Kommunikationswissenschaftliche Betrachtung des Globalisierungsdiskurses unter besonderer Berücksichtigung des Aufbaus von Öffentlichkeit


Magisterarbeit, 2003

106 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. Aspekte der Gesellschaftstheorie von Habermas
1.1 Kommunikatives versus zweckrationales Handeln
1.2 Das System/Lebenswelt-Konzept
1.2.1 Die Lebenswelt
1.2.2 Das System
1.2.3 Die Entkopplung und Kolonisierungsthese

2. Der Globalisierungsdiskurs
2.1 Ökonomie
2.1.1 Historische Betrachtung
2.1.2 Status Quo
2.1.3 Der freie Markt
2.1.4 Internationale Finanzmärkte
2.1.5 Transnationale Konzerne
2.1.6 Wissenschaftliche Annäherung
2.2 Politik
2.2.1 Der Nationalstaat
2.2.2 Global governance
2.2.3 Wissenschaftliche Annäherung
2.3 Information und Kommunikation
2.3.1 Digitale Revolution
2.3.2 Wissenschaftliche Annäherung
2.4 Kultur
2.4.1 Homogenisierungsthese
2.4.2 Heterogenisierungsthese
2.4.3 Wissenschaftliche Annäherung
2.5 Ökologie
2.5.1 Globale Ökologieprobleme - Ökologieprobleme durch Globalisierung
2.5.2 Entwicklungstendenzen politischer Einflussnahme
2.5.3 Wissenschaftliche Annäherung
2.6 Zwischenbetrachtung

3. Öffentlichkeit als Gegenmacht
3.1 Öffentlichkeit nach Habermas
3.2 Öffentlichkeit im Anschluß an da System/Lebenswelt- Konzept
3.3 Autonome Öffentlichkeiten
3.4 Das Recht als Mittler zwischen System und Lebenswelt

4. Neue soziale Bewegungen: Ausdruck einer globalen Zivilgesellschaft
4.1 Globalisierungskritische Bewegungen
4.2 Historie
4.3 Attac
4.3.1 Entstehung
4.3.2 Selbstverständnis
4.3.2.1 Grundannahmen, Methoden, Ziele
4.3.2.2 Struktur
4.3.2.3 Zukunftsprognose
4.3.3 Fremddarstellung
4.4 Ist Attac eine autonome Öffentlichkeit?

5. Schlußbemerkung

Einleitung

„Die, die wir gewählt haben, haben keine Macht.

Und die, die Macht haben, haben wir nicht gewählt.“

(Plakat eines Demonstranten)

0 Einleitung

Als sich die Frage stellte, womit sich meine Magisterarbeit auseinandersetzen sollte, kam ich unter der Prämisse „mit etwas was mir auf den Nägeln brennt“ in sekundenschnelle auf die Antwort: „Globalisierung“. Mir begegnete dieses Wort in verschiedenen Kontexten. Die Rationalisierung von Arbeitsplätzen, der Aufstieg der „New Economy“ oder die Finanzkrise in Asien, alles wurde in Verbindung gebracht mit der Globalisierung. Durch diese und vorherige Erfahrungen, zum Beispiel daß Kriege aus ökonomischen Interessen hervorgingen oder daß Kinder in Entwicklungsländern Markenschuhe für Hungerlöhne fertigen, kamen Vorannahmen und Vorurteile zustande, die meiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema zugrunde liegen. Dieses Immer-schon-vorhanden-sein von Vorurteilen, auch in wissenschaftlichen Theorien, thematisiert Gerold Ungeheuer in seinem Aufsatz „Vor- Urteile über Sprechen, Mitteilen, Verstehen“1. So soll am Anfang dieser Arbeit das hier verwendete Mittel zur Beschreibung des Globalisierungsprozesses, die Gesellschaftstheorie von Jürgen Habermas, aus der Ableitung von meinen Vorannahmen begründet werden. Nach Ungeheuer ist jegliche Erfahrung eine individuelle „...womit ich die Meinung verbinde, prinzipiell müsse angenommen werden, daß unter gleichen äußeren Erfahrungen die individuelle Erfahrungsinhalte verschieden sind.“2 Diese Erfahrungen konstituieren die individuelle Welttheorie, die als Interpretationsressource die Existenz von Vorurteilen und Vorannahmen beinhaltet. So fordert Ungeheuer bezüglich der Arbeitsweise des Wissenschaftlers: „Unausweichlich wird er dazu geführt, in einem ersten Arbeitsschritt die Erfahrungsinhalte, die theoretisch erklärt werden und die ihre Theorie begründen sollen, zu beschreiben, mit natürlicher Sprache oder nach künstlichen Notationssystem.“3 Die zugrundeliegenden Annahmen und Vermutungen dieser Arbeit sind die der Unterdrückung von bestimmten Formen der menschlichen Kommunikation, durch den der Globalisierungsprozeß gekennzeichnet ist. Das Vorurteil kann generell als Vermachtung zwischenmenschlicher Kommunikation durch systemische Zwänge charakterisiert werden. Diese Annahme impliziert, daß die individuellen Erfahrungen der Individuen in steigendem Maße durch die Außenwelt in Form des wirtschaftlichen Systems konstituiert sind. So kann auch die Wahl der wissenschaftlichen Theorie dieser Magisterarbeit aus diesen Vorurteilen abgeleitet werden. Habermas Gesellschaftstheorie unterscheidet gerade zwischen systemischen und lebensweltlicher Handlungskoordinierung und er vertritt die These, daß die lebensweltlichen Bereiche systemisch überformt werden. Daher scheint diese Theorie geeignet den hier vermuteten Sachverhalt zu untersuchen.

Das Erkenntnisinteresse liegt also in der Erörterung einer kommunikationswissenschaftlich fundierten Perspektive auf die durch den Globalisierungsprozeß gekennzeichnete gesamtgesellschaftliche Entwicklung mit Hilfe eines konkreten Beispiels: Attac. Attac ist eine globalisierungskritische Bewegung und zeichnet sich insbesondere durch öffentliche Proteste gegen die Weltwirtschaftspolitik aus. Daher wird auf den Aufbau von Öffentlichkeit als dem Ort, an dem sich ein gesellschaftlicher Konsens artikuliert, eingegangen. Es werden unter der Verwendung einer verständigungsorientierten Kommunikationstheorie die kommunikativen Strukturen aufgezeigt, die diesen Globalisierungsprozeß charakterisieren. Weiterhin sollen aus dieser kommunikationswissenschaftlichen Sichtweise Möglichkeiten aufgezeigt werden, die kommunikativen Strukturen der Entwicklung des Globalisierungsprozesses zu formen. Hierzu wird wie folgt vorgegangen:

Im ersten Kapitel wird der Kommunikationsbegriff von Jürgen Habermas in der Form der Unterscheidung zwischen kommunikativem und zweckrationalem Handeln nachgezeichnet. Im Anschluß hieran wird das System/Lebenswelt- Konzept sowie die Entkopplungs- und Kolonisierungsthese dargestellt. Die nun erörterten Begrifflichkeiten des Systems, der Lebenswelt und den zugehörigen Modi der Handlungskoordinierung, zweckrationales und kommunikatives Handeln, werden dann im zweiten Kapitel als Instrumente der Beschreibung des Globalisierungsdiskurses herangezogen. Hier werden exemplarisch fünf Globalisierungsdimensionen beleuchtet. Dies geschieht einerseits unter Heranziehung von Statistiken und Meinungen die in der „Globalisierungsliteratur“ vorzufinden sind. Andererseits in der reflektierten Weise wissenschaftlicher Theorien, die je als Abschluß der einzelnen Dimensionen unter dem Titel „wissenschaftliche Annäherung“ zu finden sind. Diese betrachteten Dimensionen der Globalisierung werden hier dann ebenfalls mit den theoretischen Annahmen Habermas abgeglichen.

Im dritten Kapitel wird der in der Theorie Habermas angelegte Lösungsvorschlag aufgezeigt, pathologischen Gesellschaftsentwicklungen entgegenzuwirken. Hierzu wird zunächst kurz auf Habermas Verständnis von Öffentlichkeit eingegangen. Das Konzept der autonomen Öffentlichkeit ist dabei ein Teilkonzept von Habermas‘ Gesamtverständnis. Dann werden die Bedingungen und Charakteristika des Aufbaus autonomer Öffentlichkeiten entwickelt. Diese autonomen Öffentlichkeiten können nach Habermas das Gleichgewicht zwischen lebensweltlichen und systemischen Kontexten wiederherstellen. Abschließend wird in diesem Kapitel auf den Rechtschöpfungsprozeß als Instrument dieser Umwandlung eingegangen.

Im vierten Kapitel wird dann das alltagsweltliche Phänomen der „globalisierungskritischen Bewegung“ beleuchtet. Deskriptiv wird hier zunächst allgemein das Phänomen der globalisierungskritischen Bewegung dargestellt, um dann im Speziellen die globalisierungskritische Organisation Attac vorzustellen. Hierzu wird zunächst ein Selbst- und Fremdverständnis dieses Netzwerkes erarbeitet, um dieses dann dahingehend zu überprüfen, inwieweit es als autonome Öffentlichkeit im Sinne Habermas verstanden werden kann. Die Schlußbemerkung beendet dann diese Arbeit.

1. Aspekte der Gesellschaftstheorie von Habermas

Jürgen Habermas´ Interesse an Kommunikation ist ein mittelbares. Ihm geht es darum, gesellschaftstheoretische und philosophische Fragestellungen unter der Verwendung einer Strukturanalyse sprachlicher Kommunikation zu bearbeiten. Sein Verständnis von Kommunikation ist ein normatives, welches den Zweck der Verständigung beinhaltet. So wird die sprachliche Kommunikation als eine auf Konsens oder Verständigung strebende Kommunikation angelegt. Er untersucht Humankommunikation nicht an empirischer Realität, sondern markiert einen utopischen Fixpunkt, einen Originalmodus, in dem Sprache als herrschaftsfrei und auf Verständigung gerichtet gedacht ist. Im Zentrum steht das Gemeinsame von Sprecher und Hörer, das sich über Sprache finden lässt. Ziel der Humankommunikation ist hier die Erlangung eines Einverständnisses zwischen Interaktionspartnern. Dieses Einverständnis muß aus dem besseren Argument folgern und kann weder erkauft noch erzwungen werden. Habermas entwirft nicht eine Norm, wie eine gute Gesellschaft auszusehen hat, sondern er gibt ein Kriterium, aus dem sich eine gerechte Gesellschaft formt. Aus dem herrschaftsfreien, auf Verständigung gezieltem Diskurs gleichberechtigter Bürger. Zu diesem Primat der freien, gleichberechtigten Bürger führt die „ideale Sprechsituation“, die durch folgende Regeln gekennzeichnet ist:

1. Jedes sprach - und handlungsfähige Subjekt darf am Diskurs teilnehmen
2. Jeder darf Thesen problematisieren
3. Jeder darf eine These in den Diskurs einführen
4. Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern
5. Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in 1. und 2. festgelegten Rechte wahrzunehmen4

1.1 Kommunikatives versus zweckrationales Handeln

Im ersten Kapitel wird das System/Lebenswelt- Konzept von Jürgen Habermas nachgezeichnet. Da dieses Konzept und somit auch die Gesellschaftstheorie seinen Kern in der kommunikativen Handlung hat, wird zunächst auf die habermas´sche Unterscheidung zwischen kommunikativem und zweckrationalem Handeln eingegangen. Hierbei kann ob des Umfangs nicht auf alle Einzelheiten des kommunikativen Handlungsmodells eingegangen werden, vielmehr liegt der Fokus auf der Rekonstruktion des System/Lebenswelt- Konzeptes.

Grundlegend muß erwähnt werden, daß Habermas die Struktur der Lebenswelt, aus der sich auch das System ableitet, aus der formalen Analyse sprachlicher Verständigung entwickelt. Ausgangspunkt für diese Herangehensweise ist die Annahme der sinnkonstituierenden Bedeutung von Sprache und Kommunikation. So wird in der ersten Zwischenbetrachtung in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ aus dem Jahre 19815 zunächst der Zusammenhang zwischen Sprechakt und der Lebenswelt exploriert. Zentral ist hierbei der Gedanke, daß der Sprechakt dadurch charakterisiert ist, daß sich Sprecher und Hörer bei der Verständigung über etwas in der Welt auf ein gemeinsam unterstelltes System von Welten und Geltungsansprüchen beziehen. Sprache wird hier als handlungskoordinierendes Kommunikationsmedium gefaßt. Das Zentrum der handlungstheoretischen Analyse bildet also die Annahme der Handlungskoordinierung durch Sprechhandlungen. Der Ausgangspunkt der habermas´schen Gesellschaftstheorie ist die kommunikative Handlung. Als Handlungen definiert Habermas die symbolischen Äußerungen mit denen das Subjekt auf eine der drei Welten, die objektive, die subjektive und die soziale Welt, Bezug nimmt. Lediglich die kommunikative Handlung nimmt jedoch Bezug auf alle drei Welten. Diese kommunikative Handlung grenzt sich nach Habermas von anderen Handlungsbegriffen, etwa dem zweckrationalem, normativem und Aspekte der Gesellschaftstheorie dramaturgischem Handeln dadurch ab, daß sie sich auf die sprachliche Verständigung zwischen sprach- und handlungsfähigen Subjekten bezieht.6

Normatives Handeln ist durch Einhaltung generalisierter Verhaltenserwartungen gekennzeichnet, dramaturgisches Handeln kann als Selbstinszenierung gefaßt werden. Auf das zweckrationale Handeln wird später noch näher eingegangen, zunächst wird das in diesem Zusammenhang relevante kommunikative Handeln rekonstruiert.

Ein Verständnis von kommunikativer Handlung wie Habermas es verwendet, läßt sich auch in der wissenschaftlichen Theorie des symbolischen Interaktionismus finden und ist insbesondere durch seinen relativierenden, den Anderen einbeziehenden Charakter gekennzeichnet. Denn die Kommunikationsteilnehmer „nehmen nicht mehr geradehin auf etwas in der objektiven, sozialen oder subjektiven Welt Bezug, sondern relativieren ihre Äußerungen an der Möglichkeit, daß deren Geltung von anderen Akteuren bestritten wird.“7

Diese Bereitschaft zur Relativierung und die implizite Anerkennung der anderen Kommunikationsteilnehmer ist der wesentliche Unterschied zum zweckrationalem, auf Durchsetzung der eigenen Position bedachtem Handeln. Kommunikatives Handeln beinhaltet vier Geltungsansprüche: den Anspruch auf Verständlichkeit der Äußerung, auf Wahrheit des Gesagten, auf Richtigkeit bezüglich bestehender Normen und Werten und auf Wahrhaftigkeit hinsichtlich der Absichten.

Dies meint, daß für die Aussage eines Sprechers zunächst diese Geltungsansprüche angenommen werden und dann überprüft werden können. Es geht hier um die beabsichtigte Akzeptanz einer Äußerung des Sprechers durch den Hörer. Nur wenn der Hörer die Einlösbarkeit der oben genannten Geltungsansprüche annimmt, wird eine Äußerung akzeptiert.

Habermas unterteilt zweckrationales in instrumentelles und strategisches Handeln.8 Instrumentelles Handeln ist keine Form des sozialen Handelns und Aspekte der Gesellschaftstheorie ist charakterisiert durch die Befolgung technischer Regeln. Strategisches Handeln hingegen liegt bei Interaktionen vor, bei denen das Subjekt Einfluß auf ein anderes Subjekt nimmt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Strategisches Handeln hat also als Bezugspunkt ein Subjekt, instrumentelles Handeln ein Objekt9.

Habermas unterscheidet Interaktionen in die Handlungstypen strategisches und kommunikatives Handeln, welche unterschiedlichen Handlungsorientierungen folgen. Das strategische Handeln wird als erfolgsorientiert, das kommunikative Handeln als verständigungsorientiert gefaßt. Der Mechanismus der Handlungkoordinierung kann dementsprechend einerseits mit Beeinflussung, andererseits mit der Herstellung eines Einverständnisses umschrieben werden. Im letzteren Fall sind ausgehandelte Gründe ausschlaggebend, beim strategischen Handeln ist lediglich der Erfolg oder Mißerfolg der Einflußnahme von Relevanz. Die beiden Mechanismen der Handlungskoordinierung schließen sich gegenseitig aus. Zwar bedienen sich beide Handlungstypen der Sprache als Kommunikationsmedium, jedoch sieht Habermas dies lediglich für kommunikatives Handeln als konstitutiv an. Im strategischen Handeln wird Sprache zum Mittel der Erreichung eines eigenen Ziels instrumentalisiert, beim kommunikativen Handeln dient sie zur Verständigung über gemeinsame Werte und Ziele. Das kommunikative Handeln findet immer auf Basis der Lebenswelt statt, die im folgenden Abschnitt näher erläutert wird

1.2 Das System/Lebenswelt- Konzept

Das System/Lebenswelt- Konzept findet sich in der zweiten Zwischenbetrachtung der „Theorie des kommunikativen Handelns“ von Habermas. Die Grundaussage lautet: Die Pathologien moderner Gesellschaften lassen sich dadurch erklären, daß ökonomische und bürokratische Systemrationalität in lebensweltliche Bereiche eindringen. Hierdurch entstehen Sinn- und Freiheitsverlust.

Im Folgendem sollen die grundlegenden Gedanken Habermas bezüglich des System/Lebenswelt- Konzeptes nachgezeichnet werden. Diese Ausführungen haben keinen Anspruch auf eine vollständige Reproduktion der Theorie des kommunikativen Handelns, vielmehr stellen sie eine selektive Auswahl dar, die der Beantwortung der dieser Arbeit zugrundeliegenden Fragestellung dienlich ist.

In der zweiten Zwischenbetrachtung der „Theorie des kommunikativen Handelns“ entwickelt Habermas eine zweistufige Gesellschaftsanalyse. In ihr entfaltet er die Kategorien „System und Lebenswelt“, womit er den Versuch unternimmt, die konkurrierenden Ansätze der sinnverstehenden Theorie und der funktionalistischen Systemtheorie zu verbinden. Auf zeitdiagnostischer Ebene wird hier - wie erwähnt - der Frage nachgegangen, inwiefern die Entwicklung moderner Gesellschaften als Folge fehlgeleiteter Rationalisierungsprozesse verstanden werden kann.

1.2.1 Die Lebenswelt

Das auf Husserl und Schütz aufbauende Konzept der Lebenswelt wird als komplementärer Begriff zum kommunikativen Handeln eingeführt und bildet den Horizont, indem sich die kommunikativ Handelnden immer schon bewegen: Es stellt also eine Art Kontextwissen von Sprecher und Hörer dar, welches die Interpretation von Äußerungen erst ermöglicht. Dieses Kontextwissen ist Resultat der über natürliche Sprachen vermittelten Grundüberzeugungen eines Kulturbereichs. Somit sind Sprache und Kultur quasi das Bezugssystem der Verständigung selbst: „Wir stehen auf den Schultern derer, die vor uns sich verständigt haben.“10

Dies impliziert die Quintessenz der modernen Hermeneutik in dem Sinne, daß in jeglicher Form des Verständigungsprozesses schon auf eine Art Bezugssystem zurückgegriffen werden muß. Dieses Bezugssystem in Form der Lebenswelt ist gedacht als eine Art Hintergrundmatrix, welche sich durch die individuelle Lebensgeschichte konstituiert. Somit bestimmen überlieferte Traditionen und vergangene eigene Erfahrungen und Alltagswissen die Interpretationen von Personen und Ereignissen. Aufgrund der Annahme, daß der Einzelne die Perspektive des anderen einnehmen kann, wird die Lebenswelt als intersubjektive Lebenswelt verstanden. Sie kann somit als eine Art Allgemeinwissen über den Umgang mit Menschen, die Bedeutung von Verhaltensweisen und Erwartungen über Ereignisse in der Umwelt beschrieben werden.11

Bezüglich der Beschreibung von Gesellschaft nimmt das Konstrukt der Lebenswelt eine Teilnehmerperspektive ein und versteht diese als ein auf Verständigung basierendes Netz von Kooperationen, welches durch Kommunikation entsteht. So können Solidarität, der Zusammenhalt der Gesellschaft und soziale Integration nur über Kommunikation und verständigungsorientiertes Handeln geleistet werden. Die Lebenswelt kann also als gemeinsamer Hintergrund der Kommunikationsteilnehmer beschrieben werden, welcher aus diffusen, unproblematischen Überzeugungen und Verweisungszusammenhängen besteht. Die Lebenswelt bildet quasi den Hintergrund, vor dem sich eine Auseinandersetzung oder Kontroverse zwischen Kommunikationsteilnehmern abspielt und ist somit der Bereich, indem praktische Probleme gemeinsamer Lebensgestaltung ausgetragen werden. So werden die Bereiche Familie, Öffentlichkeit, Erziehung und Wissenschaft als genuin lebensweltlich qualifiziert. Strukturell wird das der Lebenswelt zugrundeliegende Hintergrundwissen in drei Komponenten unterschieden. Die Wissensvorräte resultieren demnach aus den Bereichen Kultur, Gesellschaft und Person. Das heißt, Interaktionsteilnehmer greifen „im Zuge ihrer kooperativen Deutungsprozesse nicht nur auf einen implizit bewußten kulturellen Wissensvorrat zurück, zugleich verständigen sich die Interaktionsteilnehmer immer schon vor dem Hintergrund von sozial eingelebte Praktiken (Gesellschaft) und intuitiv beherrschten individuellen Fähigkeiten(Person).“12

Kultur ist hierbei in den Bereichen Wissenschaft, Moral, Recht und im Kunstbetrieb verankert, der Bereich der Gesellschaft in demokratischen Institutionen sowie der politischen Öffentlichkeit verortet und die Komponente der Person verfestigt in der Privatsphäre. Die Lebenswelt bildet sowohl den Kontext der Situation von Interaktionspartnern, als auch den Horizont des in der Interaktion Thematisierbaren. Das heißt, die Handlungssituation befindet sich in einem stetigen Prozeß der Definition und Redefinition, die Interpretationen werden in der Lebenswelt gespeichert und dienen dann wiederum als Interpretationsressource. Diesen Vorgang bezeichnet Habermas mit dem Begriff der „symbolischen Reproduktion“ der Lebenswelt und unterscheidet hier - den Strukturkomponenten der Lebenswelt entsprechend - zwischen kultureller Reproduktion, sozialer Integration und der Sozialisation. Der kommunikationstheoretische Begriff Lebenswelt faßt den „transzendentalen Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen, wo sie reziprok den Anspruch erheben können, daß ihre Äußerungen mit der Welt (der objektiven, der sozialen, der subjektiven) zusammenpassen; und wo sie diese Geltungsansprüche kritisieren und bestätigen, ihren Dissens austragen und Einverständnis erzielen können.“13

Somit ist die Lebenswelt als kontextbildender Verweisungszusammenhang Grundlage jeglicher Verständigung, sozialer Handlung und somit auch Kern von Gesellschaft überhaupt. „Gleichzeitig bleibt die Lebenswelt das Subsystem, das den Bestand des Gesellschaftssystems im ganzen definiert.“14

Die Lebenswelt ist gleichzusetzen mit der Bedingung der Möglichkeit von Verständigung. Sie umschreibt die Gesamtheit eines intuitiv verfügbaren Wissens des Individuums, das nicht jederzeit abrufbar ist, sondern das sich gerade dadurch kennzeichnet, daß es meist unbewußt bleibt.

Im Folgendem soll nun nachgezeichnet werden, wie nach Habermas der Gegenbegriff zur Lebenswelt, das System gedacht ist.

1.2.2 Das System

Mit dem Konstrukt des Systems versucht Habermas die Beschreibung von Gesellschaft aus der Beobachterperspektive in seine Gesellschaftsdiagnose einfließen zu lassen. Hierin wird jeder soziale Kontakt als System begriffen; die Gesellschaft als ein System von Handlungen betrachtet. Nach Talcott Parsons setzen sich Handlungssysteme „aus dem Sozialsystem, dem Kultursystem, der Persönlichkeit oder dem Motivationssystem des Individuums und aus dem (...) sogenannten Verhaltenssystem (...) zusammen.“15

Gesellschaft kann nach Habermas eben nicht adäquat über den Kontext der kommunikativ strukturierten Lebenswelt beschrieben werden, sondern Gesellschaft muß gleichzeitig auch als System, als „die funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen“,16 verstanden und theoretisiert werden. Die Begriffe Lebenswelt und System dienen also als analytische Ordnungskonzepte, welche dieselbe Gesellschaft unter verschiedenen Perspektiven beschreiben.

Von Talcott Parsons und Niklas Luhmann grenzt er sich folglich in so weit ab, daß er die Systemtheorie nicht als alleiniges Instrument der Beschreibung gesellschaftlicher Phänomene behandelt, sondern sie in seine zweistufige Gesellschaftsanalyse integriert.

„Während das Lebensweltkonzept am Selbstverständnis der Beteiligten anknüpft und aus ihrer Sicht soziale Phänomene beschreibt, werden im Rahmen des Systemparadigmas gesellschaftliche Zusammenhänge als soziale System vorgestellt, die in einer überkomplexen Umwelt ihren Bestand erhalten und ihre Eigenkomplexität steigern.“17

Das Systemmodell findet nun explizit Verwendung in der Betrachtung des kapitalistischen Wirtschaftssystems und des modernen Staatsapparates, da sich diese Bereiche aufgrund ihrer Komplexität nur unzureichend aus der Perspektive der Lebenswelt beschreiben lassen und hier im Gegensatz zur Lebenswelt nicht das kommunikative, sondern das zweckrationale in der Form des instrumentellen und des strategischen Handeln vorherrscht.

Zweckrationales Handeln ist im Gegensatz zum kommunikativen Handeln nicht auf Verständigung, sondern auf Erfolg im Sinne erfolgreicher Handlungskoordination oder - anders ausgedrückt - auf egozentrische Nutzenkalkulation ausgerichtet.

Staat und Wirtschaft zeichnen sich Habermas folgend dadurch aus, daß die in ihnen stattfindenden Handlungen über die Steuerungsmedien Geld (Wirtschaft) und Macht (Staat) koordiniert werden. Somit unterscheidet sich das Ordnungskonzept System von dem der Lebenswelt dadurch, daß hier nicht mehr die Koordination von Handlungen durch die Intention der Kooperation anzutreffen ist. Vielmehr wird den Handlungsfolgen ein den subjektiven Handlungsorientierungen übergreifender Mechanismus zugrundegelegt, der die einzelnen Handlungen qua Steuerungsmedien zu einem Gesamtzusammenhang vernetzt. Diese Symbiose von Systemtheorie und Handlungstheorie führt Habermas zu der Ansicht, „...daß Gesellschaften systemisch stabilisierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen darstellen.“18

Habermas erklärt nun die Pathologien moderner, strukturell differenzierter Gesellschaften durch die Entwicklung eines Ungleichgewichtes zwischen Lebenswelt und System. Für ihn entstehen gesamtgesellschaftliche Fehlentwicklungen durch die Übertragung systemischer Steuerungsmechanismen auf genuin lebensweltliche Kontexte. Diesen Vorgang nennt Habermas die „Kolonisierung“ der Lebenswelt. Bevor dieser Begriff näher erläutert wird, soll noch der Prozeß der Entkopplung von System und Lebenswelt dargelegt werden.

1.2.3 Entkopplung und Kolonisierungsthese

Der These der Entkopplung von System und Lebenswelt liegen folgende Annahmen bezüglich der sozialen Evolution zugrunde:

In einfachen Gesellschaftsformen (segmentäre Gemeinschaften, Stammesgesellschaften) liegt nach Habermas noch eine Einheit von System und Lebenswelt vor. Erst mit der Entwicklung zu ökonomisch verfaßten Klassengesellschaften kommt es dann zu einer Entkopplung von Lebenswelt und System. Dieses ist durch die Systemdifferenzierung und Rationalisierung moderner Gesellschaften begründet, da durch die Evolution hin zu einer ökonomisch verfaßten Klassengesellschaft immer häufiger systemische Steuerungsmedien Handlungen koordinieren. Der Mechanismus sprachlicher

Verständigung ist durch die wachsende Komplexität überfordert und wird daher durch entsprachlichte Kommunikationsmedien ersetzt. Habermas erklärt also die Entkopplung von Lebenswelt und System durch die ständig wachsende Professionalisierung und strukturelle Differenzierung moderner Gesellschaften. Er diagnostiziert modernen Gesellschaften eine Vorherrschaft des technisch- instrumentellen Vernunftmoments, welches einerseits zu Verwissenschaftlichung, Technisierung und Produktivitätssteigerung führt, andererseits eine Dominanz zweckrationalen Handelns mit sich bringt. Diese Umstellung der Handlungskoordinierung von Sprache auf Steuerungsmedien impliziert eine Abkopplung eines Interaktionsbereichs von lebensweltlichen Kontexten, die einerseits eine Entlastung lebensweltlicher Kommunikationszusammenhänge, andererseits eine Technisierung der Lebenswelt erzeugt. In diesem Zusammenhang sieht Habermas die „unaufhaltsame Ironie des weltgeschichtlichen Aufklärungsprozesses: die Rationalisierung der Lebenswelt ermöglicht eine Steigerung der Systemkomplexität, die so hypertrophiert, daß die losgelassenen Systemimperative die Fassungskraft der Lebenswelt, die von ihnen instrumentalisiert wird, sprengen.“19

„[Hierbei J.B.] treten nicht-intendierte Handlungsfolgen und unbeabsichtigte Handlungskonsequenzen auf, die sich dem Selbstverständnis der Beteiligten und damit einer allein lebensweltlich ansetzenden Beschreibung entziehen.“20

Die strukturbildenden Effekte der mediengesteuerten Subsysteme Wirtschaft und Staat resultieren hier erst aus der Übertragung der innersystemischen Steuerungskapazität auf ihre Umwelten. Das heißt für den Bereich der Wirtschaft, daß erst durch die Übertragung des Steuerungsmediums Geld auf die überkomplexen sozialen Umwelten Staat (über die Steuern) und die Lebenswelten der Gesellschaftsmitglieder (über die Arbeitslöhne) auch die diesen Umwelten zugrundeliegenden Strukturen mitdefiniert werden.

Für den Bereich des Staates resultiert hieraus eine Assimilierung des Steuerungsmedium Macht an das Steuerungsmedium Geld, für den Bereich der Lebenswelten eine Neutralisierung alltagsweltlicher Sinn- und Erfahrungsstrukturen. Geld und Macht motivieren Individuen durch Anreiz oder Abschreckung zu bestimmten Handlungen. Sie sind damit in der Lage, Handlungen zu koordinieren, ohne ein kommunikativ erzeugtes Einverständnis der Beteiligten herbeiführen zu müssen. Somit koppeln sich Wirtschaft und Staat von Wertpräferenzen und Sinnstrukturen ihrer Mitglieder ab. Vielmehr treten die den Systemen Wirtschaft und Staat innewohnenden funktionalen Erfordernisse an die Stelle der lebensweltlich ausgehandelten Handlungsorientierungen der Akteure.

Das Ablösen der Systeme Wirtschaft und Staat aus lebensweltlichen Kontexten nennt Habermas die Entkopplung von System und Lebenswelt. Dies impliziert die oben erwähnte Entwicklung der Lebenswelt zu einem Subsystem. Bezüglich der Integration von Gesellschaft unterscheidet Habermas zwischen Systemintegration über die Steuerungsmedien und Sozialintegration über kommunikatives Handeln.

„Unter sozialer Integration versteht Habermas die Vergesellschaftung sprechender und handelnder Subjekte im symbolisch strukturierten sozialen Bereich, sprich in der Lebenswelt. Systemintegration umfasst hingegen die besonderen Steuerungsleistungen eines autopoietischen Systems, welches sich über die Bewältigung der Komplexität einer sich ständig wandelnden Umwelt zu erhalten vermag.“21

An dem Punkt der Entkopplung von System und Lebenswelt ersetzt die Systemintegration die Sozialintegration, das zweckrationale dominiert das kommunikative Handeln. Diese Übernahme systemischer Handlungskoordinierung auf lebensweltliche Bereiche nennt Habermas die „Kolonisierung“ der Lebenswelt. Diese impliziert eine Verdinglichung und kulturelle Verarmung derselben. Verständigungsorientiertes Handeln wird im Prozeß dieser Kolonisierung durch systemische Mechanismen und zweckrationales Handeln zurückgedrängt und ersetzt. Somit „...verbinden sich in den Deformationen der Alltagspraxis die Erstarrungs- mit den Verödungssymptomen. Das eine Moment, die einseitige Rationalisierung der Alltagskommunikation, geht auf die Verselbständigung von mediengesteuerten Subsystemen zurück, die sich nicht nur jenseits des Horizonts der Lebenswelt zu einer normfreien Realität versachlichen, sondern mit ihren Imperativen in die Kernbereiche der Lebenswelt eindringen.“22

Den Hintergrund für die Habermas´sche Kolonisierungsthese liefert die Parsons´sche Medientheorie, die sich mit der Frage auseinandersetzt, wie hochkomplexe und differenzierte Gesellschaften die (Re)Integration der differenzierten Systeme bewerkstelligen. Dieses wird nach Parsons in segmentären Gesellschaften noch über direkte kommunikative vis-a-vis Prozesse geleistet, in hochkomplexen Gesellschaften über die kommunikationsersetzenden Medien Geld, Macht, Einfluß und Wertbindung. Sie gelten als Sondersprachen, die dazu dienen, kommunikative Prozesse zu entlasten, und reduzieren somit den kommunikativen Aufwand der Handlungskoordination in komplexen Gesellschaften.

Habermas sieht jedoch nur die Medien Geld und Macht als kommunikationsersetzend an. Von einer Kolonisierung spricht Habermas, wenn die entsprachlichten Steuerungsmedien in den Bereich der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt in kommunikationsersetzender Weise wirken, da diese auf Verständigung als Handlungskoordination angewiesen ist. Da Systeme nur über Medien mit ihren Umwelten in Beziehung treten können, kann eine Adaption lebensweltlicher Bereiche durch die Systeme nur erreicht werden, indem diese lebensweltlichen Bereiche in Weise der systemischen Mechanismen umstrukturiert werden. Dies führt zu einer steigenden Rationalität in der Alltagspraxis. Die möglichen Störungen, die sich hierbei in der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt ergeben können, lassen sich strukturell differenzieren: Im Bereich der kulturellen Reproduktion produzieren sie Sinnverlust und Legitimationskrisen, im Bereich der sozialen Integration resultieren Anomien und auf der Ebene der Sozialisation äußern sich Störungen in Form von Entfremdungserscheinungen und Psychopathologien. Als Konsequenz einer solchen Kolonisierung diagnostiziert Habermas:

“In dem Maße wie das ökonomische System die Lebensform der privaten Haushalte und die Lebensführung von Konsumenten und Beschäftigten seinen Imperativen unterwirft, gewinnen Konsumismus und Besitzindividualismus, Leistungs- und Wettbewerbmotive prägende Kraft. Die kommunikative Alltagspraxis wird zugunsten eines spezialistisch-utilitaristischen Lebensstils einseitig rationalisiert; und diese medieninduzierte Umstellung auf zweckrationale Handlungsorientierung ruft die Reaktion eines von diesem Rationalitätsdruck entlastenden Hedonismus hervor. (...) Aufgrund der Instrumentalisierung der Lebenswelt für systemische Zwänge leidet die kommunikative Alltagspraxis an einer Ausrichtung auf kognitiv-instrumentelle Handlungsorientierungen und tendiert zu entsprechenden Reaktionsbildungen.“23

Somit wird nach Habermas die kommunikative Infrastruktur der Lebenswelt bedroht. Die Imperative der verselbständigten Subsysteme dringen - „wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft - von außen in die Lebenswelt ein und erzwingen die Assimilation.“24 Nach Habermas geht dieser Kolonisierung eine Abspaltung der Expertenkulturen von den Zusammenhängen kommunikativen Handelns einher. Diese Entwicklung wird auch als Folge der fortwährenden Steigerung der Professionalisierung gedeutet. So sind zum Beispiel politische Entscheidungsprozesse durch die Vielzahl an Instanzen und Regeln ohne Expertenwissen kaum nachvollziehbar. Durch die immer größer werdende Distanz zwischen dem institutionalisierten Expertenwissen in Wissenschaft, Kunst und Moral einerseits und der Alltagspraxis andererseits folgt dann eine Verdinglichung der Lebenswelten durch systemische Mechanismen. Die Individuen sind durch diese Abspaltung der Expertenkulturen nicht mehr fähig, in übergreifenden, kausalen Zusammenhängen zu denken. Sie können die Verdinglichung ihrer Lebenswelt durch systemische Mechanismen nicht durchschauen:

“...die zerstreuten Perspektiven der heimischen Kultur lassen sich nicht soweit koordinieren, daß das Spiel der Metropolen und des Weltmarktes von der Peripherie her durchschaut werden könnte.“25

Die von Habermas entfaltete Gesellschaftsdiagnose kann also als Versuch der Bestimmung von Umschlagpunkten gesehen werden, „an denen gesellschaftliche Modernisierungsprozesse in eine eindimensionale, weithin unkontrollierte, lebensweltlich dysfunktionale Rationalisierungdynamik münden.“26

In wieweit dies für die Auswirkungen des aktuell sich vollziehenden Globalisierungsdiskurs diagnostiziert werden kann, wird im zweiten Kapitel dargelegt. Die habermas`sche Analyse bezieht sich auf Gesellschaften in Form der Nationalstaaten, und wird nun auf einen globalen Kontext übertragen. Dies ist potentiell schon in Habermas eigenen Überlegungen angelegt:

„Sobald wir indessen den Lebensweltbegriff kommunikationstheoretisch einführen, ist die Absicht, mit seiner Hilfe an beliebige Gesellschaften heranzukommen, keineswegs mehr trivial.“27

Zur Kennzeichnung des globalen Kontextes wird im Folgenden in den Globalisierungsdiskurs eingeführt, dann werden fünf Globalisierungs- dimensionen exemplarisch näher beleuchtet und mit den Annahmen Habermas verglichen.

2. Aspekte des Globalisierungsdiskurses

Der Begriff der Globalisierung wird sowohl im Alltagskontext als auch in den Medien und der Wissenschaft aktuell so kontrovers diskutiert wie kaum ein anderer. Ausdrücke wie „global village“, „global player“ oder „global city“ sind vielerorts schon in den allgemeinen Sprachschatz integriert. Überall ist er präsent, wird aber je nach Kontext mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet und verstanden. In der gesellschaftlichen und der wissenschaftlichen Diskussion finden sich verschiedenste Ansichten über die inhaltlichen Dimensionen, Ursachen und Folgen. Durch die Vielschichtigkeit der Verwendung des Begriffes und durch dessen inflationären Gebrauch wird eine Verständigung darüber, was der Begriff bedeutet, erschwert. Die Schlagkraft des Wortes scheint sich paradoxerweise mit seiner Unklarheit zu verstärken.

Im Fremdwörterbuch findet man die Bedeutung des Begriffs „global“ mit „:1. auf die gesamte Erdoberfläche bezüglich; Erd...; weltumspannend. 2. a) umfassend, gesamt; b) allgemein, ungefähr.“ umschrieben.28

Alles scheint global geworden zu sein, von der Weltwirtschaft, den Menschenrechten, den Umweltproblemen, der Kriminalität oder dem Tourismus. Diese Liste scheint endlos fortsetzbar. Doch warum ist der Gebrauch kontrovers? Warum gibt es Vertreter, die „die“ Globalisierung befürworten, kritisieren oder ablehnen? Gibt es „die“ Ursachen der Globalisierung und zurechenbare Folgen? Wie sehen die Argumentationen der verschiedenen Fraktionen aus und wie werden sie verbreitet?

Was also meint „die“ Globalisierung? Dieses Kapitel ist ein Versuch, den Begriff Globalisierung einzugrenzen und verschiedene Dimensionen der Globalisierung zu thematisieren.

All den zu beschreibenden Dimensionen ist gemein, daß sie einen Prozeß bezeichnen und nicht einen Zustand. Sie sind nicht getrennt voneinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Mit der Darstellung dieser Dimensionen kann der Globalisierungsprozeß nicht umfassend beschrieben werden. Sie kann auch keine endgültige Definition, was unter Globalisierung wirklich zu verstehen ist, liefern. Sie soll lediglich - stellvertretend für eine große Zahl anderer Dimensionen - den Begriff der Globalisierung eingrenzen, um den Kontext für die Analyse einer konkreten globalisierungskritischen Bewegung darzustellen. Daher werden nun die Globalisierungsdimensionen Ökonomie, Kultur, Politik, Ökologie und Kommunikation näher beleuchtet. Die Auswahl dieser Dimensionen obliegt der zugrundeliegenden Annahme, daß der Globalisierungsprozeß in seiner heutigen Form insbesondere durch die Entwicklungen der Ökonomie und der Politik charakterisiert ist. Das hier gewählte Instrument der Habermas´schen Gesellschaftstheorie beinhaltet die Dimensionen der Kommunikation, der Wirtschaft und des Staates ebenso wie die der Kultur als Konstitutionsbedingung der Lebenswelt. Die Einbeziehung der ökologischen Dimension ist durch ihren Zusammenhang mit der Lebenswelt begründet.

2.1 Ökonomie

2.1.1 Historische Betrachtungen

Eine häufig verwendete Bedeutung des Begriffes der Globalisierung ist die der zunehmenden weltweiten Verflechtung der Nationalökonomien und der Finanzmärkte. Globalisierung umschreibt also eine wirtschaftliche Entwicklung, die durch die Erschaffung offener Märkte gekennzeichnet ist. Diese Entwicklung ist verstärkt seit der Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 und dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatenwelt zu beobachten.

Durch den Wegfall des politischen und ökonomischen Gegenentwurfes der westlichen Welt durchdringt nunmehr die Idee der freien Marktwirtschaft auch die zuvor planwirtschaftlich geführten Staaten. Hierbei ist festzuhalten, daß diese Entwicklung der zunehmenden ökonomischen Verflechtung kein neues Phänomen ist, sondern lediglich eine Verstärkung hinsichtlich der Quantität und Qualität, sowie der räumlichen Ausdehnung zu diagnostizieren ist.

Schon seit der Frühzeit der Menschheit werden Waren wie Gold, Silber, Edelsteine, Gewürze oder Pelze auch grenzüberschreitend gehandelt. In der Antike entwickelten Phönizier, Griechen und Römer über den Mittelmeerraum hinaus ein Freihandelsnetzwerk und durch die Kolonisierung der Portugiesen und Spanier im fünfzehnten Jahrhundert war sogar ein weltumspannender Handel möglich.

2.1.2 Status Quo

Die Herausbildung der modernen Weltwirtschaft und des internationalen Handels nach heutigen Maßstäben setzte jedoch erst Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ein und erlebte in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine erste Hochphase. Unterbrochen wurde diese Entwicklung durch die beiden Weltkriege, doch schon in der Schlußphase des zweiten Weltkrieges wurden die internationalen Handelshemmnisse durch die Gründung des „Internationalen Währungsfonds“ (IWF) und der Weltbank minimiert. Der Internationale Währungsfonds (IWF) wurde 1944 in Bretton Woods gegründet. 183 Mitgliedsländer sind daran mit Einlagen beteiligt. Der IWF überwacht die Währungspolitik der Mitglieder, leistet finanzielle Hilfe bei Zahlungsbilanzproblemen und stellt Krisenländern Kredite sowie das notwendige Know-How zur Einleitung finanzpolitischer und institutioneller Reformen zur Verfügung.

Kritik an dieser Institution wird oft in der Form dargelegt, daß die Strenge der wirtschaftlichen Auflagen für Krisenländer die bestehenden sozialen und politischen Konflikte verschärfen würden und das die politischen Auflagen zu tief in die Handlungsfreiheit der Nehmerländer eingreife.29

Ebenfalls 1944 in Bretton Woods wurde die Weltbank gegründet. Sie hat 183 Mitgliedsländer und 10600 Mitarbeiter. Sie vergibt Kredite unter anderen für Großprojekte wie Staudämme oder Brückenbauten, legt Entwicklungshilfeprogramme auf und koordiniert Kooperationen im öffentlichen und privaten Sektor. Mit 15 Milliarden Dollar vergebender Kredite im Jahr 2000 ist die Weltbank die größte Entwicklungshilfeagentur weltweit.30

Kritik wird an dieser Institution in der Form geäußert, daß sie monströser Großprojekte fördere, die an den Bedürfnissen der Entwicklungsländer vorbeigehen und vorwiegend den Interessen internationaler Konzerne dienen würde.

Das „Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen“ (General Agreement on Tariffs and Trade - GATT) wurde 1948 in Kraft gesetzt, wodurch internationaler Handel umfangreich gefördert wurde und seit 1952 gibt es die Bestrebungen zur wirtschaftlichen Vereinigung Europas. Das GATT wurde 1995 durch den Druck der Entwicklungsländer in die WTO (World Trade Organization) umgewandelt, da viele dieser Länder die GATT als Interessengemeinschaft der Industrienationen ansahen. Die Welthandelsorganisation (WTO) ist eine Sonderorganisation der UNO. Die „Spielregeln“ des Welthandels legen die 141 Mitgliedsländer der WTO in internationalen Vereinbarungen fest. Die Organisation vermittelt bei Handelsstreitigkeiten und überwacht die Handelspolitik der Mitgliedsstaaten. Durch die Integration der WTO als Behörde in die „Familie“ United Nations-Behörden (UN) flossen stärker demokratische Formen ein, durch die sich auch kleinere und schwächere Länder besser repräsentiert sahen. Die diversen Zollrunden der GATT haben Senkungen des durchschnittlichen Zolls von früher 40% auf heute nur noch 5% erwirkt.31

Zu beobachten ist weiterhin das Aufkommen immer größerer Freihandelszonen, in denen schrittweise Handelshemmnisse für Güter und Dienstleistungen abgebaut und Investitionsbedingungen liberalisiert werden. Seit 1994 sind die USA, Kanada und Mexico in der NAFTA (North American Free Trade Assoziation) vereint, im südamerikanischen Raum haben Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay die MERCOSUR (Mercado Comun del Cono Sur: Gemeinsamer Markt im Süden Lateinamerikas) gegründet, im asiatischen Raum hat die Vereinigung südostasiatischer Staaten (ASEAN) ein Abkommen über die Errichtung der AFTA (Asian Free Trade Assoziation) beschlossen und die am wohl weitesten gediehene Freihandelszone bildet die EU (Europäische Union).32

[...]


1 Ungeheuer, Gerold (1987): Kommunikationstheoretische Schriften 1: Sprechen, Mitteilen, Verstehen. Aachen: Alano Verlag. S.290-339.

2 Ungeheuer, Gerold (1987), S.290.

3 Ungeheuer, Gerold (1987), S.291.

4 Vgl. Habermas, Jürgen (1984), Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 1.Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S.177ff.

5 Habermas, Jürgen (1981), Theorie des kommunikativen Handelns: Band 2, Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

6 Zu den Handlungsbegriffen siehe näher: Habermas, Jürgen (1981), Theorie des kommunikativen Handelns: Band 1, Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S.126-141.

7 Habermas, Jürgen (1981) Band 1, S.184.

8 Die Begriffe teleologisches und zweckrationales Handeln werden hier synomym verwendet

9 Vgl. Gripp, Helga (1986), Jürgen Habermas: Und es gibt sie doch. Zur kommunikationstheoretischen Begründung von Vernunft bei Jürgen Habermas. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh, S.88.

10 Reese-Schäfer, Walter (2001), Jürgen Habermas. 3.Auflage. Frankfurt/Main: Campus-Verlag, S.60.

11 Vgl. Restorff, Matthias (1997), Die politische Theorie von Jürgen Habermas. Marburg: Tectum Verlag, S.16-18.

12 Kneer, Georg (1990), Die Pathologien der Moderne: zur Zeitdiagnose in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ von Jürgen Habermas. Opladen: Westdeutscher Verlag. S.63

13 Habermas, Jürgen (1981) Band 2, S.192.

14 Habermas, Jürgen (1981) Band 2, S.230.

15 Parsons, Talcott in: Bossong, Horst (1985), Die freundliche Kolonisierung: Sozialarbeit zwischen System und Lebenswelt. Bremen: Univ.-Diss.,S.45.

16 Habermas, Jürgen (1981), Band 2, S.226.

17 Kneer, Georg (1990), Die Pathologien der Moderne: zur Zeitdiagnose in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ von Jürgen Habermas. Opladen: Westdeutscher Verlag, S.73/74.

18 Habermas, Jürgen (1981), Band 2, S.228.

19 Habermas, Jürgen (1981), Band 2, S.232.

20 Kneer, Georg (1990), S.74.

21 Restorff, Matthias (1997), S.24.

22 Habermas, Jürgen (1981), Band 2, S.483.

23 Habermas, Jürgen (1981), Band 2, S.480/481.

24 Habermas, Jürgen (1981), Band 2, S.522.

25 Habermas, Jürgen (1981), Band 2, S.522.

26 Heming, Ralf (2000), Systemdynamiken, Lebenswelt und Zivilgesellschaft- Zeitdiagnostische Aspekte der Gesellschaftstheorie von Jürgen Habermas, in: Schinank,Uwe/ Volkmann, Ute (Hg.) (2000), Soziologische Gegenwartsdiagnosen.Opladen: Leske+Buderich, S.61.

27 Habermas, Jürgen (1981), Band 2, S. 217.

28 Alsleben, Brigitte (Red.) (2003), Duden- Das große Fremdwörterbuch. Mannheim: Dudenverlag, S.283.

29 Vgl. Emcke, Carolin/ Schumann, Harald (2001), Die Ohnmacht der Mächtigen, in: der Spiegel 30/2001, S.32/33.

30 Vgl. Emcke, Carolin/ Schumann, Harald (2001), Die Ohnmacht der Mächtigen, in: der Spiegel 30/2001, S.32/33.

31 Wagner, Joachim (Hg.) (1998), Globalisierung: Fakten, Formen, Folgen; Beiträge aus einer Veranstaltung der Universität Lüneburg anlässlich der „Tage der Forschung 1997“. Lüneburg: Universitäts- Verlag Lüneburg, S.6.

32 Vgl. Franzmeyer, Fritz (1999), Welthandel und internationale Arbeitsteilung, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.) (1999), Informationen zur politischen Bildung: Globalisierung.Nr. 263. Berlin: Franzis` print & media, S.8-21.

Ende der Leseprobe aus 106 Seiten

Details

Titel
Kommunikationswissenschaftliche Betrachtung des Globalisierungsdiskurses unter besonderer Berücksichtigung des Aufbaus von Öffentlichkeit
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Note
2,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
106
Katalognummer
V42559
ISBN (eBook)
9783638405645
Dateigröße
777 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Magisterarbeit wurde in Kommunikationwissenschaft an der Uni Duisburg- Essen geschrieben, hat jedoch eine starke soziologische Prägung. Sie umfasst sowohl eine Darstellung der Verwendung des Begriffs Globalisierung in der Literatur, als auch die Differenzierung in verschiedene Dimensionen des Globalsierungsprozesses. Weiterhin wird die Habermas´schen Theorie des kommunikativen Handelns dargestellt und abschließend auf die globalisierungskritische Bewegung "attac" angewandt.
Schlagworte
Kommunikationswissenschaftliche, Betrachtung, Globalisierungsdiskurses, Berücksichtigung, Aufbaus
Arbeit zitieren
Jürgen Bilke (Autor:in), 2003, Kommunikationswissenschaftliche Betrachtung des Globalisierungsdiskurses unter besonderer Berücksichtigung des Aufbaus von Öffentlichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42559

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