Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretische Grundlage
2.1 Das Ann-Arbor-Modell als Erklärungsgrundlage für individuelles Wahlverhalten
2.2 Die Übertragbarkeit des Ann-Arbor-Modells auf deutsche Bundestagswahlen
3 Die Ausgangssituation der SPD bei der Bundestagswahl 2009
4 Anwendung des Ann-Arbor-Modells auf die Bundestagswahl 2009
4.1 Vorstellung und Operationalisierung der Daten
4.2 Analyse der langfristigen Variable „Parteiidentifikation“ als Determinante des Wahlverhaltens
4.3 Kann das Ann-Arbor-Modell das Wahlverhalten der SPD-Wähler erklären?
5 Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
1 Einleitung
Kanzlerbonus, Eurokrise oder doch der Atomausstieg? Gerade mit Blick auf die kommende Bundestagwahl 2013 stellt sich immer wieder die Frage, wovon Wähler ihre Entscheidung abhängig machen, wem sie ihre Stimme bei Wahlen geben. Die Wahlforschung als einer der bedeutendsten Zweige der Politikwissenschaft hat sich als Ziel gesetzt, Wahlverhalten zu untersuchen und zu erklären. Sie befragt, analysiert, prognostiziert und ist immer auf der Suche nach der Antwort auf die Frage: „Wer wählt wen warum?“ Das in der 60er Jahren an der University of Michigan entwickelte Ann-Arbor-Modell erhebt den Anspruch, das Wahlverhalten der Bürger durch deren Identifikation mit einer Partei, ihre Bewertung der Kandidaten und ihre persönliche Position zu politischen Sachfragen erklären zu können. Die anhaltende Dominanz des Modells in der Wahlforschung scheint dem Ansatz Recht zu geben. Doch ist das Modell auch noch heute, rund 50 Jahre später- trotz Dealignment und Politikverdrossenheit - überhaupt noch anwendbar? Um zu überprüfen, ob sich die Theorie auch noch zur heutigen Zeit in die Praxis umsetzen lässt, soll dies anhand einer Anwendung des Modells auf die Bundestagswahl 2009 empirisch analysiert werden. Bei dieser Wahl erzielte die SPD mit 23% das schlechteste Ergebnis in der Parteigeschichte und verlor im Vergleich zur Bundestagswahl 2005 11 Prozentpunkte an Zweitstimmen. Die Verluste der SPD waren mit über 6 Millionen abgewanderten Wählern von allen Parteien am größten. Die meisten Wähler verlor sie jedoch nicht an andere Parteien, sondern über 2 Millionen an das Lager der Nichtwähler. Daher soll in dieser Arbeit untersucht werden, ob mit Hilfe des Ann-Arbor-Modells erklärt werden kann, warum die Wählerschaft der SPD bei der Bundestagswahl 2009 für ihre Partei gestimmt bzw. sich der Wahl enthalten hat.
Den theoretischen Rahmen bildet das 2. Kapitel, in dem das Ann-Arbor-Modell mit seinen zentralen Annahmen vorgestellt und die Übertragbarkeit des Modells auf deutsche Bundestagswahlen untersucht wird. Um zu verdeutlichen, unter welchen Voraussetzungen die Anhänger der SPD ihre Wahlentscheidungen getroffen haben, wird in Kapitel 3 die Ausgangslage der SPD bei der Bundestagswahl 2009 beschrieben. Darauf folgt im 4. Kapitel der analytische Teil der Arbeit, zu dessen Beginn die Daten und deren Operationalisierung vorgestellt werden. Im Anschluss wird die Parteiidentifikation als zentrale politische Einstellung des Ann-Arbor-Modells hinsichtlich ihrer Richtung, Stärke und zeitlicher Stabilität untersucht. In Kapitel 4.3 wird der Einfluss von politischen Einstellungen auf das Wahlverhalten zugunsten der SPD untersucht, um eine Antwort auf die Frage zu finden, ob mit Hilfe des Ann-Arbor Modells das Wahlverhalten der SPD-Wählerschaft erklärt werden kann. Anschließend wird im letzten Kapitel ein Fazit gezogen.
2 Theoretische Grundlage
2.1 Das Ann-Arbor-Modell als Erklärungsgrundlage für individuelles Wahlverhalten
Das Ann-Arbor–Modell (oder auch Michigan- bzw. sozialpsychologisches Modell genannt) wurde in den 60er Jahren von den Sozialwissenschaftlern Angus Campbell, Philip E. Converse, Warren E. Miller und Donald E. Stokes an der University of Michigan in Ann Arbor entwickelt. Es zielt darauf ab, das Verhalten von Personen bei Wahlen vorauszusagen und zu erklären und ist bis heute der vorherrschende Erklärungsansatz in der empirischen Wahlforschung (vgl. Falter/Schumann/Winkler 1990: 4). Die Grundlage des Modells bildet der sozialpsychologische Ansatz, der aus Campbells et. al Studien „The Voter decides“(1954) und „The American Voter“(1960) generiert wurde. Für die Studien wurden im Rahmen der amerikanischen Präsidentschaftswahlen 1948, 1952 (The Voter decides) und 1954 (The American Voter) zum ersten Mal landesweite Umfragen erhoben, sodass Rückschlüsse auf das Wahlverhalten in den USA insgesamt ermöglicht wurden. Mit dieser Vorgehensweise unterschied sich die sogenannte „Michigan School“ von dem - auf einer nur regional durchgeführten Studie von Paul Lazarsfeld basierenden- mikrosoziologischen Ansatz, der zu diesem Zeitpunkt die Wahlforschung dominierte. Lazarsfelds Ansatz führt Wahlverhalten vor allem auf soziodemographische Merkmale zurück. Demzufolge werden politische Einstellungen und Präferenzen vorwiegend durch das soziale Umfeld und die soziale Position der Bürger determiniert. „A person thinks, politically, as he is, socially“(Lazarsfeld et al. 1968: 27).
Das Ann-Arbor-Modell rückt nicht den gesellschaftlichen Kontext, sondern vielmehr das einzelne Individuum in den Mittelpunkt. Campbell et al. erklären Wahlverhalten vor allem durch psychologische Variablen, indem sie versuchen, die Wahlentscheidung einer Person auf deren politische Einstellung und Wahrnehmung zurückzuführen. Demnach stellt der soziologische Ansatz eine „Verlagerung der Erklärung der Wahlentscheidung von gruppenbezogen-soziologischen Faktoren zu individualpsychologischen Variablen“ (Bürklin, Klein 1998: 57) dar.
Campbell et al. gehen davon aus, dass die Stimmabgabe einer Person bei der Wahl nicht nur von einem einzelnen vorherrschenden Motivationsfaktor bestimmt wird, sondern sich aus mehreren individuellen Einstellungen zusammensetzt. Wahlverhalten kann daher nur multikausal erklärt werden (vgl. Schoen/Weins 2005: 189). Die drei zentralen politischen Einstellungen im Ann-Arbor-Modell, die die Wahlentscheidung maßgeblich beeinflussen, sind die Identifikation mit einer Partei[1], die Sicht auf politische Sachfragen (Issue-Orientierung) und die Bewertung der zu Wahl stehenden Kandidaten. Ursprünglich wurden diese drei Determinanten des Wahlverhaltens in Campbell et al. Erstwerk „ The Voter decides“ als gegeben und sich nicht gegenseitig bedingend angesehen. (vgl. Campbell et al. 1971: 157-164) Diese Ansicht modifizierten sie aber in „The American Voter“ durch die Einführung des metaphorischen funnel of causality, eines Kausalitätstrichters.
Abb. 1: Kausalitätstrichter der Wahlentscheidung nach „The American Voter“ (vereinfachte Darstellung)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Quelle: Blumenstiel/Rattinger 2011: 148)
Das Bild des Trichters unterstreicht zum einen den multikausalen Charakter des Wahlverhaltens, welches durch viele verschiedene Faktoren beeinflusst wird, sich aber letztendlich nur in einer einzigen Tat am Ende des Trichters offenbart: der Wahlentscheidung. (vgl. Campbell et al. 1960: 24).
Zum anderen wird verdeutlicht, dass zwischen den im Trichter beinhalteten Faktoren von links nach rechts eine zeitliche und kausale Abfolge besteht. Demnach werden im funnel of causality auch nur diejenigen Faktoren berücksichtigt, die relevant sind für die individuelle Wahlentscheidung. Direkten Einfluss auf das Wahlverhalten haben die politischen Einstellungen, die sich unmittelbar vor der Trichtermündung befinden: Die Parteiidentifikation und Einstellungen zu Kandidaten und Sachfragen. Wenn man sich von der Mündung entfernt, trifft man auf in der Vergangenheit liegende Faktoren, die auch für die Wahlentscheidung relevant sind. Dabei sind diejenigen Faktoren von besonderer Bedeutung, die vom Individuum als politisch wahrgenommen werden (vgl. Schoen/Weins 2005: 194). Je weiter man sich in die Vergangenheit bewegt, desto mehr mögliche Einflüsse auf das Wahlverhalten müssen berücksichtig werden. Die Wahlentscheidung ist demnach ein komplexer Prozess, der sich – theoretisch – beliebig weit in die Vergangenheit zurückverfolgen lässt. Mit dieser Konstruktion des funnel of causality haben Campbell et al. neben den psychologischen Variablen (politische Einstellungen) auch den Einfluss von sozialstrukturellen Merkmalen mitberücksichtigt, welche im Ansatz von Lazarsfeld als zentrale Erklärungsgundlage dienen. Sie wirken jedoch nicht unmittelbar auf das Wahlverhalten, sondern nur indirekt über die politischen Einstellungen. Die politischen Einstellungen werden demnach nicht mehr als gegeben angesehen, sondern als Produkt der Auseinandersetzung des Individuums mit den sozialen Strukturen. Somit sind die politischen Einstellungen als intervenierende Variablen zu verstehen, die die Verbindung zwischen den sozialstrukturellen Merkmalen und der Wahlentscheidung herstellen (vgl. Blumenstiel/Rattinger 2011a: 148). Obwohl Campbell et al. vorgelagerte Faktoren wie sozialstrukturelle Merkmale in ihr Konzept miteinbeziehen, müssen diese bei der Prognose und Erklärung von individuellem Wahlverhalten nicht zwingend berücksichtig werden. Da die politischen Einstellungen aus ihnen resultieren und diese Einstellungen somit alle relevanten Einflüsse der vorgelagerten Faktoren beinhalten, ist es den Autoren zufolge ausreichend, sich nur auf die politischen Einstellungen zu konzentrieren, um das Stimmverhalten zu erklären (vgl. Campbell et al. 1960: 117-119).
Da das Modell anlässlich von Studien im Rahmen der Präsidentschaftswahlen entwickelt wurde, beziehen sich die drei politischen Einstellungen im Ursprungsmodell jeweils auf das amerikanische politische System bzw. auf die amerikanischen Wähler. Von den drei politischen Einstellungen wird der Parteiidentifikation im Ann-Arbor-Modell die größte Bedeutung zugesprochen. Als langfristige und relativ stabile Variable ist sie den beiden kurzfristen Einstellungen – Kandidatenorientierung und Sachfragen – kausal vorgelagert. Campbell et al. entwickelten das Konzept der Parteiidentifikation aus der Bezugsgruppentheorie[2]. Die Partei wird demnach als eine soziale Großgruppe angesehen, der sich eine Person zugehörig fühlen bzw. mit der sie sich identifizieren kann. Parteiidentifikation ist damit nicht gleichzusetzen mit einer formalen Parteimitgliedschaft, sondern ist als ein emotionales Zugehörigkeitsgefühl zu einer Partei –„a form of psychological membership“ (Campbell et al. 1960: 295) – zu verstehen. So können auch Nicht-Parteimitglieder sich mit einer bestimmten Partei identifizieren (vgl. Schoen/Weins 2005: 190). In die Parteiidentifikation fließen alle für das Individuum persönlich und politisch relevanten vorgelagerten Faktoren hinein. Sie ist damit „als Destillat aller Ereignisse im Leben einer Person, die ihr Verhältnis zu einer politischen Partei beeinflusst haben“ (Schoen/Weins 2005: 195) anzusehen. Gebildet wird die Identifikation mit einer Partei in den meisten Fällen schon in der Jungend; stark beeinflusst durch die politischen Ansichten des Elternhauses und durch das soziale Milieu. Campbell et al. gehen zudem davon aus, dass sich eine Person immer nur mit jeweils einer Partei identifiziert. Im Ursprungsmodell ist einer Person daher entweder Anhänger der Demokraten, Republikaner oder Unabhängiger. Diese Bindung ist von langfristiger Dauer und ändert sich nur relativ selten bzw. verschwindet selten vollkommen (vgl. Blumenstiel/ Rattinger 2011a: 148/149).
Die Kandidatenorientierung ist als Einstellung der Bürger zu den zu Wahl stehenden Kandidaten konzipiert. Dabei beeinflusst die Bewertung von sowohl persönlichen Merkmale wie Attraktivität oder Sympathie als auch von politischen Eigenschaften wie Führungsqualität und Durchsetzungskraft der – im Ursprungsmodell demokratischen und republikanischen- Kandidaten die Bildung dieser Einstellung (vgl. Roth 2008: 45/46).
Die Issue-Orientierung umfasst die Beurteilung des inhaltlichen Angebotes einer Partei und ihrer Kandidaten und wird hauptsächlich mittels der Bewertung der Parteien bzgl. Positions- und Performanzsachfragen durch die Wähler determiniert. Positionsbasierte Sachfragen sind Fragen bzw. Probleme, wie z.B. der Atomausstieg, bei denen die Antwort innerhalb der Gesellschaft umstritten ist. Performanzsachfragen hingegen sind Themen, bei denen Einigkeit über das Ziel besteht (z.B. Vollbeschäftigung), jedoch fraglich ist, wie das Ziel erreicht werden soll bzw. welche Partei die größte Lösungskompetenz besitzt (Rudi 2011: 180).
Demnach spielen sowohl innen- & außenpolitische Themen eine Rolle, als auch die Beurteilung von länger- und kurzfristigen parteilichen Unterschieden. Ebenso fließen ideologische wie auch ökonomische Gegensätze in die Bildung dieser Orientierung hinein (vgl. Roth 2008: 44). Die Einstellung zu politischen Sachfragen setzt sich demnach aus mehreren Komponenten zusammen. Campbell et al. zählen zu den kurzfristigen Einstellungen zudem noch die Beurteilung der Regierungsfähigkeit der Parteien und die Orientierung der Parteien gegenüber sozialen Gruppen. Diese „parteibezogenen Einstellungen“ bilden strenggenommen eine weitere kurzfristige Determinante. In der Literatur jedoch wird das Ann-Arbor Modell beschränkt auf die Einstellungen gegenüber Kandidaten und politischen Sachfragen dargestellt (vgl. Blumenstiel/Rattinger 2011a: 149; Schoen/Weins 2005: 197).
Neben den drei zentralen politischen Einstellungen berücksichtigen Campbell et al. noch weitere Faktoren, wie z.B. die wirtschaftliche Lage oder das Institutionengefüge, die Einfluss nehmen auf das Wahlverhalten[3] (vgl. Arzheimer 2007: 69).
Die Parteiidentifikation nimmt im Ann-Arbor-Modell eine zentrale Rolle ein, da sie in zweifacher Weise Einfluss auf das Wahlverhalten nimmt. Zum einen wirkt sie direkt auf die Stimmabgabe am Wahltag, indem sie als „standing decision“ (Key/Munger 1959: 286) für eine Partei das politische Verhalten des Bürgers beeinflusst. Eine Person, die sich mit einer bestimmten Partei identifiziert, wird diese im Normalfall auch wählen. Außerdem gehen Campbell et al. davon, dass Anhänger einer Partei überhaupt öfter zur Wahl gehen als Personen ohne eine Parteiidentifikation (vgl. Falter, Schoen, Caballero 2000: 238) Zum anderen beeinflusst sie das Wahlverhalten vermittelt über die kurzfristigen politischen Einstellungen. Die Bindung an eine Partei wirkt als Wahrnehmungsfilter, indem sie die Sicht des Bürgers auf das politische Gesehen beeinflusst. Die politische Realität wird dadurch subjektiv erfasst und die kurzfristigen Faktoren gemäß der Parteiidentifikation „eingefärbt“, so dass sich eine Einstellungskonsistenz ergibt. Dieser Kolorierungseffekt für dazu, dass Anhänger einer bestimmten Partei die Kandidaten und die Standpunkte und Lösungsvorschläge zu Sachfragen ihrer Partei -im Gegensatz zu denen der Gegnerpartei- bevorzugen. Die Parteiidentifikation ist somit ein wichtiges Hilfsmittel für die Bürger, um Informationsüberfluss und politische Komplexität zu verringern (vgl. Faas/ Mayerl 2010: 261, Schoen/Weins 2005: 196).
Wenn Kongruenz zwischen der Kandidaten-&Issue-Orientierung und der Parteiidentifikation besteht, ist die Wahrscheinlichkeit für eine Stimmabgabe im Sinne der Parteibindung sehr hoch. In diesem Fall lässt sich das Wahlverhalten mit Hilfe des Ann- Arbor-Modells relativ gut und genau sowohl prognostizieren als auch erklären. Falls kurz- und langfristige politische Einstellungen im Widerspruch zueinander stehen, lässt sich die Wahlentscheidung nicht eindeutig voraussagen. So kann Einstellungsheterogenität auch zu einem von der Parteiidentifikation abweichenden Wahlverhalten führen. Dies zeigt u.a. die Stärke des Ann-Arbor-Modells, mit dessen Hilfe das Verhalten von Wechselwählern bzw. die Nichtwahl erklärt werden kann (vgl. Gabriel, Oscar W. 2002: 236). Welche der drei Einstellungen jedoch letztendlich ausschlaggebend für die Wahlentscheidung ist, können Campbell et al. nicht allgemeingültig klären. Auf Grund der unklaren Gewichtung der drei Einflussfaktoren sind exakte Wahlprognosen, die nur auf der Determinatentrias des Ann Arbor-Modells basieren, nicht möglich (vgl. Roth 2008: 46/47).
Insgesamt ist es Campbell et al. gelungen, eine Modell zu entwickeln, mit dem sich das individuelles Wahlverhalten sowohl prognostizieren als auch erklären lässt. So sprechen nicht zuletzt die guten Erklärungsleistungen in der Empirie und die andauernde Dominanz des Modells in der Wahlforschung für das Ann-Arbor-Modell.
2.2 Die Übertragbarkeit des Ann-Arbor-Modells auf deutsche Bundestagswahlen
Da das Ann-Arbor-Model in Bezug auf das amerikanische politische System konzipiert wurde, soll hier untersucht werden, ob das Modell auch außerhalb des US-amerikanischen Kontextes anwendbar ist und sich auf ein parlamentarisches System wie das der BRD übertragen lässt[4].
Besonders über die Übertragbarkeit des Konzepts der Parteiidentifikation auf die deutschen Verhältnisse wurde in der deutschen Wahlforschung heftig diskutiert. Campbell et al. entwickelten die Variable der Parteiidentifikation mit Blick auf das relativ stabile Zweiparteiensystem der USA. So können sich Amerikaner nur mit der republikanischen bzw. demokratischen Partei identifizieren oder aber sich keiner Partei zugehörig fühlen. Das Mehrparteiensystem Deutschlands wirft Zweifel über die Übertragbarkeit auf. Jedoch lässt sich das deutsche Parteiensystem als „Zweiblocksystem“ mit SPD, Grünen und Linke als linkes Lager auf der einen Seite und CDU/CSU und FDP als bürgerliches Lager auf der anderen Seite betrachten, was die Anwendbarkeit des Parteiidentifikation-Konzepts auf Deutschland ermöglicht (vgl. Falter 1977: 482). Obwohl sich die deutsche Parteienlandschaft in den letzten Jahren zu einem fluiden 5-Parteiensystem hin entwickelt hat, was durch lagerübergreifende Koalitionen das Zweiblocksystem aufbricht, steht dies laut Blumenstiel und Rattinger einer Übertragung nicht im Wege (vgl. Blumenstiel/ Rattinger 2011: 150).
Das Herausbilden einer Parteibindung durch die elterliche Sozialisation, was die Michigan-School bei amerikanischen Bürgern postulierte, konnte in Deutschland nicht festgestellt werden (vgl. Falter 1977: 488). Zudem wurde auf Grund der nationalsozialistischen Vergangenheit befürchtet, dass die Deutschen keine starke Bindung an Parteien entwickelt hatten bzw. davor zurückschreckten. Dieser „Anti-Parteien-Haltung“ konnte jedoch mit einer, auf den deutschen Wähler modifizierten, Operationalisierung der Parteiidentifikation[5] entgegengewirkt werden, indem eine Parteibindung in der Frageformulierung als legitim dargestellt wird. So konnte Falter et al. zeigen, dass auch deutsche Bürger über eine stabile Parteiidentifikation verfügen. Diese äußert sich nicht nur in der Stimmenabgabe, sondern ist – ganz im Sinne von Campbell et al. – als eine langfristige, fest verankerte politische Einstellung zu verstehen, die auch kurzfristige politische Einstellungen zugunsten der Identifikationspartei einfärbt (vgl. Falter/Schoen/Caballero 2000: 246-265). Demnach sind auch in Deutschland Parteibindungen entsprechend dem Konzept des Ann-Arbor-Modells vorzufinden. Nach der Wiedervereinigung wurde ein Vorhandensein einer Parteiidentifikation bei ostdeutschen Bürgern in Frage gestellt, da sie erst nach der Wende mit den westdeutschen Parteien in Kontakt kamen und eine Bindung aufbauen konnten. Jedoch konnten schon nach wenigen Jahren alle Zweifel diesbezüglich widerlegt werden[6] (Blumenstiel/Rattinger 2011a: 150).
Auch die Anwendung des Konzepts der Kandidatenorientierung außerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika wurde von der Wahlforschung kritisch betrachtet. Das Regierungs-, Wahl- und Parteiensystem der USA unterscheidet sich grundlegend von dem der Bundesrepublik Deutschland. In den USA wird der Präsident direkt vom Volk gewählt, während die deutschen Bürger bei der Wahl mittels Parteilisten das Parlament bestimmen, welches dann wiederrum den Bundeskanzler ernennt. Indem es keine Direktwahl der Exekutive gibt, ist die Kandidatenorientierung in Deutschland nicht mit dem Objekt verknüpft, das bei Bundestagswahlen von den Bürgern gewählt wird (vgl. Pappi/ Shikano 2007: 26).
Ein weiteres Übertragungshindernis ist die Fokussierung der Regierung und der Parteien in den USA auf einzelne Personen. In Deutschland hingegen wird auch dem Kabinett und der Parteiführung eine tragende Rolle in der Politik zugesprochen. Um das Konzept der Kandidatenorientierung auf Deutschland übertragen zu können, muss daher eine Konzentration auf die Spitzenkandidaten für das Amt des Bundeskanzlers vollzogen werden, um ein Äquivalent für den amerikanischen Präsidentschaftskandidaten zu finden.
Generell ist daher das Konzept der Kandidatenorientierung auch auf die deutschen Bundestagswahlen anwendbar, auch wenn im personenzentrierten, präsidentiellen System die Kandidatenorientierung einen stärkeren Effekt auf die Wahlentscheidung ausübt als im parlamentarischen System (vgl. Schoen/Weins 2005: 234-235).
Da es bei der Issue-Orientierung keine konzeptionellen Übertragungsprobleme gibt, kann man insgesamt feststellen, dass das Ann-Arbor-Modell sich auf Deutschland anwenden lässt und damit als Grundlage für Analysen deutscher Bundestagswahlen zulässig ist (vgl. Schoen/Weins 2005: 241).
[...]
[1] Im Folgenden werden Parteiidentifikation, Parteibindung und Parteineigung synonym im Sinne des Parteiidentifikations-Konzeptes von Campbell et al. verwendet
[2] Für eine detaillierte Darstellung der Bezugsgruppentheorie siehe Merton 1957
[3] Da sie im Konzept von Campbell et al. nur eine Nebenrolle einnehmen, wird diesen Faktoren im Folgenden keine weitere Beachtung geschenkt.
[4] Da der Umfang dieser Arbeit eine detailliertere Untersuchung nicht zulässt, werden im Folgenden nur die wichtigsten Aspekte der Übertragungsdiskussion genannt
[5] Die Operationalisierung der Parteiidentifikation wird in Kapitel 4.1 genauer dargestellt
[6] Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Falter/Schoen/Caballero 2000