Werte und Normen in Gottfried Kellers "Romeo und Julia auf dem Dorfe"

Eine Studie des ländlichen Raums


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

26 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Verschiedene Kulturräume bieten verschiedene Norm- und Wertesysteme

3. Die Idylle als Raum des bürgerlichen Werte- und Normensystems
3.1. Normen und Werte der bürgerlichen Gesellschaft
3.1.1. Der Wert der Arbeit
3.1.2. Der Wert der Familie, soziale Beziehungen und die bürgerliche Ehe
3.1.3. Die bürgerlichen Werte: Ordnung, Sauberkeit, Sittsamkeit und Sparsamkeit

4. Vom Land zur Stadt
4.1. Dargestellte Werte und Normen der Stadtbewohner
4.1.1. Der Wert des Kapitalismus
4.1.2. Das kodifizierte Normensystem-Rechtsnormen

5. Die Natur und der wilde Acker
5.1. Naturräume als Werte und Normfreier Raum
5.2. Der Wert der natürlichen „ leidenschaftlichen Liebe“

6. Schlussbetrachtung

7. Literaturverzeichnis

Primärliteratur:

Sekundärliteratur

Lexika

Abbildung

1. Einleitung

Die Moral meines Buches ist: daßderjenige, dem es nicht gelingt, die Verhältnisse seiner Person und seiner Familie im Gleichgewicht zu erhalten, auch unbefähigt sei, im staatlichen Leben eine wirksame und ehrenvolle Stellung einzunehmen. Die Schuld kann in vielen Fällen an der Gesellschaft liegen, und alsdann wäre freilich der Stoff derjenige eines sozialistischen Tendenzbuches. Im gegebenen Falle aber liegt sie größtenteils im Charakter und dem besonderen Geschicke des Helden und bedingt hierdurch eine mehr ethische Bedeutung des Romans“ (Keller an Vieweg Berlin, 3. Mai 1850).1

Anhand dieses Zitates wird deutlich, welche Bedeutung Gottfried Keller dem Begriff des „Gleichgewichts“ innerhalb des Individuums, der Familie und letztendlich auch innerhalb der Gesellschaft, beimisst. In Kellers Novelle: , Romeo und Julia auf dem Dorfe ̓ 2, die 1856 im ersten Band der Seldwyler Erzählungen erschienen ist, gerät dieses Gleichgewicht in die Schieflage. Dies geschieht durch die Verletzung bestehender Werte und Normen und dem damit einhergehenden Identitätsverlust der Individuen, die durch ihre Handlungen aus ihrer ursprünglichen Balance geraten und deshalb zugrunde gehen.

Wenn verschiedene Normen- und Wertesysteme aufeinandertreffen, kommt es zu Konflikten. Unterschiedliche Normen- und Wertesysteme ergeben sich aus räumlichen und zeitlichen Abständen: Räumlich aus kulturellen Differenzen und zeitlich durch sich wandelnde Generationen. Keller bestätigt dies in seinem Werk, indem er nicht nur die „ äußerlichen sondern auch die fundamentalistischen, sozialen und interpersonellen Veränderungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Vorschein bringt “ (Kaumanns 1998, 21).

Die in dieser Arbeit untersuchte Novelle des Realismus zeigt, wie die meisten Novellen dieser Epoche, einen historischen Zeitraum, der einem Wandel unterliegt. In Kellers Auseinandersetzung mit dem Romeo und Julia Stoff wird eine sich „wandelnde Agrargesellschaft“ in den Zeiten der Industrialisierung dargestellt (vgl. Selbmann 2001, 59). Aufgrund der Tatsache, dass alle dargestellten Figuren einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, mit einem verfestigten Werte- und Normensystem, entstammen, kommt es zu dem tragischen Ablauf der Handlung:

[So beruht] „ Das Leben jedes Lebewesens[…] auf einer komplizierten Wechselwirkung zwischen ihm und seiner Umwelt. Ein Organismus, der unfähig wäre aufäußere Einwirkungen zu reagieren [die ihn aus dem Gleichgewicht werfen], und sich ihnen nicht anpassen könnte, wäre zum Untergang verurteilt.“ (Lotman 1972, 15).

In dieser Arbeit wird von der Annahme ausgegangen, dass die Bauern Manz und Marti, und ihre beiden Kinder Sali und Vrenchen, nicht fähig sind, die in ihrem bäuerlichen Umfeld gegebenen bürgerlichen Werte und Normen, auf andere Kulturräume zuübertragen, und an das dortige Umfeld anzupassen. Aus diesem Grund stürzen sich Sali und Vrenchen in den Doppelselbstmord, während ihre Väter den sozialen Tod erleiden.

Um dieser Annahme nachzugehen, werden in einem ersten Schritt unterschiedliche Kulturräume ausgemacht, zu denen die unterschiedlichen Personengruppen gehören. Hierbei ergeben sich drei verschiedene Kulturräume, die einander berühren: Die Idylle, die Stadt und der Naturraum (vgl. Schaubild 1).3 Diesen Räumen werden unterschiedliche „Kleinräume“ zugewiesen, die im Hinblick auf Werte und Normen einähnliches System besitzen, wie der ihnenübergeordnete „Großraum. Innerhalb dieser Kulturräume ergeben sich verschiedene Normen- und Wertesysteme, die anhand der dort herrschenden Normen und Werte untersucht werden. Somit wird davon ausgegangen, dass jeder Kulturraumüber ein eigenes Werte- und Normensystem verfügt, und räumliche Annäherungen auch zu Veränderungen innerhalb der Werte und Normen führen. Am Ende der Arbeit sollen die erworbenen Erkenntnisse auf das zu eingangs angeführte Zitat, im Hinblick auf den Begriff des „Gleichgewichts“, zusammengefasst werden und es soll versucht werden, eine Brücke zur Epoche der Frühen Moderne zu schlagen. In der gesamten Interpretation muss jedoch berücksichtigt werden, dass: „das künstlerische Modell […] immer umfassender und lebendiger [ist] als seine Interpretation, und Interpretation […] immer nur als Annäherung möglich [ist]“ (Lotmann 1972, 107) Dennoch sind literarische Texte auch „ modellbildend [da sie] spezifische Modelle der Realität entwerfen“ (Kaumanns 1998, 8). Diese Absicht hatte auch Keller indem er bereits im ersten Satz der Novelle deutlich macht, dass , Romeo und Julia auf dem Dorfe ̓ keine ,müßige Nachahmung ̓ Shakespeares darstellt, sondern auf einem , wirklichen Vorfall beruhte ̓ (S. 69). Mit diesem „Wahrhaftigkeitstopos“ stellt Keller die Wahrscheinlichkeit des literarischen Werkes in den Vordergrund und bewegt sich damit in der Tradition des Realismus.

2. Verschiedene Kulturräume bieten verschiedene Norm- und Wertesysteme

Individuen und Gesellschaften definieren und begründen sichüber ihr gemeinsames Werte- und Normensystem. Normen und Werte sind identitätsstiftend und bildend (vgl. Turk 1996, 15). Auch wenn in dieser Arbeit oftmals synonym gebraucht, existieren Unterschiede zwischen Werten und Normen. So lassen sich lediglich die „sozialen Normen“ als Werte bezeichnen (vgl. Henecka 2015, 82). Diese stellen den Hauptgegenstand dieser Arbeit. Rechtsnormen werden marginal im Kapitel „ kodifiziertes Normensystem-Rechtsnormen“ behandelt, da lediglich deren Bedeutung innerhalb der untersuchten Novelle Beachtung findet.

In der Soziologie existieren zwei verschiedene Modelle, welche sich mit den Eigenschaften menschlicher Gesellschaften, ihrem Wandel und den damit verbundenen Konfliktfeldern, befassen: zum einen das Modell Ralf Dahrendorfs: „Zwangstheorie der gesellschaftlichen Integration“ und das Modell der „Consensus -Theorie4 von Talcott Parsons. Erstaunlicherweise lassen sich innerhalb der Novelle beide Theoriestränge ausmachen, die jeweils ein anderes Gesellschaftsmodell erklären und damit in dieser Arbeit auch die verschiedenen Kulturräume. So ist der Stillstand innerhalb der Idylle mit Parsons Theorie erklärbar, während Dahrendorf die Dynamiken erläutert, mithilfe derer es zu Veränderungen innerhalb der Kulturräume und ihren Personen kommt. Ersterer kritisiert die Theorie Parsons als „utopisches soziales System“ und behauptet, Parsons Modell [wäre] eher [ein] programmatischer [Entwurf und nicht] realistisch (vgl. Henecka 2015, 171). Dieses unrealistische Abbild findet sich auch in der idyllischen Naturbeschreibung, die zu anfangs beschrieben wird und sich mit dem Verlauf der Handlung als träumerische Illusion entpuppt (S. 69f). Wandel steht immer im Zusammenhang von Bewegung und Dynamik (vgl. Schaubild 1). Stillstand bedeutet nach Lotmann Bewegung nach unten oder Tod (vgl. Lotmann.1972, 318).5

Bettina Wild (2011) führt an, dass „die geografischen Räume der Literatur des ländlichen Raums [immer zugleich auch] „als soziale Topoi konnotiert“ [sind] (Wild 2011, 138). Geografische und soziale Räume stehen damit zueinander in Beziehung und bedingen sich gegenseitig. Ralf Kaumanns (1998) macht diese wechselseitige Abhängigkeit noch deutlicher: „Die sozioökonomische Veränderung manifestiert sich vornehmlich als Prozeßvon statten gehender Raumtransformation“ (Kaumanns 1998, 152)6. Räume und deren Grenzen spielen in Kellers Novelle eine entscheidende Rolle im Zusammenhang mit der Veränderung von bestehenden Werten und Normen. Dynamik und damit Bewegung stellt hierbei den entscheidenden Faktor, durch den es zu Veränderungen kommt. Lotman (1972) definiert Raum folgendermaßen: „ die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u. dgl.), zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen gleichen (Ununterbrochenheit, Abstand u. dgl.) (Lotman 1972, 312).

Räumliche Relationen stellen ein wesentliches Mittel dar, um die Wirklichkeit zu deuten. Hierbei sind Oppositionspaare7 wie nah-fern, offen-geschlossen, rechts-links, hoch-niedrig, abgegrenzt- nicht abgegrenzt notwendig, um Kulturmodelle darzustellen, die nicht nur räumlichen Inhalt besitzen. Hinzu kommen Bewertungen und Bedeutungen, die sich ebenfalls einander gegenüber stehen: wertvoll-wertlos, eigen-fremd, zugänglich-unzugänglich und auch sozial integriert und sozial nichtintegriert (vgl. Schaubild 2). Um verschiedene Werte- und Normensysteme ausmachen zu können, sind Oppositionspaare, wie sie in der Novelle von Keller kontrastiv eingesetzt werden, unabdingbar. So sind die politischen, sozialen, religiösen und ethischen Modelle der Welt permanent auch mit räumlichen Modellen ausgestattet, mithilfe derer der Mensch seine Umwelt deutet. Aus diesem Grund erhalten auch die räumlichen Informationen, die in der Novelle zu finden sind, Rückschlüsse auf das innerhalb des Textes dargestellte Kulturmodell mit seinen Werten und Normen und auch auf die herrschenden Relationen innerhalb dieses Modells (vgl. Lotman 1972, 313). Das räumliche Modell wird demnach zum organisierenden Element[…], um das herum sich auch die nichträumlichen Charakteristiken ordnen [lassen] (Lotman 1972, 316).

Die Bewegung der Personen ist ein wesentlicher Faktor, der innerhalb verschiedenartiger Räume zu berücksichtigen ist. Der alltägliche Lebensraum kennzeichnet hierbei den unbewegten Raum. Oberhalb und unterhalb dieses „ Alltagsraums “ ist Bewegung möglich. Findet eine Bewegung statt, dann bedeutet sie zugleich „ Verwandlung“, während die rein mechanische Ortsveränderung unveränderter Körper im Raum nach Lotman als „ Unbeweglichkeit“ definiert wird (vgl. Lotman 1972, 319). Anhand von Oppositionspaaren und Raumbeschreibungen werden die Räume Idylle, Stadt und Natur voneinander abgegrenzt und hinsichtlich ihrer Normen und Werte untersucht.

3. Die Idylle als Raum des bürgerlichen Werte- und Normensystems

Zu Beginn der Novelle hebt der Erzähler das Ruhende, Geordnete, hervor, das sich auch in der Beschreibung der beiden Bauern Manz und Marti wiederspiegelt (S. 69f.) Die beiden Bauern werden im Plural8 als vorbildliche Vertreter der bürgerlich-bäuerlichen Gesellschaft vorgestellt. Sie gehören „ zu den besten Bauern des Dorfes“ (S. 78) und stellen die „ursprüngliche Art dieser Gegend dar“ (S. 70). Der Leser betrachtet in der Eingangsszene den Ausschnitt einer „ kleinen runden Welt“ (S. 69f), die idyllisch und wohlgeordnet zu sein scheint. Der dargestellte Raum entspricht der vorindustriellen Idylle (vgl. Wild 2011, 74). So wird vom Erzähler zunächst aus der Vogelperspektive der Fluss und die fruchtbare Ebene im Präsens beschrieben, was deren Unabänderlichkeit bestätigt. Der Beginn der Geschichte wechselt anschließend abrupt vom Präsens ins Präteritum (S. 69)9, was die „ Verwandlung“ [mit Lotmans Worten] (Lotman 1972, 319) kenntlich macht und den Schein, der vorgeführt wird, unterstreicht (vgl. Koebner 1990, 221). Hahn bezeichnet dies als „ Kellers Spiel mit den Begriffen von Illusion und Wirklichkeit, welche Sein und Schein stets ineinanderübergehen lassen […] (Hahn 2011, 274). Dieser Schein bestätigt sich auch an der Kleidung der in einsüberführten Bauern, die sich einander vollkommen gl[e]ichen (70) und deren Kniehosen wie in Stein gemeißelt aus[sah]sehen (69), die Hosen sind also nicht real in Stein gemeißelt, sondern erscheinen nur dergleichen. Der Leser wird hier bereits zu einem näheren Hinschauen der tatsächlichen Gegebenheiten motiviert. Die Hosen besitzen zudem eine „ unveränderliche Lage“ (S. 69).. Die Räume, in denen sich die Bauern bewegen, sind gleich, aber von einem zwischen ihnen liegenden Acker getrennt, der einen Abstand zwischen ihnen markiert. Sie befinden sich auf einer , Höhe̕ (S. 70), auf welcher sie organisch ihre Pflüge aneinander vorbei ziehen lassen. Honold (2004) bemerkt die „ symetrisch angelete[n] Kurven von Aufstieg und Niedergang“ (Honold 2004, 459), die das Leben der Bauern, die sich im Gleichgewicht befinden, zu spiegeln scheinen. Auch Menninghaus (1982) erwähnt die Auf- und Ab- Bewegungen, die innerhalb der Idylle stattfinden, erweitert diese aber um die Komponente der Bedrohung, die innerhalb der Idylle angelegt ist (Menninghaus 1982, 216).

3.1. Normen und Werte der bürgerlichen Gesellschaft

Vornehmlich geht es in der Novelle um die Bewahrung der gegebenen Ordnung, die innerhalb der Idylle zu herrschen scheint, trotz oder gerade weil die Welt sich im Wandel befindet, aber nicht veränderbar ist. Die dargestellte Welt ist „ eine der festen Normen“, [innerhalb derer die] geltenden Normen als ahistorisch gesetzt, die Individuen von diesen dominiert und zudem für normabweichendes Verhalten sanktioniert… [werden]“ (Zeisberger 2013, 115). So geht es schlussendlich auch um die Erhaltung nicht mehr legitimierbarer Normen. Das Individuum steht zwar im Mittelpunkt, aber eben nicht als Individuum, sondern als Teil eines Kollektivs; hierbei geht es vornehmlich um die Konsolidierung der bestehenden Werte und der Moral.

Primär führen die Texte die bürgerliche Heranbildung eines Individuums vor, das sich zwischen Normeinhaltung und Normbruch befindet: Entweder es integriert sich, oder es wird desillusioniert bzw. bestraft. Das Ziel ist also die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse zu stabilisieren.“ (ebd.)

Schwierig ist hierbei, dass im Literatursystem des Realismus von einer „Konstanz der Person“ ausgegangen wird. Diese schließt aber jene Autonomie, wie sie sich in der Goethezeit herausbildete, von vorneherein aus. (vgl. ebd. ). So operiert der Text durchgehend mit dem Mittel der Opposition, um die Grenzen zwischen „positiv“ und „negativ“ für den Leser durchweg aufzuzeigen. So sind es die positiven Figuren, die das vom Literatursystem des Realismus entwickelte Konzept des „Männliche[n]“ völlig in sich aufgenommen haben. Hierzu gehört sich auf das internalisierte Werte- und Normensystem zu berufen und daran festzuhalten, um die bestehende Ordnung aufrecht zu erhalten. Die positiven Personen sind geprägt von Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung (Selbstbewusstsein) und ertragen stoisch jegliche Hindernisse und Verlusterfahrungen (vgl. Zeisberger 2013, 115). Basierend auf diesen und weiteren Aspekten kommt Kaumanns (1998) in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass Keller bezogen auf sein gesamtes Werk ein Verhaltensmodell propagiert, welches sich auf der Basis des durch Kaumanns analysierten Werte- und Normensystems ergibt: „ mit dessen Hilfe sich die Werte und Normen einordnen und interpretieren lassen. Dieses Verhaltensmodell stellt die Grundlage des Werte und Normensystems dar“ (Kaumanns 1998, 9). Letztendlich ergibt sich aufgrund der Untersuchung des Germanisten und Medienwissenschaftlers ein „stoisch-asketisches Verhaltensmodell abgerundet durch ein affektives Sinnangebot. Dieses Verhaltensmodell entspricht [nach der Auffassung Kaumanns] Kellers Begriff des Gleichgewichts, welches es zu erstreben gilt“ (Kaumanns 1998, 175). Dieses Verhaltensmodell sei demzufolge identisch mit dem „Gleichgewichts-Begriff“ Gottfried Kellers (vgl. Kaumanns 1998, 176).10

3.1.1. Der Wert der Arbeit

Auf inhaltlicher und praktischer Ebene trennt sich im 19. Jahrhundert der Wirtschafts- vom Arbeits- und Sozialbegriff. Die Erkenntnis kam auf, „daßdie kapitalistische Wirtschafts- und Politpraxis darüber hinaus „alle [n ] Organismus der Arbeit…zerstört“ wie er bis dato funktioniert hat. (vgl. Weser-Bissè 2007, 154). Das Problem, dass sich hierbei ergibt, ist, dass die Arbeit ein wesentlicher Faktor der Identität des bürgerlich-bäuerlichen Menschen bis zum Zeitpunkt der Industrialisierung darstellte. Die Zerstörung der identitätsstiftenden Arbeit geht mit einer Identitätssuche einher, und falls diese nicht gefunden wird, mit einem Scheitern. Der Mensch muss sich aber auch im Arbeitsleben an Werten und Normen orientieren und diese einhalten: „ Die Entwicklungsgeschichte des Menschen ist die Geschichte seiner Arbeit, diese muss aber ethischen Ansprüchen Genüge leisten.“ (vgl. Weser-Bissé 2007, 168).

[...]


1 Das Zitat stammt aus dem Briefwechsel Kellers mit dem Verleger Eduard Vierweg und bezieht sich auf den Bildungsroman „ der Grüne Heinrich“. Vornehmlich geht es in dem Briefwechsel um einen Kampf zwischen Keller und Vierweg um „Manuskript, Revisionsbogen, Herausgabe, Honorar und um den Verlag der „Neueren Gedichte…“ (vgl. Keller 1953, 9f.)

2 Zitiert wird der Text im weiteren Verlauf aufgrund des besseren Leseflusses lediglich durch die Seitenzahl (S. Zahl), der Ausgabe: Keller, Gottfried (1989): Die Leute von Seldwyla. Hrsg. von Thomas Böning. Frankfurt am Main.

3 Bettina Wild (2011) teilt die unterschiedlichen Räume in Kulturräume, bearbeitete/befriedete Naturräume und in Naturräume ein. Den Kulturräumen wird zudem ein Innen-und Außenraum zugeordnet. Nach diesem Schema würde in dieser Arbeit die Stadt und das Dorf dem Kulturraum, die Äcker dem bearbeiten Naturraum und der Wald bzw. alles außerhalb der beiden erstgenannten dem Naturraum zufallen. Da dies jedoch undienlich im Zusammenhang der Thematik dieser Arbeit erscheint wurde diese Kategorisierung nichtübernommen (vgl. Wild 2011, S. 136ff., 348).

4 Parsens geht von vier Annahmen aus: „ Annahme der Stabilität“ (Gesellschaft als stabiles, starres Gefüge), „ Annahme des Gleichgewichts“ (jede Gesellschaft ist ein gleichgewichtiges Gefüge von Elementen), „ Annahme der Funktionalität“ (jedes Element in der Gesellschaft liefert Beiträge zu deren Funktionalität) und letztendlich die „ Annahme des normativen Konsensus “ (jede Gesellschaft verständigt sichüber bestimmte gemeinsame Werte) Dahrendorf entwickelt hierzu ein gegensätzliches Modell, welches den Wandel und damit die Dynamik von Gesellschaften aufzeigt. Hierbei geht er wie Parsons von vier Annahmen aus: „Annahme der Geschichtlichkeit“ (jede Gesellschaft unterliegt zu jeder Zeit einem Wandel ), „Annahme der Explosivität (jede Gesellschaft ist ein in sich widersprüchliches und exklusives Gefüge von Elementen), „Annahme der Dysfunktionalität oder Produktivität“ (jedes Element in einer Gesellschaft leistet einen Beitrag zur Veränderung) und „ Annahme des Zwangs“ (Jede Gesellschaft erhält sich mithilfe des Zwangs, den einige ihrer Mitgliederüber andere ausüben) (vgl. Henecka 2015, 171).

5 Der Tod ist nach Lotman beispielsweise ein Erstarren von Bewegung. Das Aufhören von Bewegung wird gleichgesetzt mit Bewegung nach unten (Lotman 1972, 318).

6 Ähnlich klingt die Theorie, dass ein Raumwechsel zugleich auch einen sozialen Wechsel signalisiert bei Bettina Wild (2011) an: „… wobei der Wechsel von einem Raum zum anderen sowohl in psychischer wie auch in sozialer Hinsicht einen Wandel signalisiert.“ (Wild 2011, 144).

7 Im Rahmen dieser Arbeit kann jedoch keine genaue Studie der Oppositionspaare stattfinden, da dies den Rahmen sprengen würde. Um das Normen- und Wertesystem der verschiedenen Kulturräume exakt ausmachen zu können, wäre eine dahingehende Untersuchung mit Sicherheit gewinnbringend. Interessante Oppositionspaare sind: Innen vs. Außen, Eigen vs. Fremd, Konstant vs. Inkonstant, Nah vs. Fern etc.

8 Manz und Marti werden von Keller nicht als Individuen gestaltet, sondern erscheinen von Beginn an im Kollektiv. Man erfährt lediglich ihre kollektiven Nachnamen, aber nicht die individuelleren Vornamen. Unterstützend wirkt hierbei die Alliteration in Manz und Marti, die beide zu Repräsentanten des bäuerlich-bürgerlichen Standes werden lässt. Zusätzlich kommt den beiden Bauern dadurch eine Exempelfunktion zu. In der Forschung ist man sich in diesen Punkten weitgehend einig (vgl. Becker 2003, 297f., Uerlings 2007, 168, Honold 2004, 465). Stocker (2007) führt an, dass zu bedenken sei, dass es sich bei dem einzigen Unterscheidungsmerkmal der Bauern um ein „ kontextabhängiges Merkmal “ der Windrichtung handelt (Stocker 2007, 69f.): „sie glichen einander vollkommen und unterscheiden sich nur durch die Richtung ihrer Zipfelmützen (S. 70) (vorne bzw. hinten). Für diese Arbeit ist hierbei von Interesse, dass die Bedingungen für den Wechsel der „Zipfelmützen“ von außen an die Bauern durch die Richtung des Windes an die Bauern herangetragen werden und diese sich nicht aktiv gegen diesen Vorgang wehren können. Honold (2004) sieht dies bereits als ersten Hinweis zum Verlust des Gleichgewichts (vgl. Honold 2004, 465).

9Fern an ihrem Fuße liegt ein Dorf, welches manche große Bauernhöfe enthält, undüber die sanfte Anhöhe lagen vor Jahren drei prächtige lange Äcker weithingestreckt… (S. 69). Eine Verstärkung des Zeitenwechsels entsteht zudem dadurch, dass das gleiche Verb „liegen“ verwendet wird.

10 Das Verhaltensmodell Kaumanns kann nur im Zusammenhang des Kapitels: der Wert der leidenschaftlichen Liebe in dieser Arbeit betrachtet werden. Eine eindeutige Untersuchung ist jedoch nicht möglich, bietet sich aber für weitere Arbeiten mit dem Themenschwerpunkt „Verhaltensmodelle in Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe“ durchaus an.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Werte und Normen in Gottfried Kellers "Romeo und Julia auf dem Dorfe"
Untertitel
Eine Studie des ländlichen Raums
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Germanistisches Seminar)
Note
1,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
26
Katalognummer
V426409
ISBN (eBook)
9783668731509
ISBN (Buch)
9783668731516
Dateigröße
717 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Realismus, Gottfried Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, Werte und Normen, Milieustudie
Arbeit zitieren
Marie-Christin Agyeman (Autor:in), 2014, Werte und Normen in Gottfried Kellers "Romeo und Julia auf dem Dorfe", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/426409

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