einen Exponenten mehrerer zeitatmosphärischer Störungen, die explosiv in der Luft liegen.[8] Das Bild, das er auf ankündigenden Plakaten von sich zu vermitteln sucht -"Forzatore, Illusionista und Prestidigitatore"(523) - zeugt von Cipollas Selbstüberschätzung und Größenwahn.

Auch mit seinem Hüft- und Gesäßbuckel (540) äußerlich einer Zwiebel nicht unähnlich, hatte der "Krüppel" (536) nicht am "Kriege für die Größe des Vaterlandes" (539) teilnehmen können. Ein Nationalist ist er jedoch zweifellos, was sich u.a. zeigt, wenn er bei einem seiner Zaubertricks an beliebig genannte Zahlen patriotische Betrachtungen bezüglich der italienischen Geschichte knüpft - als seien es Jahreszahlen im Geschichtsunterricht (545). Mit welchen psychologischen Praktiken Cipolla sein Publikum täuscht und manipuliert, es zugleich sich unterwirft und fesselt (die Reitpeitsche - sie wird nicht weniger als zwölf Mal erwähnt - ist nicht zufällig wichtigstes einschüchterndes Utensil und Machtsymbol), wird im folgenden Abschnitt behandelt.

[...]


[1] Für diese Arbeit wurde folgende Ausgabe verwendet: Thomas Mann, Sämtliche Erzählungen, Frankfurt am Main 1963, darin: S.523-565. Seitenzahlen, die sich auf den Primärtext beziehen, werden im Text in Klammern angegeben.

[2] Auffällig ist die Verknüpfung von politologischer und kosmologischer Metaphorik: Auf semantischer Ebene werden Begriffe aus politischen Wortfeldern mit der Wettermetaphorik, also mit Bezeichnungen für natürliche, neutrale Vorgänge, verknüpft: U.a. die unentrinnbare "Schreckensherrschaft der Sonne" setzt Assoziationen an Stichwörter wie "heliozentrisches Weltbild" und den Duce frei.

[3] Diese "Notwendigkeit" kann verstanden werden im Sinne einer Immunisierung, wie eine Impfung, die die eigenen Abwehrkräfte stärkt

[4] Hässlich, feige, agitierend, mit schrillem Geschrei, terrorisierend, schürt und beherrscht Fuggièro "gräßlich akzentuiert, mit grell offenem è" 528) den Aufruhr am Strand, über den sein Name gellt. Der Name (fuggire=fliehen) ist ein Signal zur Flucht, und zugleich bezeichnet er den Feigling selbst. Vgl. Tyroff, Sigmar: Namen bei Thomas Mann in den Erzählungen und den Romanen Buddenbrooks, Königliche Hoheit, Der Zauberberg, Frankfurt am Main 1975, S.101f.

[5] Zur Deutung der Krankheitsmetapher als "Zustand der Anomalie, eines nicht mehr intakten Urteilungsvermögens, als Verlust jeglicher Orientierungsmaßstäbe" vgl. auch Koopmann, Helmut: Führerwille und Massenstimmung: Mario und der Zauberer, in: Hansen, Volkmar (Hrsg.): Interpretationen. Thomas Mann. Romane und Erzählungen, Stuttgart 1993, S.162f.

[6] auch in der Verfilmung von Klaus Maria Brandauer sieht man die vom Regisseur selbst gespielte spätere Hauptfigur einige Male im Bild, bevor der eigentliche Auftritt stattfindet.

[7] Ein Stimmungsumschwung, ein Gesinnungswandel wird offenbar z.B. am Verhalten des Hoteldirektors, der die inländischen Gäste als "nostri clienti" bevorzugt, zu denen sich die Familie des Erzählers zugehörig fühlt, jedoch ausdrücklich vom Hoteldirektor nicht dazu gezählt wird, z.B. auch durch die sprachliche Diskriminierung separiert wird.

[8] vgl. Tyroff, S.102

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Thomas Manns "Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis": L'art pour l'art oder Faschismuskritik?
Hochschule
Universität Lüneburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
23
Katalognummer
V42448
ISBN (eBook)
9783638404747
Dateigröße
519 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Thomas, Manns, Mario, Zauberer, Reiseerlebnis, Faschismuskritik
Arbeit zitieren
Angelika Janssen (Autor:in), 2000, Thomas Manns "Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis": L'art pour l'art oder Faschismuskritik?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42448

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