Die Entwicklung stereotyper Handlungs- und Darstellungsformen im Bilderbuch über Kinder mit geistiger Behinderung. Am Beispiel von "Ich bin Laura" und "Dann kroch Martin durch den Zaun"


Bachelorarbeit, 2018

46 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Stereotype - eine Annäherung
2.1. Topoi in der Kinder- und Jugendliteratur

3. Der Umgang mit Behinderungen in der KJL
3.1. Ein geschichtlicher Überblick zur Thematisierung von Behinderungen
3.2. Geistige Behinderung in der KJL und im Bilderbuch
3.3. Stereotype Darstellungsweisen von Menschen mit Behinderungen in der KJL
3.4. Ein Blick auf Bilderbücher

4. Vorstellung der Bilderbücher

5. Kriterienkatalog und Vorgehensweise

6. Vergleichende Analyse
6.1. Inhaltsangabe
6.2. Die Figuren und ihre Konstellationen
6.3. Diskurs und verbale Dimension
6.4. Bildästhetik und Inszenierung von Verbal- und Bildtext
6.5. Rezeptions- und wirkungsästhetische Fragen

6. Fazit und Ausblick

7. Anhang

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Inklusion - so lautet der Leitgedanke der im Jahr 2006 verabschiedeten UN-Behinder- tenrechtskonvention. Durch Inklusion soll allen Menschen1 eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht werden. Das gemeinsame Leben von Men- schen mit und ohne Behinderungen2 soll zur Normalität werden. Um dieses Ziel zu erreichen, muss vieles reflektiert und verändert werden. Schon in der Kindheit sollte die Einstellung entstehen, Menschen mit Behinderungen nicht zu benachteiligen, son- dern als Teil der Gesellschaft anzusehen. Bei dieser Entwicklung kommt der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) und insbesondere dem Bilderbuch3 eine wichtige Rolle zu. Wenn Kinder in ihrem sozialen Umfeld keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderun- gen haben, bieten Bilderbücher eine erste Möglichkeit, sich mit dieser Thematik aus- einanderzusetzen. Wirft man jedoch einen Blick auf die Anzahl der entsprechenden Veröffentlichungen, so ist die Auswahl eher gering. Dabei zeigen beispielsweise schon Untersuchungen von Rupp (1981), dass Kinder insbesondere in jungen Jahren, unter anderem im Alter von fünf bis sieben, ein verstärktes Interesse an der Behindertenthe- matik haben. Da die Auswahl an geeigneter Literatur in diesem Alter noch stark be- grenzt ist, werden Bilderbücher umso relevanter (vgl. Ebd., 35f). Aufgrund dieser Re- levanz werden im Kontext dieser Bachelorarbeit Bilderbücher über Kinder mit Behin- derungen in den Blick genommen. Gerade weil die Anzahl dieser Bücher eher gering ausfällt, ist ein Blick auf die Art der Umsetzung und die dadurch erzeugte Wirkung auf die kindlichen Leser von Bedeutung.

Um in der späteren Analyse angemessen in die Tiefe zu gehen, können im Umfang dieser Arbeit nicht alle entsprechenden Bilderbücher berücksichtigt werden. Ange- sichts dieser Tatsache und auf Grundlage weiterer Punkte, die im Laufe der Arbeit herausgestellt werden, liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit auf der Darstellung von Kindern mit einer geistigen Behinderung. Da diese Form der Behinderung unterschiedlich definiert werden kann, wird im Folgenden auf die Definition der World Health Organization (WHO) Bezug genommen:

„Geistige Behinderung bedeutet eine signifikant verringerte Fähigkeit, neue oder kom- plexe Informationen zu verstehen und neue Fähigkeiten zu erlernen und anzuwenden (be- einträchtigte Intelligenz). Dadurch verringert sich die Fähigkeit, ein unabhängiges Leben zu führen (beeinträchtigte soziale Kompetenz). Dieser Prozess beginnt vor dem Erwach- senenalter und hat dauerhafte Auswirkungen auf die Entwicklung. Behinderung ist nicht nur von der individuellen Gesundheit oder den Beeinträchtigungen eines Kindes abhän- gig, sondern hängt auch entscheidend davon ab, in welchem Maße die vorhandenen Rah- menbedingungen seine vollständige Beteiligung am gesellschaftlichen Leben begünsti- gen“ (WHO 2015).

Wie die späteren Ausführungen im Detail zeigen, unterliegt die Darstellung von Kin- dern mit einer geistigen Behinderung in der früheren4 KJL stereotypen Handlungs- und Darstellungsformen. Um diese stereotypen Strukturen aufzuzeigen und deren Um- setzung und Wirkung zu analysieren, wird im praktischen Teil dieser Arbeit ein Bil- derbuch aus dem Jahr 1982 untersucht. Das Forschungsinteresse dieser Arbeit be- schränkt sich jedoch nicht nur auf frühere Werke, sondern nimmt die Entwicklung in den Blick. Aus diesem Grund wird im Kontext dieser Analyse zusätzlich ein Bilder- buch aus dem Jahr 2002 auf stereotype Strukturen untersucht. Gerade im Hinblick auf Inklusion, die bereits seit der UNESCO-Konferenz in Salamanca im Jahre 1994 dis- kutiert wird, scheint ein Umdenken in Bezug auf die Darstellung von Kindern mit einer geistigen Behinderung in der KJL denkbar. Somit lautet die Forschungsfrage für diese Bachelorarbeit: Sind die stereotypen Handlungs- und Darstellungsformen in realis- tischen Bilderbüchern über Kinder mit einer Behinderung lediglich in früheren Werken zu finden oder sind sie ebenso Bestandteil der aktuelleren Bilderbücher?

Um diese Frage zu beantworten, wird im folgenden Kapitel erläutert, was Stereotype im Kontext dieser Arbeit kennzeichnet. Da in der Forschungsliteratur keine Einigkeit besteht, werden verschiedene Ansätze kritisch beleuchtet. Daran anschließend werden Topoi, eine Unterkategorie der Stereotype, genauer betrachtet. Diese sind bedeutsam, da unter anderem wiederkehrende Handlungsmotive in der KJL thematisiert werden. Im nächsten Kapitel liegt der Fokus auf dem Umgang mit Behinderungen in der KJL.

In einem ersten Schritt wird ein kurzer historischer Überblick gegeben: Es wird her- ausgestellt, ab wann Kinder mit geistigen Behinderungen in der KJL erwähnt werden und wie häufig diese Form der Behinderung im Vergleich zu anderen aufgegriffen wird. Da die Thematisierung gewisse Potenziale und Besonderheiten aufweist, erfolgt anschließend ein Überblick über geistige Behinderungen in der KJL und im Bilder- buch. Besonders bedeutsam für die spätere Analyse ist die Betrachtung der stereotypen Darstellungsformen von Menschen mit Behinderungen in der KJL nach Backofen (1987). Nach einem kurzen Überblick werden aktuellere Veröffentlichungen zu dieser Thematik herangezogen, um die ursprünglichen Forschungsergebnisse zu reflektieren und auf Aktualität zu prüfen. Den Abschluss der theoretischen Untersuchung bildet ein kurzes Kapitel, in dem überprüft wird, ob die für die gesamte KJL formulierten stereotypen Darstellungsweisen auch in Bilderbüchern zu finden sind. Der Praxisteil beginnt mit einer kurzen Erläuterung des weiteren Vorgehens und einem Einblick in die gewählten Bilderbücher. Anschließend wird der Kriterienkatalog, an dem sich die Analyse orientiert, vorgestellt. Darauf folgt schließlich die eigenständige Analyse. Im Fazit werden abschließend die Ergebnisse der Forschung mit den Erkenntnissen der Analyse in Verbindung gebracht und eine Antwort auf die Forschungsfrage formuliert.

2. Stereotype - eine Annäherung

Jeder Mensch denkt mit Hilfe von Stereotypen. Sie helfen uns, Ordnung in komplexe soziale Situationen zu bringen (vgl. Lippmann 1964, 72). Es sind „pictures in our heads“ (Lippmann 1922, 3), aufgrund derer Menschen häufig nicht als Individuen, sondern als Teil einer bestimmten Gruppe betrachtet werden (vgl. Ebd., 67). Nach dieser ursprünglichen Definition sind Stereotype vorgefasste Meinungen, die entweder mit positiven oder negativen Gefühlen behaftet sind (vgl. Ebd., 68ff). Im sprachlichen Alltag werden Begriffe wie ‚Klischee‘ oder ‚Vorurteil‘ jedoch häufig synonym zum Stereotyp verwendet und auch in der Literatur zeichnen sich unterschiedliche Ansichten ab, die im Folgenden näher beleuchtet werden.

Für Bartz (1995) impliziert der Begriff Stereotyp eine negative Sichtweise auf Kunst und Literatur (vgl. Ebd., 47). Dies widerspricht der ursprünglichen Definition nach Lippmann (1922), da eine positive Besetzung von Stereotypen ausgeschlossen wird. In der aktuellen Literatur ist außerdem zu beobachten, dass sich die Begriffe ‚Stereo- typ‘ und ‚Klischee‘ annähern. Obwohl Lippmann (1922) Stereotype als bewusste und Klischees als unbewusste Denkmuster definiert, beobachtet beispielsweise Rösch (2015) aktuell einen fließenden Übergang zwischen den Begriffen (vgl. Ebd., 26).

Nach Lüsebrink (2016) können Klischees und Stereotype sogar synonym verwendet werden. Stereotype sind nach dieser Definition Ordnungsraster, die sich durch stark vereinfachende Merkmale oder soziale Typisierungen ausdrücken. Ihre Funktion ist zweigeteilt. Zum einen dienen sie der „individuellen und sozialen Orientierung“ (ebd., 102), zum anderen handelt es sich um „unkritische Verallgemeinerungen, die gegen Überprüfung abgeschottet, gegen Veränderungen relativ resistent sind“ (Bausinger 1988, 160). Ein wichtiger Aspekt ist zudem, dass Stereotype eine „Reduktion von Wirklichkeitskomplexität“ (Lüsebrink 2016, 104) darstellen, denn sie „geben einfache Antworten in einer komplizierten Welt“ (Awosusi 2000, 7). Im Zusammenhang mit dieser Arbeit ist eine stereotype Sichtweise auf Menschen mit einer geistigen Behin- derung somit eine Reduzierung der Komplexität ihrer Individualität. Merkmale, Ei- genschaften und Verhaltensweisen, die an einzelnen oder wenigen Betroffenen festzu- stellen sind, werden auf die gesamte Gruppe der Menschen mit einer geistigen Behin- derung übertragen.

Nach dieser Definition fällt es weiterhin schwer, Vorurteile von Stereotypen abzugren- zen.

Laut Klauer (2008) entstehen Vorurteile, wenn stereotype Vorstellungen nicht zutref- fen (vgl. Ebd., 24). Im alltagssprachlichen Verständnis werden Vorurteile mit negati- ven Sichtweisen verbunden. Die Definition von Lüsebrink (2016) orientiert sich an diesem alltagssprachlichen Verständnis. Während Stereotype lediglich eine Reduzie- rung der Komplexität von Wirklichkeitsphänomenen darstellen, handelt es sich bei Vorurteilen um negativ und „ideologisch besetzte Verfälschungen von Wirklichkeits- phänomenen“ (ebd., 104). Auf Basis dieser Definitionsversuche wird im Verlauf die- ser Arbeit von einem Vorurteil gesprochen, wenn stereotype Vorstellungen über Men- schen mit einer geistigen Behinderung nicht der Wirklichkeit entsprechen und negativ bewertet werden.

Eine wichtige Ausprägungsform von Stereotypen, die in dieser Arbeit eine wichtige Rolle spielt, ist der ‚Topos‘ (vgl. Lüsebrink 2016, 104). Nach Lüsebrink (2016) wird dieser Begriff verwendet, um feststehende oder vorgeprägte Ideen zu bezeichnen. To- poi5 sind eine spezielle Art von Stereotypen, die häufig eine lange kulturelle Tradition aufweisen (vgl. Ebd., 104). Haas (1995) grenzt Topoi in seiner Definition ebenfalls von Stereotypen ab. Er stellt fest, dass Werke der KJL häufig negativ bewertet werden, da im Text oder Kontext häufige Wiederholungen sprachlicher Wendungen oder Bil- der zu finden sind. Diese sich wiederholenden Strukturen können seiner Meinung nach entweder neutral als Topoi, oder negativ besetzt als Stereotype oder Klischees bezeich- net werden (vgl. Ebd., 59f). Das folgende Kapitel gibt einen Überblick über die drei wichtigsten Gruppen von Topoi und ihre Bedeutung in der KJL.

2.1. Topoi in der Kinder- und Jugendliteratur

Die Möglichkeiten, von Topoi Gebrauch zu machen, sind vielseitig. Sie zeigen sich vor allem durch die Wiederholung von Bildern, Floskeln, Wendungen oder Formeln, die „einen Text wie ein Netz durchziehen können“ (Ebd., 60). Im Bereich der KJL sind nach Haas (1995) insbesondere die folgenden drei Toposformen von Bedeutung:

1. ‚Punktuelle Topoi‘

Zu dieser Gruppe gehören beispielsweise ‚sprechende Personennamen‘ (vgl. Ebd., 62), die sich in zahlreichen Werken der KJL finden lassen und zumeist eine „einfache Mar- kierungsposition“ (ebd., 62) besitzen. So fällt beispielsweise der Name ‚Pippi Langs- trumpf‘, der auf ihre besonders langen Strümpfe verweist, in diese Kategorie. Des Weiteren können auch ganze Handlungsmuster zu Topoi werden. So nennt Haas (1995) als Beispiel die ‚Schatzinsel-Geschichte‘ (vgl. Ebd., 63): Ein Pirat vergräbt sei- nen Schatz auf einer einsamen Insel. Zudem sind ‚Ding-Begriffe‘ (vgl. Ebd., 63) wich- tige Inhalte dieser Kategorie. Damit sind Begriffe wie Gold oder Silber gemeint, die besonders in Volksmärchen für Schönheit und Reichtum stehen (vgl. Ebd., 63).

2. ‚Topoi mit größerer Aussagen-Reichweite‘

Inhalte dieser Kategorie sind Topoi wie ‚Märchen‘ (vgl. Ebd., 69) ‚Paradies‘ (vgl. Ebd., 69) oder das ‚Gut-Böse-Schema‘ (vgl. Ebd., 70). Der Topos ‚Märchen‘ impli- ziert eine mystische, eher schwarz-weiß gezeichnete Welt, in der das Leben leichter ist. Ähnlich verhält es sich mit dem ‚Paradies-Topos‘. Das Paradies wird als Ort des Guten und Reinen beschrieben, an dem die Menschen frei von allen Sorgen und allem Übel sind. Auch durch diesen Topos wird eine Welt deutlich, die in schwarz und weiß unterteilt ist. Ebenso verhält es sich mit dem ‚Gut-Böse-Schema‘. In entsprechenden Werken der KJL gibt es nur vollkommen gute oder gänzlich böse Charaktere (vgl. Ebd., 69f).

3. ‚Handlungs-Topoi‘

In diese Gruppe gehören Themen und Motive, die den Verlauf der Handlung bestim- men und sich toposartig wiederholen. Damit sind unter anderem allgemeine Muster wie der elternlose, arme Junge, der sein Glück in der Welt sucht, oder das unschein- bare, fehlerhafte Kind, das von einer Gruppe verspottet oder ausgegrenzt wird, ge- meint. Abgesehen davon wird in den Werken der KJL besonders häufig die Konstel- lation eines schwachen, ängstlichen Protagonisten verwendet, der im Laufe der Ge- schichte eine Entwicklung durchmacht. Ein weiterer sehr bekannter und vielfach ver- wendeter Topos ist zudem das ‚Happy-End‘. In allen Büchern, die Haas (1995) für seine Analyse betrachtet, wendet sich am Ende alles zum Guten (vgl. Ebd., 71).

Es kann somit festgehalten werden, dass Topoi auf unterschiedliche Weise in Werken der KJL zu finden sind. Von Kritikern wird die KJL aus diesem Grund oftmals als trivial bezeichnet. Allerdings stellt Haas (1995) fest, dass diese Literatur eine wichtige Funktion für kindliche Leser besitzt, da sie seiner Meinung nach zur literarischen Ent- wicklung beiträgt (vgl. Ebd., 72). In der späteren Analyse werden die ausgewählten Bilderbücher auf den Einsatz von Toposformen nach Haas (1995) untersucht. Es wird aufgezeigt, welche Formen in diesen konkreten Beispielen erkennbar sind und welche Wirkung sie beim Leser erzeugen. Da in den Bilderbüchern jeweils ein Kind mit einer geistigen Behinderung im Fokus steht, geben die folgenden Kapitel einen Einblick in den Umgang mit Behinderungen in der KJL.

3. Der Umgang mit Behinderungen in der KJL

3.1. Ein geschichtlicher Überblick zur Thematisierung von Behinderungen

Den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet die Untersuchung nach Zimmermann (1982). Sie stellt fest, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung im Wesentlichen erst in Erzählungen nach 1965 als Hauptfiguren auftreten (Zimmermann 1982, 113). Da diese Form der Behinderung im Fokus dieser Arbeit steht, werden ältere Untersuchungen nicht berücksichtigt.

Laut Rupp (1981) war die Gattung der KJL lange Zeit ein Außenseiter, in der es be- stimmte Tabus gab: Themen wie Eifersucht, Wut, Zärtlichkeit oder Behinderungen wurden im Allgemeinen nicht thematisiert (vgl. Ebd., 34). Aus diesem Grund ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Zahl der Kinder- und Jugendbücher mit dem The- menschwerunkt Behinderung eher gering ausfällt. Zimmermann (1982) stellt in einer entsprechenden Untersuchung fest, dass diese Thematik in einem Zeitraum von 28 Jahren (1950-1978) lediglich von 204 Erzählungen6 aufgegriffen wird.

Reese (2007) knüpft an die Untersuchung von Zimmermann (1982) an, indem sie die Buchproduktion mit dem Thema Behinderung von 1982 bis 2000 beleuchtet. Es wird insbesondere deutlich, dass die Gesamtproduktion der Kinderbücher kontinuierlich steigt. Die Anzahl der Kinder- und Jugendbücher zum Thema Behinderung variiert jedoch deutlich. Nach einem Höhepunkt im „JAHR DER BEHINDERTEN“7 (Reese 2007, 171), sinkt die Produktion. Um die Jahrtausendwende werden zwar wieder mehr Kinder- und Jugendbücher zu dieser Thematik veröffentlicht, der prozentuale Anteil dieser Bücher an der Gesamtveröffentlichung macht jedoch deutlich, dass die Produktion aus dem Jahr 1981 nie wieder übertroffen wurde (vgl. Ebd., 170ff).

Es kann somit festgehalten werden, dass der Themenbereich der Behinderung lediglich einen kleinen Teil in der gesamten KJL ausmacht. Betrachtet man diesen Teilbereich im Detail, wird eine weitere Entwicklung deutlich, die für diese Arbeit relevant ist: Die Form der Behinderung. In dem von Zimmermann (1982) untersuchten Zeitraum (1950-1978) stehen insbesondere Menschen mit einer körperlichen Behinderung, mit einem Anteil von 60%, im Fokus. Eine geistige Behinderung wird dagegen mit 10% wesentlich seltener thematisiert (vgl. Ebd., 101). Die Untersuchungen von Reese (2007) zeigen einen starken Wandel. Der Anteil der Menschen mit körperlichen Be- hinderungen in Kinder- und Jugendbüchern sinkt auf 24%, wohingegen der Anteil der Personen mit einer geistigen Behinderung auf 25% steigt und somit den größten Anteil ausmacht (vgl. Ebd., 178).

Quantitativ ist somit eine positive Entwicklung in Bezug auf die Thematisierung von Menschen mit geistigen Behinderungen in der KJL erkennbar. Ergänzend dazu wird im folgenden Kapitel auf die Qualität dieser Werke eingegangen. Wie wird den kind- lichen Lesern diese Form der Behinderung deutlich und zugänglich gemacht?

3.2. Geistige Behinderung in der KJL und im Bilderbuch

Nach Zimmermann (1982) sind Menschen mit einer geistigen Behinderung in der KJL die „wohl am längsten ‘versteckt‘ gehaltene Gruppe der Behinderten“ (ebd., 113). Dass diese Form der Behinderung überhaupt erst in Werken seit 1965 behandelt wird, hängt laut Zimmermann (1982) mit dem um diese Zeit zunehmenden öffentlichen In- teresse an Kindern mit einer geistigen Behinderung zusammen (vgl. Ebd., 113). Doch gerade bei der Beschreibung von Kindern mit Down-Syndrom, die bei Zimmermann (1982) noch als „mongoloide Kinder“ (ebd., 116) bezeichnet werden, fällt es den Au- toren schwer, diese Form der Behinderung verständlich und realistisch darzustellen.

So wird in einer Erzählung beispielsweise von einer „Gehirnkrankheit“ (ebd., 116) gesprochen.

Nickel (1999a) stellt fest, dass immer mehr Bücher veröffentlicht werden, in denen Kinder mit einer geistigen Behinderung als Protagonisten in Erscheinung treten. Trotz dieser quantitativ positiven Entwicklung, bestünde jedoch auch weiterhin Handlungs- bedarf. Seiner Meinung nach sollten die Erzählungen vermehrt aus der Ich-Perspektive geschildert werden, um diese Form der Behinderung angemessen abzubilden. Des Weiteren sollten mehr Bücher mit dieser Thematik für jüngere Kinder verfasst werden. Aktuell seien Bücher über Kinder mit einer geistigen Behinderung vornehmlich für Jugendliche vorgesehen. Dabei würden insbesondere die Visualisierungen eines Bil- derbuches wichtige Zugänge ermöglichen (vgl. Ebd., 25ff). Nach Nickel (1999b) ist es dabei von Bedeutung, den Fokus nicht auf die „von der Norm abweichende optische Erscheinung“ (ebd., 25) zu legen. Durch dieses Vorgehen würde lediglich die Anders- artigkeit betont und Mitleid bei den Lesern erzeugt werden. Es gehe im Gegenteil da- rum, durch die Abkehr von Portraitzeichnungen, das Leben von Kindern mit dieser Behinderung zu verdeutlichen. Die Frage sei somit nicht mehr „welche Behinderung ein Mensch ‘hat‘, sondern durch welche Gegebenheiten das Leben erschwert, d.h. be- hindert wird“ (ebd., 27).

In der späteren Analyse werden die Bilderbücher unter anderem auf die in diesem Ab- schnitt genannten Aspekte hin untersucht. So wird auf die Art der Visualisierungen sowie die dadurch erzeugte Wirkung eingegangen. In diesem Kontext ist jedoch nicht nur die visuelle Darstellung von Kindern mit einer geistigen Behinderung interessant, sondern ebenso die sprachliche Darstellung, auf die im folgenden Kapitel eingegangen wird.

3.3. Stereotype Darstellungsweisen von Menschen mit Behinderungen in der KJL

Ulrike Backofen (1987) stellt in einer ihrer Untersuchungen fest, dass Menschen mit Behinderungen in der Kinderliteratur (KL) oftmals auf ähnliche Weise dargestellt werden. Diese sogenannten ‚Strickmuster‘ (ebd., 18) würden immer wieder neu aufbereitet werden, obwohl sie zumeist wenig mit der Realität gemeinsam haben. Im Folgenden werden diese Strickmuster kurz skizziert:

1. ‚Musterkrüppel oder Tyrann?‘

Um zu verstehen, was mit dem Begriff des ‚Musterkrüppels‘ gemeint ist, ist die kör- perlich behinderte Klara aus Johanna Spyris Heidi ein Paradebeispiel. Klara ist wohl- erzogen, hält sich an alle Regeln und ist ein großherziges und höfliches junges Mäd- chen. Laut Backofen (1987) dominiert diese Darstellungsform von Kindern mit einer Behinderung bis zum Beginn der 70er Jahre in der KL. Von diesem Zeitpunkt an wer- den jedoch zunehmend auch verbitterte, unfreundliche, zynische oder aggressive Kin- der mit Behinderungen dargestellt. Allerdings erfolge am Ende der Erzählung zumeist ein Wandel und das Kind zeigt plötzlich positive Charaktereigenschaften. Bei der Ver- wendung dieses Strickmusters besteht laut Backofen (1987) insbesondere die Gefahr einer Verallgemeinerung, da häufig nur ein Kind mit einer Behinderung in den ent- sprechenden Erzählungen vorkommt (vgl. Ebd., 18f).

2. ‚Auf einmal bin ich Held‘

Nach Backofen (1987) werden Kinder mit einer Behinderung am häufigsten als plötz- liche Helden dargestellt. Dies kann durch eine einmalige besondere Leistung oder eine herausstechende Fähigkeit, die nicht selten durch ein ungewöhnliches Ereignis zum Vorschein kommt, erfolgen. Die Umwelt ist sehr überrascht, da sie diese Heldentat nicht von einem Kind mit einer Behinderung erwartet. Als Folge dessen wird das Kind entweder erstmalig akzeptiert oder steigt in dem Ansehen der Charaktere. Durch diese Darstellung werden zum einen die Interessen der kindlichen Leser nach Spannung und Abenteuern befriedigt. Auf der anderen Seite wird der Eindruck erweckt, dass ledig- lich Kinder mit einer Behinderung, die etwas Besonderes leisten, anerkannt werden (vgl. Ebd., 19).

3. ‚Die wunderbare Heilung‘

Auch für diese Kategorie ist Klara aus Heidi ein gutes Beispiel. Das junge Mädchen sitzt aufgrund einer Lähmung im Rollstuhl. Während eines Besuches bei Heidi in der Schweiz, lernt sie jedoch schnell, wieder zu laufen und benötigt von da an keinen Roll- stuhl mehr. Die Schädigung wird aufgehoben und „[d]er Behinderte wird zum Nicht- behinderten“ (ebd., 19).

4. ‚Etwas Lebendiges für den lahmen...‘

Tiere sind in Büchern für Kinder und Jugendliche keine Besonderheit. Aus diesem Grund geht es nicht darum, ob ein Tier in einem Buch zur Behindertenthematik vor- kommt, sondern welche Funktion es innehat. Das Tier kann ein Vertrauter sein, von dem sich das Kind verstanden fühlt. Diese Freundschaft kann im Extremfall so eng sein, dass fehlende soziale Kontakte durch das Tier kompensiert werden und es somit zum einzigen Gefährten wird. Allerdings können Tiere auch eine Art therapeutische Funktion übernehmen, beispielsweise durch Reittherapie. Solche Darstellungsformen sind nicht zwingend unrealistisch. Jedoch steht dieses Strickmuster in enger Verbin- dung zu der Heldentat, denn Kinder mit einer Behinderung können durch Tiere die Möglichkeit erhalten, ihre besonderen Fähigkeiten zu zeigen (vgl. Ebd., 20).

5. ‚Plötzlich verschwunden‘

Aus den unterschiedlichsten Gründen, zum Beispiel, weil sie sich von ihrer Umwelt unverstanden fühlen, laufen Kinder mit einer Behinderung - oftmals mit einer geisti- gen Behinderung - weg. Durch das Verschwinden und die anschließende Suche ändert sich die Einstellung zu dem Kind mit einer Behinderung. Den übrigen Charakteren wird bewusst, dass sie sich falsch verhalten haben und sie überdenken ihre Einstellung zu dem Kind. Das Verschwinden leitet somit einen Wendepunkt zum Besseren ein (vgl. Ebd., 20).

6. ‚Der Flug in die Wolken‘

Die Phantasien eines Kindes, zum Beispiel die Flucht in eine fiktive Welt, können sowohl im Vorder- als auch im Hintergrund einer Geschichte stehen. Durch kurze Schilderungen kann die Einsamkeit der Kinder verdeutlicht werden, indem sie in ihren Gedanken beispielsweise endlich die Zuneigung erhalten, die sie sich für das reale Leben wünschen. Steht die fiktive Welt im Vordergrund, besteht die Gefahr, dass die eigentliche Aussage in den Hintergrund gerät. Dadurch kann es dazu kommen, dass die Leser sich ausschließlich auf das fiktive Geschehen, zum Beispiel ein Abenteuer, konzentrieren (vgl. Ebd., 21f).

7. ‚Eigentlich geht es um was anderes...‘

In Büchern mit diesem Strickmuster nehmen Kinder mit einer Behinderung in den meisten Fällen nur eine Nebenrolle ein. Die Protagonisten können ihnen helfend zur Seite stehen, von ihnen lernen oder eine positive Wandlung durchmachen. Dieses Mo- tiv wird vor allem in der älteren KJL, vereinzelt jedoch auch in neueren Werken deut- lich (vgl. Ebd., 22f). Ein Beispiel ist Peter Härtlings Erzählung Das war der Hirbel. In diesem Buch steht nicht, wie es der Titel andeutet, der Protagonist im Fokus, sondern das Verhältnis der Gesellschaft zu dem Jungen mit einer Behinderung (vgl. Glasenapp 2014, 10).

Alle aufgezählten Strickmuster zeichnet eine Gemeinsamkeit aus: Sie sind selten in der Lebensrealität von Kindern mit einer Behinderung wiederzufinden. Trotz dieser Feststellung können anhand der stereotypen Darstellungsformen keine Rückschlüsse auf die Qualität eines Buches gezogen werden. Bei einer stark vereinfachten oder über- zogenen Darstellungsweise von Kindern mit einer Behinderung besteht jedoch die Ge- fahr, dass ein verzerrtes Bild von ihnen und ihrer Lebenssituation erzeugt wird (vgl. Backofen 1987, 23).

Nickel (1999a) schließt sich dieser Sichtweise an. Als Ursache für diese Darstellungs- stereotype vermutet Nickel (1999a) „sehr dominante stereotype Einstellungsmuster auf Seiten der Autor/innen“ (ebd., 4). In der aktuellen KJL verlieren die von Backofen (1987) festgestellten Strickmuster seiner Meinung nach jedoch zunehmend an Bedeu- tung (Nickel 1999a, 4). Lediglich eine literarische Verarbeitungsform8 sei weiterhin oft zu beobachten: Die Darstellung eines behinderten Kindes aus der Geschwisterper- spektive. Besonders häufig wird die Geschwisterperspektive in Büchern verwendet, in denen ein Kind mit einer geistigen Behinderung vorkommt. Diese Wahl der Perspek- tive führe jedoch dazu, dass das psychische Erleben des Kindes ohne Behinderung im Vordergrund steht (vgl. Ebd., 5). Aus diesem Grund ist die Verarbeitungsform der Geschwisterperspektive ebenso dem Strickmuster ‚Eigentlich geht es um was ande- res...‘ nach Backofen (1987) zuzuordnen.

Letztendlich stellt Nickel (1999a) fest, dass besonders ein Modell in der KJL über Menschen mit Behinderungen verstärkt auftritt: Zu Beginn eines Buches wird eine negative Haltung gegenüber dem Kind mit einer Behinderung deutlich. Im Verlauf der Geschichte verändert sich diese Einstellung jedoch durch einen „positiv erlebten Kontakt“ (ebd., 11). Dieses Modell weist Parallelen zu Backofens (1987) Strickmuster ‚Auf einmal bin ich Held‘ auf. Die Art des positiven Kontakts, durch den ein Sinneswandel geschieht, wird nicht genauer definiert. In den Beispielen, die für die Argumentation angeführt werden, vollbringen die Kinder mit einer Behinderung hingegen keine besondere Leistung. Lediglich die Auseinandersetzung mit der Behindertenthematik und die Reflexion ihrer Ansichten oder Handlungen können das soziale Umfeld zu einem Umdenken führen (vgl. Nickel 1999a, 5ff).

Dessen ungeachtet kann ein positiver Kontakt ebenso eine besondere Leistung oder Heldentat sein. Des Weiteren beschreibt Backofen (1987) analog einen positiven Wan- del in der Haltung der Gesellschaft zu Kindern mit einer Behinderung, als Folge eines besonderen Kontakts (vgl. Ebd., 19). Somit kann festgehalten werden, dass die von Backofen (1987) festgestellten Strickmuster für Nickel (1999a) zwar an Bedeutung verlieren, sich aber trotz dieser Ansichten deutliche Parallelen zu eben diesen finden lassen.

Auch Gabriele von Glasenapp (2014) beschäftigt sich in ihrem Artikel „Simple Sto- ries? Die Darstellung von Behinderung in der Kinder- und Jugendliteratur“ mit stere- otypen Darstellungsformen, denen Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in der KJL unterworfen sind. Sie stellt fest, dass die literarische Repräsentation von Kindern mit Behinderungen zum Teil von der außerliterarischen Realität vorgegeben ist. Somit kann eine Erzählung inhaltlich nicht von bestimmten wissenschaftlichen Erkenntnis- sen abweichen, wenn sie nicht von Beginn an ihren Bezug zur Realität verlieren will (vgl. Ebd., 4). Neben inhaltlichen Vorgaben sind auch die Enden der Erzählungen au- ßerliterarischen Diskursen unterworfen, denn „die Behinderung bleibt eine Konstante“ (ebd., 4). Die „klassische“ Variante des Strickmusters ‚Die wunderbare Heilung‘ nach Backofen (1987) wird auf diese Weise von Glasenapp (2014) angezweifelt.

Nach Glasenapp (2014) fungieren kindliche oder jugendliche Protagonisten mit Be- hinderungen „mehrheitlich als Metapher für eine sich neu formierende Gesellschaft, in deren Mitte die behinderten Akteure wie selbstverständlich einen festen Platz erhal- ten“ (ebd., 14). Mit Rückbezug auf die Strickmuster nach Backofen (1987) können diese Erzählungen der Kategorie ‚Eigentlich geht es um was anderes...‘ zugeordnet werden. Der Mensch mit einer Behinderung ist zwar zu Teilen der Protagonist der Erzählung, steht jedoch nicht im Fokus.

Die Ausführungen dieses Kapitels haben zusammenfassend gezeigt, dass Erzählungen über Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in der KJL oftmals gewissen Strickmustern folgen. Obwohl Nickel (1999a) sowie Glasenapp (2014) behaupten, dass diese Muster aktuell immer mehr an Bedeutung verlieren, lassen sich immer noch deutliche Parallelen erkennen. Da in der späteren Analyse Bilderbücher auf stereotype Handlungs- und Darstellungsformen untersucht werden, wird im Folgenden ein Blick auf dieses spezielle Medium der KJL geworfen. Treffen die in der KJL aufkommenden stereotypen Darstellungsformen auch auf Bilderbücher zu?

3.4. Ein Blick auf Bilderbücher

Mareile Oetken (2014) beschäftigt sich mit der Inszenierung von Menschen mit Be- hinderungen in Bilderbüchern. Dabei erscheint ihr die Analyse von Bilderbüchern zu dieser Thematik sehr komplex und erkenntnisreich, da in diesem Kontext „ein hoch- sensibler Umgang mit Sprache, Sprachbildern und Bildern gepflegt wird“ (ebd., 34). Sie stellt fest, dass auf der textuellen Ebene zahlreiche Barrieren erkennbar sind. Dabei nimmt Oetken (2014) ebenfalls Bezug auf die von Backofen (1987) konstatierten Strickmuster. Allerdings sieht sie keine klare Grenze zwischen dem ‚Musterkrüppel‘ und der Heldentat. Besonders die ‚Musterkrüppel‘ würden in Bilderbüchern oftmals zu Helden werden, da sie in Krisen die Gelegenheit bekämen, überraschende Stärken zu zeigen (vgl. Ebd., 39). Dass dieses „Heldenklischee“ (ebd., 39) oft in Bilderbüchern zu finden ist, zeigt eine beispielhafte Analyse von drei Werken. Dabei fällt auf, dass sich das „Konzept der Sublimierung von insbesondere geistiger Behinderung durch andere Formen der Auszeichnung wiederholt“ (ebd., 39).

Dieser kurze Überblick zeigt, dass stereotype Darstellungsformen von Kindern mit Behinderungen auch in Bilderbüchern zu finden sind. Besonders interessant für diese Arbeit ist die Feststellung, dass gerade in Bilderbüchern mit geistig behinderten Pro- tagonisten auf das Strickmuster ‚Auf einmal bin ich Held‘ zurückgegriffen wird. Da in den für diese Arbeit relevanten Erzählungen jeweils ein Kind mit einer geistigen Behinderung im Fokus steht, ist es interessant zu untersuchen, ob genau dieses Strick- muster deutlich wird.

4. Vorstellung der Bilderbücher

Für die Analyse wurden zwei Bilderbücher ausgewählt, deren Veröffentlichungen 20 Jahre auseinander liegen. Diese große Zeitpanne wurde gewählt, damit Entwicklungen deutlich werden können. Um eine Vergleichbarkeit zu gewährleisten, ähneln sich die Bücher inhaltlich. In beiden Büchern ist der Protagonist ein Kind mit einer Behinde- rung. Des Weiteren spielen Pferde, beziehungsweise das Reiten eine wichtige Rolle. Eine signifikante Gemeinsamkeit bildet die Form der Behinderung. Da es nicht die eine geistige Behinderung gibt, sondern unterschiedliche Ausprägungen und Formen, wurden zwei Bilderbücher gewählt, in denen die Protagonisten das Down-Syndrom haben.

Diese Einschränkung wurde unter anderem auf Basis der Forschungsergebnisse aus Kapitel 3.2. getroffen. Gerade da die Darstellung von Kindern mit Down-Syndrom nach Zimmermann (1982) nur unzureichend ist, Nickel (1999a) immer mehr Veröf- fentlichungen zu dieser Art der geistigen Behinderung feststellt und die Visualisierun- gen in Bilderbüchern seiner Meinung nach gerade beim Thema Down-Syndrom von großer Bedeutung sind, erscheint eine dementsprechende Analyse besonders ergiebig und interessant.

Die wissenschaftlichen Ursprünge der Erforschung des Down-Syndroms finden sich in den Ausführungen von John Down (1866). In der 2018 veröffentlichten Version der „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems 10th Revision” (ICD-10) wird das Down-Syndrom als Chromosomenanomalie klassifiziert (vgl. ICD-10, 2018). Da das 21. Chromosom nicht zweimal, sondern dreimal vorhan- den ist, wird auch von „Trisomie 21“ (WHO, 2018) gesprochen. Mit dieser Diagnose gehen eine mentale Retardierung und bestimmte charakteristische Äußerlichkeiten, wie stärker nach oben geneigte Augen oder eine vergrößerte Zunge (vgl. Ebd.) einher.

Auf Grundlage dieser Forschungsergebnisse und Kriterien wurden folgende Bilderbücher ausgewählt:

1. Dann kroch Martin durch den Zaun

In dem 1982 von Desmarowitz und Hasler veröffentlichten Bilderbuch wird nicht ex- plizit erwähnt, dass Martin das Down-Syndrom hat. Allerdings lassen einzelne Text- passagen und Bilddarstellungen auf diese Art der geistigen Behinderung schließen. In der Forschungsliteratur ist Martins Behinderung umstritten. In einigen Abhandlungen wird das Down-Syndrom allerdings explizit erwähnt. So bezeichnet Schmitz (1978) den Protagonisten Martin als ersten glücklichen Jungen mit Down-Syndrom in einem Bilderbuch (vgl. Ebd., 104).

2. Ich bin Laura

Das Bilderbuch Ich bin Laura - Ein Mädchen mit Down-Syndrom erzählt von Cadier und Girel, wurde 2002 im Oetinger Verlag veröffentlicht. Bei diesem Buch wird ins- besondere durch den Untertitel und auch die Illustrationen (vgl. Anhang, Abbildung 3) direkt deutlich, dass ein Mädchen mit Down-Syndrom im Fokus der Erzählung steht.

Da somit bei beiden Bilderbüchern von einem Protagonisten mit dem Down-Syndrom ausgegangen werden kann, wird im folgenden Kapitel der Kriterienkatalog, an dem sich die Analyse der Erzählungen orientiert, vorgestellt.

5. Kriterienkatalog und Vorgehensweise

Der folgende Kriterienkatalog orientiert sich an den Kriterien, die Margarethe Hopp (2015) in ihrer Dissertation Sterben, Tod und Trauer im Bilderbuch seit 1945 zur Ana- lyse entsprechender Bilderbücher aufstellt. Die Grundlage ihres Kriterienkataloges bil- det die „Überzeugung, dass Bildtexte wie Sprachtexte eigene narrative Qualitäten ha- ben, die anhand erzähltextanalytischer Fragestellungen erschlossen werden können“ (ebd., 71). Die Fragestellungen wurden passend zur Thematik dieser Bachelorarbeit abgewandelt. Des Weiteren wurde das „fünfdimensionale[s] Modell der Bilderbucha- nalyse“ (Staiger, 2014, 12) zu Rate gezogen. Aus dieser Kombination ergibt sich der folgende Kriterienkatalog:

1. Inhaltsangabe

2. Die Figuren und ihre Konstellation

2.1. Das Kind mit Down-Syndrom

- Charakterisierung
- Wie äußert sich die Behinderung?
- Wie sieht das Kind seine Behinderung?

2.2. Die Familie

- Das Verhältnis zu dem Kind mit Down-Syndrom
- Die Sichtweise auf das Down-Syndrom

2.3. Die Kinder ohne Behinderungen

- Die Beziehung zu dem Kind mit Down-Syndrom
- Die Sichtweise auf das Down-Syndrom

2.4. Weitere wichtige Charaktere

- Die Beziehung zu dem Kind mit Down-Syndrom

3. Diskurs und verbale Dimension

- Erzählstruktur und Fokalisierung
- Sprachliche Komplexität und Auffälligkeiten
- Wie wird über die Behinderung gesprochen (Ursachen, Art, Vorurteile)?

4. Bildästhetik und Inszenierung von Verbal- und Bildtext

- Die Gestaltung und Wirkung der Bilder
- Die Behinderung im Bild
- Das Verhältnis von Bild- und Schrifttext

5. Rezeptions- und wirkungsästhetische Fragen

- Welche Topoi sind erkennbar?
- Die Darstellungsformen der Kinder mit Down-Syndrom
- Welcher Gesamteindruck entsteht?

6. Vergleichende Analyse

6.1. Inhaltsangabe

Im Klappentext heißt es: „Martin ist anders als die Kinder in der Siedlung. Er ist be- hindert“ (Desmarowitz 1977). Aufgrund seiner Behinderung kann Martin vieles weni- ger gut als die anderen Kinder, die sich deshalb oftmals über ihn lustig machen. Martin stört sich jedoch nicht daran. Er steht gerne an der Koppel, auf der das Pferd Aurora grast. Eines Tages darf er sogar selbst auf dem Pferd reiten. Als Aurora an einem Tag plötzlich durch das nur angelehnte Gatter auf die Straße läuft, kann nur Martin dem Pferd helfen sich zu beruhigen. Die anderen Kinder bekommen durch diese Tat einen vollkommen anderen Blickwinkel auf Martin, denn sie konnten sich nicht vorstellen, „daß Martin fühlen und handeln kann wie sie selbst“ (ebd., Klappentext).

„Ich bin ein Kind wie du - trotzdem bin ich anders“ (Cadier, 2002, 5), denn Laura hat das Down-Syndrom. Aus diesem Grund besucht sie statt einer Regelschule ein Förderzentrum. Nun soll Laura jedoch einmal in der Woche mit ihren Geschwistern in die Grundschule gehen. Lauras Eltern und ihre neuen Mitschüler sind zu Anfang skeptisch. Eines Tages besucht die Klasse jedoch einen Ponyhof und es stellt sich heraus, dass Laura viel besser reiten kann als die anderen Kinder. Diese sind beeindruckt von Lauras Fähigkeiten und ihre Sichtweise auf Laura verändert sich.

In beiden Bilderbüchern steht ein Kind mit Down-Syndrom im Fokus, das zu Beginn vor sozialen Schwierigkeiten steht. Als Folge eines besonderen Ereignisses, das durch Pferde hervorgerufen wird, ändert sich die Situation jedoch positiv für die Protagonis- ten. Wie genau dieser Wandel erfolgt, wird in den folgenden Unterkapiteln deutlich.

6.2. Die Figuren und ihre Konstellationen

Dieses Unterkapitel beschäftigt sich detailliert mit den wichtigsten Charakteren der Bilderbücher. Interessant sind insbesondere die Art des Umgangs und das Verhalten der Personen gegenüber dem Kind mit Down-Syndrom.

6.2.1. Das Kind mit Down-Syndrom

Martin wohnt mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder in einer Wohnsiedlung. Bereits auf den ersten Seiten der Erzählung wird deutlich, dass Martin sich von den weiteren Kindern aus der Siedlung unterscheidet. Er kann noch nicht Fahrrad fahren (Desmarowitz, 1982, 2), stottert (vgl. Ebd., 3), sein Mund steht meistens offen (vgl. Ebd., 4), er hinkt beim laufen (vgl. Ebd., 8) und besucht eine Schule für Kinder mit Behinderungen (vgl. Ebd., 11).

[...]


1 Aus Gründen der Vereinfachung wird mehrheitlich der Plural verwendet. Wird die männliche Form verwendet, so sind Personen weiblichen wie männlichen Geschlechts darin gleichermaßen eingeschlos- sen

2 Im Kontext dieser Bachelorarbeit wird von Menschen bzw. Kindern mit Behinderungen gesprochen, da die angeführten Definitionen und die Forschungsliteratur diese Ausdrucksweise verwenden. Mit dieser Formulierung geht keine beurteilende Absicht einher.

3 Es ist dem Umfang dieser Arbeit geschuldet, dass lediglich realistische Bilderbücher einbezogen wer- den

4 In der KJL ab 1950

5 Da es sich bei Topoi um eine Unterkategorie des Stereotyps handelt, wird dieser Begriff lediglich in diesem Zusammenhang verwendet.

6 Gemeint sind ganze Bücher und Kurzgeschichten

7 1981

8 Mittel zur Bewältigung von Behinderungserfahrungen

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Die Entwicklung stereotyper Handlungs- und Darstellungsformen im Bilderbuch über Kinder mit geistiger Behinderung. Am Beispiel von "Ich bin Laura" und "Dann kroch Martin durch den Zaun"
Hochschule
Universität Bielefeld
Note
1,8
Autor
Jahr
2018
Seiten
46
Katalognummer
V425445
ISBN (eBook)
9783668703704
ISBN (Buch)
9783668703711
Dateigröße
651 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Behinderungen, geistig, Bilderbuch, Stereotyp
Arbeit zitieren
Ines Bülhoff (Autor:in), 2018, Die Entwicklung stereotyper Handlungs- und Darstellungsformen im Bilderbuch über Kinder mit geistiger Behinderung. Am Beispiel von "Ich bin Laura" und "Dann kroch Martin durch den Zaun", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/425445

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