Die Zahl an Scheidungen nimmt in Deutschland kontinuierlich zu. Die Leidtragenden sind dabei oftmals die gemeinsamen Kinder. Gerade in Kindertagesstätten kommen heutzutage immer mehr Scheidungskinder zusammen.
Doch wie können Erzieherinnen und Erzieher die Kinder unterstützen? Hat die Trennung der Eltern auch Auswirkungen auf die spätere Entwicklung und Verhaltensweisen des Kindes? Christian Kunz erklärt in seiner Publikation, wieso die Scheidungszahlen so stark zunehmen und welchen Einfluss die Gesellschaft darauf hat.
Dabei beleuchtet er nicht nur die rechtlichen Rahmenbedingungen einer Scheidung, sondern geht auch auf die gesetzlichen Vorgaben zum Umgang mit den gemeinsamen Kindern ein. Kunz zeigt, welche Auswirkungen eine Scheidung auf die kindliche Entwicklung haben kann. Im Fokus steht hier auch, welche Form der Betreuung die Kinder am besten unterstützt.
Aus dem Inhalt:
- Scheidung;
- Kindliche Entwicklung;
- Familie;
- Resilienzforschung;
- Betreuungsmodelle
Inhaltsverzeichnis
Danksagung
1 Einleitung
2 Die Paarbeziehung und die Familie im zeitlichen Wandel
2.1 Die Entstehung der modernen Kleinfamilie als Normaltypus der Moderne
2.2 Die Familie seit der „Risikogesellschaft“
2.3 Bedeutungswandel von Familie, Partnerschaft und Kinder
2.4 Bedeutungswandel von Ehescheidungen – Forschung früher und heute
2.5 Der Scheidungsprozess
2.6 Zwischenfazit
3 Rechtliche Rahmenbedingungen
3.1 Die Entwicklung des Ehe- und Scheidungsrecht
3.2 Elterliche Sorge bei Getrenntlebenden
3.3 Betreuungsmodelle
3.4 Zwischenfazit
4 Scheidung als kritisches Lebensereignis
4.1 Stresstheoretische Perspektive
4.2 Entwicklungstheoretische Perspektive
4.3 Zwischenfazit
5 Folgen der elterlichen Trennung für die Kinder
5.1 Kindliche Charakteristika
5.2 Familiale Charakteristika und externe Faktoren
5.3 Scheidung als Chance?
5.4 Zwischenfazit
6 Theoretische Bezüge
6.1 Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung nach Erik H.: Erikson
6.2 Erklärungsgehalt des theoretischen Bezugs
6.3 Resilienzforschung
6.4 Konzept der Lebensbewältigung nach Lothar Böhnisch
6.5 Lebensweltorientierte Soziale Arbeit nach Hans Thiersch
6.6 Zwischenfazit
7 Auswirkungen und Relevanz für die Soziale Arbeit
7.1 Kindertagesbetreuung
7.2 Beratung
7.3 Zentrale Aspekte und Maßnahmen
7.4 Zwischenfazit
8 Zusammenfassung und Fazit
Literaturverzeichnis
Danksagung
Zunächst möchte ich an dieser Stelle all jenen danken, die durch ihre Unterstützung und Motivation zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben.
Vor allem danke ich meiner Kommilitonin Katja Morneweg, die einen sehr großen Anteil daran hat, dass das Studium für mich ein Erfolg wurde. Durch ihre emotionale Unterstützung, nicht nur während der Bearbeitung der Thematik dieser Arbeit und durch den fachlichen Austausch mit ihr, hat sie maßgenblichen Anteil daran, dass ich mich in den vergangenen vier Jahren in meiner (professionellen) Persönlichkeit weiterentwickeln konnte.
Weiterhin gilt mein Dank meinen Korrekturleser_innen Bernhard Klein, Kathrin Klaß, Patricia Surges und Patrick Werth für ihre Arbeit und ihre kritischen sowie hilfreichen Anregungen.
Des Weiteren danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen der Kindertagesstätte St. Valerius dafür, dass sie mich zu jeder Zeit des Studiums, insbesondere während der Anfertigung dieser Arbeit unterstützen.
Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern, die mir nicht nur während des Studiums immer wieder Motivation gaben, sondern mich auch in der Vergangenheit bei all meinen Entscheidungen unterstützten und damit wesentlich dazu beigetragen haben, dass ich werden konnte, wer ich bin.
Nicht zuletzt gebührt meinen Freund_innen Christian Görgen, Katharina Schmell, Kerstin Lippert, Madlaine Louis, Magdalena Frank, Manuela Berna, Marah Steier, Mariam Hammoud und Tom Sessa Dank, die mich während der vergangenen vier Jahre stets unterstützten sowie motivierten, mit denen ich neu erworbenes Wissen teilen konnte und die bei der Erstellung diverser Hausarbeiten durch ihren fachlichen Austausch meine Gedanken vorantrieben.
1 Einleitung
„Trennungen sind in unserer Gegenwartsgesellschaft zu ubiquitären Erfahrungen geworden. Dass mit dem ersten Beziehungspartner bzw. mit der ersten Beziehungspartnerin … eine lebenslange Ehe eingegangen wird, ist inzwischen zum Ausnahmefall geworden“ (Lenz 2013: 351).
Wie aus diesem Zitat bereits herauszulesen ist und wie die Scheidungszahlen der Bundesrepublik Deutschland offenbaren, nahm der Anteil an Eheauflösungen seit den 1950er-Jahren mehr oder weniger kontinuierlich zu (vgl. Walper 2011: 6). So legt der Datenreport 2016 der Bundeszentrale für politische Bildung dar, dass sich die Zahl der Ehen, welche gerichtlich geschieden wurden, im Jahr 2014 auf insgesamt 166 200 belief und somit nahezu jede dritte Ehe aufgelöst wurde. Zwar sank die Gesamtzahl an Ehescheidungen im Gegensatz zum Vorjahr um zwei Prozent, dennoch kann davon ausgegangen werden, dass bei gleichbleibenden Scheidungsverhältnissen rund 35 Prozent aller geschlossenen Ehen eines Jahres im Laufe der folgenden 25 Jahre wieder aufgelöst werden (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2016: 50). Diese Statistik erfasst jedoch noch nicht die Trennungen von nichtehelichen Partnerschaften, die in den vergangenen Jahren bezogen auf ihre Zahl immer weiter an Bedeutung gewonnen haben (vgl. Walper/Langmeyer 2014: 159 f.). Während die Anzahl an traditionellen Familien (Ehepaar mit Kindern) im Zeitraum von 2004 und 2014 um 17 Prozent gesunken ist, erhöhte sich die Zahl alternativer Familienformen (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2016: 51 f.).
Der Anstieg der Ehescheidungen ist laut Nave-Herz jedoch nicht die Folge des Verlustes der ehelichen Bedeutung (vgl. Nave-Herz 2015: 136). Denn
„nicht die Zuschreibung von ‚Sinn‘losigkeit von Ehen hat das Ehescheidungsrisiko erhöht und lässt Ehepartner den Eheentschluss eher revidieren, vielmehr ist der Anstieg der Ehescheidungen Folge gerade ihrer hohen psychischen Bedeutung und Wichtigkeit für den einzelnen, so dass die Partner unharmonische eheliche Beziehungen heute weniger als früher ertragen können und sie deshalb ihre Ehe schneller auflösen“ (Nave-Herz 2015: 136).
Dieser Anstieg der Ansprüche an die Qualität der Paarbeziehung macht einerseits deutlich, dass sie innerhalb der Ehe von zentraler Bedeutung geworden ist, andererseits der institutionelle Charakter der Ehe an sich abgenommen hat (vgl. Nave-Herz 2013: 173).
Im Gegensatz zur Paarbeziehung lässt sich hingegen die Beziehung zu den Kindern nicht aufkündigen, da diese in biologischer Abhängigkeit zu ihren Eltern stehen. Ihnen kommt, wie Beck darlegt, hingegen sogar eine besondere Bedeutung zu (vgl. Beck 2016: 193). Obwohl sie aufgrund der Kosten und Arbeit, welche sie verursachen, als Barriere im Individualisierungsprozess angesehen werden können, in dem Lebenspartner_innen kommen und gehen, wird das Kind zur „ letzten verbliebenen, unaufkündbaren, unaustauschbaren Primärbeziehung “ (Beck 2016: 193).
Daran wird deutlich, dass neben den beiden verheirateten Personen von einer Scheidung und der damit verbundenen Trennung häufig auch deren gemeinsame minderjährige Kinder betroffen sind. So hatte ungefähr die Hälfte aller 166 200 im Jahre 2014 geschiedenen Paare Kinder, welche das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. Somit erlebten insgesamt etwa 134 800 minderjährige Kinder die Auflösung der Ehe ihrer Eltern. Zwar waren dies 0,4 Prozent weniger als noch zehn Jahre vorher, allerdings nahm auch die Gesamtzahl an Ehescheidungen ab, sodass bezogen auf 1000 Scheidungen im Jahre 2014 (811 Kinder) mehr Minderjährige als noch 2003 (796 Kinder) betroffen waren (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2016: 50).
Auch in der Kindertagesstätte, in welcher ich tätig bin, ist in den vergangenen Jahren eine Zunahme der Scheidungskinder spürbar wahrzunehmen. Neben den rechtlichen Problematiken, welche auch Einfluss auf das Geschehen in der Einrichtung nehmen, sind die in der Institution tätigen Fachkräfte immer häufiger auch in elterliche Konflikte eingebunden. Darüber hinaus war die Frage nach förderlichen Bedingungen für kindliche Bewältigung bereits mehrfach Diskussionsgrundlage von Teamgesprächen. Da „die öffentliche Rhetorik zwischen Dramatisierung und Entwarnung schwankt“ (Walper/Fichtner 2013: 91), konnte ich diese Frage bisher nicht vollständig für mich beantworten.
Während einerseits auf die Möglichkeiten einer positiven Entwicklung und die Resilienz der Kinder verwiesen wird, sprechen andere Studien von Folgen, welche belastend auf die betroffenen Scheidungskinder wirken. Obwohl diese unterschiedlichen Befunde verwirrend erscheinen, heben sie jedoch eine zentrale Feststellung der Scheidungsforschung hervor: Die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen, des Verlaufes der Bewältigung und der Vorgeschichte sind sehr stark vom jeweiligen Einzelfall abhängig, sodass die kindlichen Reaktionen auf das Scheidungsereignis deutlich variieren können. Dies liegt unter anderem auch daran, dass die Palette an Faktoren, welche von einflussreicher Bedeutung sind, sehr breit ist (vgl. Walper/Fichtner 2013: 91).
Diese Ausführungen deuten darauf hin, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Trennung der Eltern und späteren Entwicklungsproblematiken sowie abweichenden und auffälligen Verhaltensweisen gesehen werden kann, wie es nach dem sogenannten ‚Broken-Home‘-Ansatz gemacht wird (vgl. Sünderhauf 2013: 212). „Die meisten Kinder durchleben [allerdings] die Scheidung ihrer Eltern ohne psychische Beeinträchtigungen“ (Sünderhauf 2013: 224). So ermittelten Hetherington und Kelly in einer Untersuchung, dass bei etwa einem Viertel der Scheidungskinder nach der Scheidung Probleme im sozialen und emotionalen Bereich sowie hinsichtlich des Verhaltens auftreten, mit denen die jungen Menschen zu kämpfen haben. Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss, dass etwa 75 Prozent der Scheidungskinder die Trennung und Scheidung ihrer Eltern ohne schwerwiegende Folgen überstehen (vgl. Hetherington/Kelly 2003: 204).
Fragestellung
Aus diesem Grund soll im Rahmen dieser Arbeit der Fragestellung „Welche Entwicklungs- und Bewältigungsaufgaben haben Kinder im Alter von 0 bis 6 Jahren in Folge der Trennung ihrer Eltern?“ nachgegangen werden.
Diesbezüglich geht es darum, Folgendes herauszuarbeiten und darzustellen:
- Die Bedingungen, welche in den letzten Jahrzehnten zur Zunahme der Scheidungszahlen führten und die Bewertung der Thematik Trennung und Scheidung in der gegenwärtigen Gesellschaft
- Den Einfluss der Betreuungsform nach der elterlichen Beziehungsauflösung auf die Trennungsbewältigung sowie auf die kindliche Entwicklung
- Die Folgen der elterlichen Trennung für die kindliche Entwicklung
- Die Faktoren, von welchen die langfristigen Reaktionen der Kinder abhängen und die Voraussetzungen, unter denen eine Trennungsbewältigung gelingen kann
- Die Rolle der Sozialen Arbeit und wie diese die Bewältigung der Kinder unterstützen kann
Aufbau der Arbeit
Im zweiten Kapitel dieser Arbeit wird die Entwicklung der Familie und der damit verbundene Bedeutungswandel von Partnerschaft und Kindern beschrieben werden. Zudem erfolgt die Darstellung der veränderten Sichtweise von Trennung und Scheidung, um hieran anknüpfend auf den aus heutiger Sichtweise durch die Trennung gegebenen Entwicklungsprozess der Familie einzugehen.
Anknüpfend an diesen gesellschaftlichen Wandel wird im dritten Kapitel der Fokus auf den rechtlichen Rahmenbedingungen liegen, welche sich ebenfalls in den letzten Jahrzehnten veränderten und weiter entwickelten. Neben dieser Entwicklungen des Ehe- und Scheidungsrecht wird hier zum einen der Fokus auf dem aktuellen rechtlichen Rahmen hinsichtlich der elterlichen Sorge bei Getrenntlebenden liegen, zum anderen die Thematik der Kinderbetreuung infolge von Trennung und Scheidung diskutiert.
Im Anschluss daran wird in Kapitel vier erläutert, warum es aufgrund der in den ersten Kapiteln dargestellten veränderten Sichtweise sinnvoll erscheint, hinsichtlich der elterlichen Trennung und Scheidung von einem kritischen Lebensereignis zu sprechen. Dabei wird sowohl auf die stresstheoretische, als auch auf die entwicklungstheoretische Perspektive eingegangen.
Insbesondere aufgrund letzterer Perspektive, durch die aufgezeigt wird, dass die Folgen kritischer Lebensereignisse maßgeblich von der Bewältigung der belastenden Situation abhängen, erfolgt im fünften Kapitel die Erläuterung unterschiedlicher Faktoren, welche die kindliche Bewältigung der elterlichen Trennung beeinflussen.
In den folgenden beiden Kapiteln liegt der Fokus dann auf der Rolle der Sozialen Arbeit. Während das sechste Kapitel der Darstellung theoretischer Bezüge dient, wird im siebten konkret auf die Bedeutung der Thematik für die Soziale Arbeit eingegangen.
Im abschließenden achten Kapitel werden zentrale Ergebnisse dieser Arbeit zusammenfassend dargelegt.
Trennung oder Scheidung: Eine kurze Begriffsbestimmung
Obwohl die Ehe laut Lenz aufgrund der Pluralisierung der Beziehungsformen einen Verlust ihres Monopols erfahren habe, wird weiterhin im wissenschaftlichen Kontext von Scheidungsforschung gesprochen. Eine Scheidung setzt aber immer eine im Vorfeld geschlossene Ehe voraus.
„Die rückläufige Heiratshäufigkeit und das steigende Heiratsalter haben aber zur Folge, dass es eine wachsende Anzahl von Zweierbeziehungen gibt, die keine Ehen sind und auch in Zukunft nicht zu Ehen werden. Ebenso bleibt dabei unberücksichtigt, dass für die Beziehungspersonen die konkreten Schritte der Auflösung einer bestehenden Beziehung als krisenhaft erlebt werden und meist nicht die – erst vielfach nach Jahren – nachgeholte Scheidung“ (Lenz 2013: 354).
Trotzdem wird auch weiterhin die Begrifflichkeit ‚Scheidungsforschung‘ verwendet. Dies liegt vor allem daran, dass als Hauptquelle der Forschung die amtliche Statistik fungiert und diese lediglich Angaben zur Scheidung bereithalte.
„Scheidung ist [jedoch] lediglich ein staatlich verordneter Akt, der im Regelfall eine bereits vollzogene Beziehungsauflösung besiegelt. Sie ist ein singuläres Ereignis in einem länger gestreckten Trennungsprozess. … Um den Fokus zu weiten, wäre es angemessener, diesen Forschungszweig nicht als Scheidungsforschung, sondern als Trennungsforschung zu bezeichnen“ (Lenz 2013: 355).
Bei einer Vielzahl der auftretenden Folgen bestehe gewissermaßen eine kausale Verknüpfung zur Auflösung der Beziehung, jedoch nicht zum Scheidungsereignis. Deshalb sei es laut Lenz unabdingbar eine strikte Differenzierung zwischen Trennung und Scheidung vorzunehmen (vgl. insgesamt Lenz 2013: 354 f.). Aus diesem Grund werden in der folgenden Arbeit nach Möglichkeit die Begrifflichkeiten ‚Trennung‘ oder ‚Trennung und Scheidung‘ verwendet. Da jedoch auch Ergebnisse der Scheidungsforschung in die Arbeit einfließen, wird an dieser Stelle darauf verwiesen, dass diese Begriffsverwendung nicht durchgängig erfolgen kann und an manchen Stellen von ‚Scheidung‘ gesprochen werden muss.
2 Die Paarbeziehung und die Familie im zeitlichen Wandel
Seit etwa 40 Jahren ist in der Bundesrepublik Deutschland eine ansteigende Pluralisierung der Lebensformen zu beobachten, welche die Zunahme des Anteils an nichtehelichen Lebensgemeinschaften, alleinlebenden Personen und anderen nichtkonventionellen Lebensformen deutlich machen (vgl. Peuckert 2012: 11). Den Menschen sind somit heutzutage vielfältige Möglichkeiten des Zusammenlebens gegeben. Während es im Jahr 2004 noch etwa 19,0 Millionen Ehepaare gab, lebten zehn Jahre später nur noch 17,5 Millionen Ehepaare in Deutschland. Im gleichen Zeitraum nahm die Zahl der Menschen, welche in einer gleich- oder gemischtgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft leben um etwa 500 000 zu. Des Weiteren erhöhte sich die Anzahl an Alleinstehenden auf 17,9 Millionen im Jahr 2014, was im Vergleich zu zehn Jahren vorher einem Anstieg von 16 Prozent entsprach (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2016: 43 f.). Diesbezüglich erläutert Nave-Herz, dass dieser auf statistischer Ebene starke familiäre Wandel darauf schließen könne, dass die Familie und die Ehe in einer Krise stecken bzw. in ihrer Attraktivität verloren haben und beide Formen des Zusammenlebens als ‚Auslaufmodell‘ dargestellt werden (vgl. Nave-Herz 2013: 64 f.). Neben dem Bedeutungsrückgang der modernen Kleinfamilie sind jedoch noch weitere Daten zu nennen, welche auf eine Destabilisierung der Familie und Ehe hindeuten. So ist zu beobachten, dass die Zahl der jährlichen Eheschließungen seit den 1960er-Jahren deutlich gesunken ist. Gab es zu diesem Zeitpunkt noch rund 700 000 Trauungen pro Jahr, heirateten 2014 insgesamt 386 000 Paare. Zudem werden im Vergleich zu diesem Zeitpunkt jährlich fast doppelt so viele Ehen aufgelöst. Jedoch nicht nur die Zahl an Eheschließungen und Scheidungen lässt eine Krise der Familie vermuten, auch die Veränderungen hinsichtlich der Familiengröße weisen auf eine solche hin. Während es im Jahre 2004 in Deutschland 9,0 Millionen Familien – im Mikrozensus, der repräsentativen Befragung deutscher Haushalte, ist dies die Definition für alle Eltern-Kind-Gemeinschaften – mit minderjährigen Kindern gab, sank die Zahl bis im Jahr 2014 um 10 Prozent auf 8,1 Millionen. Dies bedeutet, dass die Familien 2004 rein rechnerisch im Durchschnitt 1,63, im Jahre 2014 durchschnittlich 1,61 minderjährige Kinder großzogen (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2016: 50 ff.).
Diese Zahlen zeigen auf, dass das Zusammenleben von Familien und Paaren ‚risikoreicher‘ geworden ist (vgl. Marx 2011: 26). „Mit der Vielfalt der familialen Lebensformen wächst auch deren Unbeständigkeit, d.h. der Übergang von einer familialen Lebensform in die Andere scheint relativ problemlos möglich“ (Barabas/Erler 2002: 87). Trotzdem weißt Marx darauf hin, dass die Familie nicht allgemein einen Bedeutungsverlust erfahren hat, sondern eher von einem Bedeutungswandel gesprochen werden sollte. Dies macht sie daran fest, dass die Familie noch immer für die Menschen einen hohen sozialen und emotionalen Stellenwert hat. Zudem mahnt sie an, dass der Zerfall der Familie im öffentlichen Diskurs zumeist anhand der steigenden Scheidungszahlen belegt wird, diese jedoch gemessen an der Zahl der Einwohner in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahren stabil, in den vergangenen Jahren sogar gesunken ist (vgl. Marx 2011: 26-34). Während im Jahre 2000 auf je 1000 Einwohner 2,4 Ehescheidungen kamen, waren es im Jahre 2014 nur noch 2,1 Eheauflösungen (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2016: 50).
Auch Peuckert mahnt an, dass wenn, „wie häufig zu lesen ist, die Familie in der Bundesrepublik … eine Krise durchmacht, so wird dabei unterstellt, dass es ein allgemein verbindliches Grundmuster familialen Zusammenlebens gegeben hat, das sich aufzulösen beginnt“ (Peuckert 2012: 11) In diesem Zusammenhang macht es keinen Sinn mehr von Familie im Singular zu sprechen, sondern die Pluralform zu verwenden (vgl. Marx 2011: 35). Somit darf Familie nicht als „homogene Institution“ (Fuhs 2007: 24) definiert werden. Ehe und Familie hätten zwar, wie Marx erläutert, einen Bedeutungswandel erfahren, von einem Bedeutungsverlust könne jedoch nicht gesprochen werden, da keine Erhebung des Mikrozensus dafür Belege liefere, dass ein einheitliches Modell des Lebens, welches den familialen Kriterien nicht mehr entspreche, existiere (vgl. Marx 2011: 35). „So ist auch Becks Hinweis zu verstehen, dass im Kern der Kernfamilie alles gesund sei“ (Marx 2011: 35).
„Die heutige Situation … erscheint vielen [aber] auch deshalb so krisenhaft, weil die Veränderungen vor dem Hintergrund einer historisch einmaligen Situation gedeutet werden“ (Peuckert 2012: 11). Peuckert verweist zudem darauf, dass es vor den 1950er- und 1960er-Jahren nie eine Familienform gab, welche eine solche Dominanz ausstrahlte, wie die moderne bürgerliche Familie, worunter die monogame, lebenslange Ehe zwischen einer Frau und einem Mann verstanden wird, welche in einem Haushalt mit ihren gemeinsamen Kindern leben. Diese Form, bei welcher der Mann als Haupternährer fungiert und die Frau die Zuständigkeit für die Erziehung der Kinder und den Haushalt übernimmt, wurde in Westdeutschland eine lange Zeit unhinterfragt gelebt. Im Osten Deutschlands verhielt es sich ähnlich, man konnte jedoch lediglich nicht von einer Arbeitsteilung der Geschlechter sprechen, da dort eine verbreitete Erwerbstätigkeit der Frau gegeben war (vgl. Peuckert 2012: 11 f.).
Hieran anknüpfend wird zunächst erläutert, wie die moderne Kleinfamilie als familialer Normaltyp der Moderne entstanden ist. Anschließend wird mit dem Blick auf bedeutende demografische Veränderungen der Fokus auf die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse der letzten 40 Jahre gelegt.
2.1 Die Entstehung der modernen Kleinfamilie als Normaltypus der Moderne
Familien, wie sie oben beschrieben werden und in unsrem Verständnis existieren, hat es nicht immer schon gegeben, sondern sie sind historisch gesehen eine relativ junge Form des menschlichen Zusammenlebens (vgl. Marx 2011: 14). Ihre Entstehung und Verbreitung „kann als Ergebnis eines langfristigen strukturell-funktionalen Differenzierungsprozess von Gesellschaft gesehen werden“ (Peuckert 2012: 12). Aus heutiger Sicht stellt der in der Moderne vollzogene strukturelle Wandel der Familie eine Auslagerung von nichtfamilialen Funktionen – hierzu zählen die Ausbildung, die Produktion sowie die Altersversorgung – dar. Mit Beginn der Industrialisierung büßte die Sozialform des ‚ganzen Hauses‘, bei der die Produktion und das Familienleben eine Einheit bildeten und die seit dem 16. bis ins 19. Jahrhundert die typische Lebensweise darstellte, enorm an Bedeutung ein (vgl. Peuckert 2012: 12 f.).
In Folge dessen entstanden, verursacht durch die mit der Industrialisierung einhergehende Verstädterung eine Vielzahl von Haushaltsformen, welche je nach Schicht Unterschiede aufwiesen (vgl. Marx 2011: 15). Eines dieser Familienmodelle war die bürgerliche Familie, welche als Vorläufer der modernen Kleinfamilie genannt werden kann. Sie blieb jedoch zu dieser Zeit überwiegend dem wohlhabenden und gebildeten Bürgertum vorbehalten, bei dem die Frauen und Kinder aufgrund des familiären Besitzes keiner Erwerbstätigkeit nachgehen mussten (vgl. Peuckert 2012: 13). Als Basis der Familie fungierte immer häufiger die Eheschließung, die zunehmend an das kirchliche Sakrament gebunden wurde (vgl. Marx 2011: 16).
„Die Eheschließung war allerdings lange Zeit primär ökologisch begründet. Besonders beim Adel aber auch im Stand der Bauern ging es darum, durch geschicktes Heiraten Land und Reichtum miteinander zu verbinden und so zu mehren. (…) Die Liebesheirat, wie wir sie heute in der westlichen Industriegesellschaft als dominierend erleben, ist u.a. mit der Romantik im 18. Jahrhundert verbunden“ (Marx 2011: 16 f.).
Diese romantische Liebe stützt sich auf Exklusivität und Dauerhaftigkeit, was dazu führt, dass das beiderseitige Glück und die Gefühle im Mittelpunkt stehen. Obwohl die Liebesheirat am Anfang des 19. Jahrhunderts nach und nach zur Beziehungsnorm wurde, fungierte sie lange Zeit nur im Bürgertum als kulturelles Leitbild. Trotzdem bestand für einen Großteil des Bürgertums eine entscheidende Diskrepanz zwischen dem ‚romantischen‘ Leitbild und ihrer eigenen praktizierten Lebensweise. Der Grund hierfür waren ökonomische Faktoren, die letztendlich dazu führten, dass Glück und Gefühle bei der Heirat einen Stellenwert hatten, aber auch eine Abwägung der materiellen Gesichtspunkte erfolgte (vgl. Peuckert 2012: 15).
„In den Arbeiterfamilien kann [zu dieser Zeit] trotz des Wegfalls der Heiratsbeschränkungen von einer Emotionalisierung und Intimisierung des Familienlebens schon aufgrund der randständigen sozioökonomischen Lage (niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit), der notwendigen Erwerbsarbeit der Frau (und Kinder) und der beschränkten Wohnverhältnisse (z.B. Untervermietung in Form des ‚Schläfergängertums‘) nicht die Rede sein“ (Peuckert 2012: 15).
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts konnte wahrgenommen werden, dass sich immer mehr Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten am bürgerlichen Familienbild orientieren (vgl. Peuckert 2012: 15). Neben der Intimisierung und Emotionalisierung sowie der Ausbildung der speziellen Vater- und Mutter-Rollen innerhalb der Familie prägten noch weitere Hauptmerkmale das Bild der bürgerlichen Kernfamilie. Einerseits wurde die Kindheit als besonderer Abschnitt im Lebenslauf eines jeden Individuums gesehen, wodurch die kindliche Entwicklung in den Fokus gerückt wurde, andererseits spielte vor allem die Privatisierung des Lebens innerhalb der Familie eine bedeutungsvolle Rolle (vgl. Schneewind 2010: 53 f.). Praktizieren konnte das Modell von Familie jedoch weiterhin nur ein kleiner Kreis privilegierter Bürger_innen, da es während der krisenhaften Epoche bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts nicht gelang Voraussetzungen zu schaffen, die zu einer Verbesserung der Lebensstandards für die mehrheitliche Bevölkerung geführt hätten (vgl. Peuckert 2012: 15).
„Ausschlaggebend für die Etablierung und Generalisierung des modernen, bürgerlich gefärbten Familienmusters waren die tief greifenden Wandlungsprozesse der 50er und frühen 60er Jahre des 20. Jahrhunderts“ (Peuckert 2012: 15). Neben extremer Steigerungen der Reallöhne und des Ausbaus der Systeme der sozialen Sicherung, durch die sich die Lebensgegebenheiten aller verbesserten, „wurde diese Form von Familie vor allem durch die Kirchen, aber auch von anderen gesellschaftlich relevanten Gruppierungen“ (Nave-Herz 2013: 63) gefordert. Bei dieser Lebensform, deren Leitbild von allen Menschen die lebenslange, monogame Ehe verlangte, obliegt der Frau die Zuständigkeit für die emotionalen, affektiven familialen Bedürfnisse sowie für den Haushalt. Der Vater ist hingegen primär zuständig für die Beziehungen nach außen und die Sicherung des Lebensunterhaltes. Somit kann diese Zeitspanne als der Höhepunkt der Entwicklung der modernen Familie in der Bundesrepublik und der DDR angesehen werden (vgl. Peuckert 2012: 15 f.).
„Die Institutionalisierung zeigt sich daran, dass für den Einzelnen Eheschließung und Familiengründung als selbstverständlich, als Normverhalten nahegelegt werden. Jeder Erwachsene ist zur Eheschließung und Familiengründung nicht nur berechtigt, sondern in gewisser Weise auch verpflichtet und hat diese soziale Norm im Verlauf seiner Sozialisation internalisiert“ (Peuckert 2012: 16).
Lebensformen, welche hingegen von der modernen bürgerlichen Familie abwichen (z.B. Alleinwohnende, Geschiedene, nichteheliche Lebensgemeinschaften) wurden zu dieser Zeit wenn überhaupt nur toleriert (vgl. Peuckert 2012: 16).
2.2 Die Familie seit der „Risikogesellschaft“
Seit Mitte der 1960er Jahre, spätestens seit den 1970er Jahren sind auf statistischer Ebene starke Veränderungen hinsichtlich der Familie und Ehe zu vernehmen. Diese Wandlungsprozesse, welche alle Bereiche des Lebens betreffen, „sind nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen westlichen Industriegesellschaften stark mit dem Begriff ‚Risikogesellschaft‘ verbunden“ (Marx 2011: 26). Ihren Ursprung haben diese Veränderungen des menschlichen Zusammenlebens in den Neuerungen der Bereiche Technologie und Ökonomie, durch die das gemeinsame Leben von Familien und Paaren ‚risikoreicher‘ wurde (vgl. Marx 2011: 26).
„Das uns in Werbespots suggerierte Bild, dass die Gesellschaft sich hauptsächlich aus Haushalten von Vater und/oder Mutter mit Kindern zusammensetzen würde, stimmt mit der sozialen Realität heute überhaupt nicht mehr überein“ (Nave-Herz 2013: 71). Während Erwachsene im früheren und mittleren Alter immer seltener zum Heiraten neigen, nahm die Verbreitung nichtehelicher Lebensgemeinschaften deutlich zu (vgl. Langmeyer/Walper 2013: 21). Lebten im Jahre 2004 noch 6,7 Millionen verheiratete Paare mit minderjährigen Kinder in der Bundesrepublik Deutschland, waren es zehn Jahre später nur noch 5,6 Millionen. In derselben Zeitspanne stiegt die Zahl an unverheirateten Lebensgemeinschaften mit minderjährigen Kindern von 684 000 (2004) auf 883 000 (2014), was einem Zuwachs von 22 Prozent entspricht (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2016: 51 f.). Auch die Verdreizehnfachung der nichtehelichen Lebensgemeinschaften im früheren Bundesgebiet, welche seit der ersten Schätzung des Mikrozensus erfolgte, spiegelt diese Entwicklung wider (vgl. Jurczyk/Langmeyer/Schutter 2013: 61). Gleiches verdeutlicht auch die Zahl der Alleinerziehenden, welche zwischen 2004 und 2014 ebenfalls um 4 Prozent anwuchs (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2016: 52).
Aufgrund dieses Bedeutungswachstums der alternativen Formen von Familie kann zwar hinsichtlich der Familien mit Kind(ern) unter 18 Jahren ein Verschiebung der Strukturen beobachtet werden, dennoch überwiegen hier die Ehepaare mit minderjährigen Kindern weiterhin deutlich. So waren im Jahre 2014 von allen Familienformen 69 Prozent Ehepaare (2004: 75 Prozent), 20 Prozent alleinerziehende Mütter oder Väter (2004: 18 Prozent) und 10 Prozent Lebensgemeinschaften mit Kindern (2004: 8 Prozent) (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2016: 51). Bezogen auf alle Lebensformen innerhalb der Bevölkerung sind allerdings
„[d]urch die Zunahme der älteren Ehen (ohne Kinder im Haushalt), der Alleinstehenden im Alter und in der Postadoleszenz (also der Ein-Personen-Haushalte), der Kinderlosen Ehen, der Nichtehelichen Lebensgemeinschaften ohne Kinder u.a.m. .. von allen Haushalten in der Bundesrepublik Deutschland nur noch ca. 30% ‚Familien-Haushalte‘ im Sinne der Eltern- oder Mutter bzw. Vater-Kind-Einheit“ (Nave-Herz 2013: 71).
Diese Veränderungen können laut Peuckert als Resultat eines langfristigen Individualisierungsprozesses gesehen werden (vgl. Peuckert 2012: 27). „Mit den Veränderungen auf der Makroebene von Ökonomie (und konsekutiv der Gesellschaft) gehen [somit] auch – so Beck – Veränderungen der sozialen Mikrostrukturen von Ehe, Familie, Elternschaft, Sexualität und Liebe einher“ (Marx 2011: 27). Diesbezüglich erläutert Beck laut Marx, dass das Produzieren von gesellschaftlichem Reichtum, Modernisierungsrisiken sowohl im ökologischen und ökonomischen, als auch sozialen bzw. psychosozialen Bereich mit sich bringt. Er legte zudem dar, dass sich Änderungen in der Produktion (von Reichtum) immer auch auf das menschliche Zusammenleben auswirken und somit für die einzelnen Individuen soziale Risiken mit sich bringen. Aufgrund der Veränderungen der letzten 40 Jahren spricht er von einem unsere Gesellschaft betreffenden ‚Individualisierungsschub‘ (vgl. Marx 2011: 26 f.).
„Individualisierung bezeichnet also ein zwiespältiges, mehrgesichtiges, schillerndes Phänomen, genauer: einen Gesellschaftswandel, dessen Bedeutungsvielfalt real und durch allerdings notwendige Begriffserklärungen nicht aus der Welt zu schaffen ist. Von der einen Seite: Freiheit, Entscheidung, von der anderen: Zwang, Exekution verinnerlichter Marktanforderungen. Einerseits Selbstverantwortlichkeit, andererseits Abhängigkeit von Bedingungen, die sich dem individuellen Zugriff vollständig entziehen“ (Beck/Beck-Gernsheim 2005b: 15).
Laut Beck ist die ‚Individualisierung‘, welche nicht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Erscheinung getreten ist, also ein Aspekt des Modernisierungsprozesses (vgl. Beck 2016: 206). „Modernisierung führt nicht nur zur Herausbildung einer zentralisierten Staatsgewalt, zu Kapitalkonzentrationen und zu einem immer feinkörnigeren Geflecht von Arbeitsteilungen und Marktbeziehungen, zu Mobilität, Massenkonsum usw., sondern eben auch … zu einer dreifachen »Individualisierung«“ (Beck 2016: 206). Dies umfasst neben dem Herauslösen aus Sozialformen und sozialen Bindungen, welche historisch vorgegeben sind (Dimension der Freisetzung) und des Verlust von traditionalen Sicherheiten bezüglich Glauben, leitenden Normen und Handlungswissen (Dimension der Entzauberung), auch eine neue Form sozialer Einbindung (Dimension der Kontrolle und Reintegration) (vgl. Beck 2016: 206). Für das einzelne Individuum bedeutet dies, dass der auf der Metaebene stattfindende Wandlungsprozess seinen Ausdruck darin findet, dass eine generelle Veränderung des Zusammenlebens und der Beziehungen eintritt. Hierbei handelt es sich um solche Änderungen auf mikrostruktureller Ebene, welche mit den Begrifflichkeiten ‚Patchworkfamilie‘, ‚Lebensabschnittspartner_in‘ oder ‚Bastelbiografie‘ in Verbindung stehen und einen Verweis auf die Risiken in Bezug auf die Entwicklung und das menschliche Zusammenleben geben (vgl. Marx 2011: 28).
Eine bedeutsame Rolle in diesem Veränderungsprozess spielen laut Beck vor allem auch die Frauen, die heutzutage große Erwartungen hinsichtlich der Gleichheit nicht nur auf beruflicher, sondern auch auf privater Ebene haben. Obwohl in den Bereichen Recht und Bildung bereits formal eine Angleichung stattgefunden hat, ist eine faktische Gleichheit immer noch nicht gegeben (vgl. Beck 2016: 162).
„Die Widersprüche zwischen weiblicher Gleichheitserwartung und Ungleichheitswirklichkeit, zwischen männlichen Gemeinsamkeitsparolen und Festhalten an den alten Zuweisungen spitzen sich zu und bestimmen mit der durchaus gegensätzlichen Vielfalt ihrer Umgangsformen im Privaten und Politischen die zukünftige Entwicklung. Wir stehen also … erst am Anfang der Freisetzung aus den »ständischen« Zuweisungen des Geschlechts“ (Beck 2005: 24).
Das private Mit-, Ohne- und Gegen-Einander von Frauen und Männern stellt sich somit als eine Suche nach Lösungen für institutionelle, gesellschaftliche Strukturen dar. Durch die Freisetzung der Frauen aus der Betreuung der Kinder, der Führung des Haushaltes und den Versorgungspflichten besteht die Notwendigkeit, dass auch bezüglich der Rolle des Mannes eine Veränderung eintritt. Aufgrund des Verlustes ihrer bisherigen alleinigen Rolle als Ernährer der Familie ist auch für sie die Möglichkeit auf „ein Engagement gleichermaßen im Beruf und in der Familie“ (Marx 2011: 30) gegeben, sodass eine Neuausrichtung ihrer Funktion innerhalb von Familie und ihrer Position in der Partnerschaft unabdingbar erscheint. Daran wird deutlich, dass sich Frauen und Männer „nicht mehr in den traditionalen Bahnen von lebenslänglicher Partnerschaft und Ehe“ (Marx 2011: 28) befinden (vgl. Marx 2011: 30).
Diesbezüglich sei auf die ‚Bastelbiografie‘ verwiesen, die besagt, dass die Biografien der einzelnen Individuen nicht mehr von außen vorgegeben werden, sondern jede_r Einzelne vor der Aufgabe steht, eigenständig über die Ausbildungs- und Berufswahl, über den Arbeitsplatz, den Wohnort, den_die Ehepartner_in, die Kinderzahl usw. zu entscheiden (vgl. Beck 2016: 216). Jedes Individuum ist somit unweigerlich im Laufe seines Lebens damit konfrontiert, nicht nur darüber zu entscheiden ob es eine Familie möchte oder nicht, sondern erlebt innerhalb der einzelnen Phasen des Lebens ein Hin und Her. Dadurch, dass jede_r individuell darüber entscheiden kann, welcher Arbeit und in welchem Umfang er oder sie nachgehen möchte, ob eine berufliche Neuorientierung stattfinden soll und mit wem man wo und wie zusammenleben möchte, „gibt [es] also ‚mehr Freiheit als je zuvor‘, sich seine Biographie ‚zurechtzubasteln‘“ (Marx 2011: 29). Gleichzeitig bedeutet diese Wahlfreiheit aber auch einen Zwang, eine Entscheidung (unter Beachtung der Werte- und Normensysteme) zu treffen und Verantwortung für diese zu übernehmen (vgl. Marx 2011: 29). „Selbst dort, wo die Rede von »Entscheidungen« ein zu hochtrabendes Wort ist, weil weder Bewußtsein noch Alternativen vorhanden sind, wird der einzelne die Konsequenzen aus seinen nicht getroffenen Entscheidungen »ausbaden« müssen“ (Beck 2016: 216 f.).
In dieser Situation, in der das einzelne Individuum aus einem Feld von unkalkulierbaren und unüberschaubaren Optionen auswählen muss, was für es passend erscheint, ist die Suche nach Sinn und sozialer Eingebundenheit für den oder die Einzelne von zentraler Bedeutung (vgl. Marx 2011: 30).
„Was .. über die Familie an Enttabuisierung und neuen technischen Möglichkeiten hereinbricht …, dividiert die in ihr ehemals zusammengefassten Lagen Stück für Stück auseinander: Frau gegen Mann, Mutter gegen Kind, Kind gegen Vater. Die traditionelle Einheit der Familie bricht in die Entscheidungen, die ihr abverlangt werden, auseinander“ (Beck 2016: 192).
Diesbezüglich erscheint es nachvollziehbar, warum die Zahl der jährlichen Eheschließungen seit den 1970er Jahren (1970: 575 000 Eheschließungen, 2014: 386 000 Eheschließungen) deutlich sank und die Gesamtzahl an jährlichen Scheidungen in diesem Zeitraum von 104 000 im Jahr 1970 auf 166 000 im Jahr 2014 anstieg (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2016: 50). Die Ursache insbesondere für diesen Anstieg der Scheidungen könnte darin liegen, dass die Menschen ihre Probleme
„nicht, wie sie vielleicht glauben und sich vorwerfen, in die Familie hinein [tragen]. Fast alle Konfliktthemen haben auch eine institutionelle Seite (das Kinderthema beruht zum Beispiel wesentlich auf der institutionell gut gesicherten Unmöglichkeit, Kinderbetreuung und berufliches Engagement zu vereinen). … Mit einer gewissen Zwangsläufigkeit wird so alles, was von außen – vom Arbeitsmarkt, Beschäftigungssystem, Recht usw. – in die Familie hineinschlägt, ins Persönliche verdreht und verkürzt. In ihr (und in all ihren Alternativen) entsteht so der systematisch bedingte Wahn, in ihr lägen die Fäden und der Hebel, das aufgebrochene Jahrhundert-Faktum der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in der konkreten Zweisamkeit zu ändern. Auch der Kern der Familie, das Heiligtum der Elternschaft, beginnt in seine Bestandteile, in die Lage von Mutterschaft und Vaterschaft zu zerfallen“ (Beck 2016: 192 f.).
In der Bundesrepublik Deutschland lebten 2014 bereits 18 Prozent der minderjährigen Kinder bei einem alleinerziehenden Elternteil (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2016: 53). Diese Form der Familie ist dabei nicht mehr nur Ausdruck des ‚Verlassen-worden-seins‘, sondern eine Wahlmöglichkeit, die als Ausweg aus den Konflikten mit dem anderen Elternteil ergriffen wird (vgl. Beck 2016: 193). Aus diesem Grund stellt sich im Folgenden die Frage, welche Bedeutung Familie und Partnerschaft sowie die Kinder „im Wirrwarr der verschiedenen Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten“ (Marx 2011: 31) haben.
2.3 Bedeutungswandel von Familie, Partnerschaft und Kinder
Laut Marx werden Menschen aufgrund der Individualisierung und der Ent-Traditionalisierung, welche einhergeht mit der Risikogesellschaft, immer mehr unabhängig, zumindest in finanzieller Hinsicht. In Folge dessen dividiert es Männer und Frauen vorübergehend immer weiter auseinander, was für sie zu einer Befreiung ehemaliger Zwänge führt (vgl. Marx 2011: 32). Sie werden „in der Suche nach einem »eigenen Leben« aus den traditionalen Formen und Rollenzuweisungen freigesetzt “ (Beck 2016: 175). Andererseits sind die Gegebenheiten, welche den einzelnen Individuen in der vormodernen Gesellschaft Sicherung und Halt gaben, kaum noch vorhanden. In Folge von Pluralisierung, Säkularisierung und Konkurrenz von Systemen des Glaubens gehen viele Bezugspunkte, die die Existenz des einzelnen Menschen in der gesellschaftlichen Welt verankerten, verloren (vgl. Beck-Gernsheim 2005: 67). „Die Folge ist … ein tiefgreifender Verlust an innerer Stabilität“ (Beck-Gernsheim 2005: 67). Sie stehen somit vor der Aufgabe für sich selbst individuell zu definieren, was ihrem Leben Halt, Sinn und Sicherheit gibt (vgl. Marx 2011: 32). Da ihnen hierbei jedoch mittlerweile die „traditionellen Muster der (Selbst-)Vergewisserung“ (Marx 2011: 32) fehlen, zu denen in der Vergangenheit beispielsweise die Glaubenssysteme zählten, die in Zeiten der Risikogesellschaft ebenfalls an Bedeutung verloren haben, befinden sie sich bei der Beantwortung ihrer lebensnotwendigen Fragen mittlerweile in einer „Einsamkeit der Selbstverantwortung, Selbstbestimmung und Selbstgefährdung“ (Beck 2005: 13). Sie sind jetzt mehr oder minder auf sich alleine gestellt (vgl. Marx 2011: 32).
In dieser Situation, die geprägt ist von Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, erfahren Familie und vor allem Partnerschaft einen immensen Bedeutungsanstieg (vgl. Marx 2011: 32). Dies machen auch die Zahlen der Studie ‚Zukunftsreport Familie 2030‘ deutlich, nach der Eigenschaften wie soziale Einbindung immer weiter an Bedeutung gewinnen. So gaben im Jahre 2016 insgesamt 79 Prozent der Befragten an, dass für sie die Familie der wichtigste Lebensbereich sei. Damit legte der Wert verglichen zur Umfrage aus dem Jahre 2006 um drei Prozent zu. Auch vergrößerte sich der Anteil der Befragten, welche mit ihrer Familie ‚Liebe geben und geliebt werden‘ verbinden von 77 Prozent im Jahre 1994 auf 87 Prozent im Jahre 2010 (vgl. Prognos AG 2016: 6 f.).
Laut Beck werden die Menschen somit in die Suche nach Glück, insbesondere nach Zweisamkeit und nach einer glücklichen Paarbeziehung hineingetrieben. „Das Bedürfnis nach geteilter Innerlichkeit … wächst mit den Verlusten, die die Individualisierung als Kehrseite ihrer Möglichkeiten beschert“ (Beck 2005: 37). Die Partnerschaft kann somit in Zeiten, in denen die Palette sozialer Kontakte immer bunter und größer wird, in denen für die Menschen die Optionen der Lebensgestaltung immer größer werden, als Ort fungieren, an dem Stabilität, Intimität, Glück, Liebe und Identität gegeben ist. Diesbezüglich nimmt die Liebe hinsichtlich der Orientierung und der Suche nach Sinn eine Garantenstellung ein. Aus diesem Grund werden in die partnerschaftliche Beziehung, die als Bewahrung vor dem Alleine-Sein und als Entschädigung für Verluste fungieren soll, große Erwartungen gesteckt (vgl. Marx 2011: 32).
Allerdings verweist Marx darauf, dass dort, wo die Hoffnungen in die Beziehung überhöht und idealisiert sind, diese leicht ein Scheitern zur Folge haben können (vgl. Marx 2011: 32). „Und dann verweist die Enttäuschung über die in der Zweisamkeit gesuchte und nicht gefundene Intimität und Liebe die Ehepartner wieder zurück auf die Individualisierung und die Möglichkeiten anderer Lebensformen“ (Marx 2011: 32). Der oben bereits dargestellte Anstieg an Ehescheidungen kann laut Nave-Herz deshalb nicht als Bedeutungsverlust gesehen werden, sondern der Grund dafür, dass sich das Scheidungsrisiko erhöhte, liegt vielmehr darin, dass die Beziehung für die einzelne Person von größter Wichtigkeit ist. Während die Beziehungsqualität also ins Zentrum der Ehe gerückt ist, verlor der institutionelle Charakter der Ehe im zeitlichen Verlauf stark an Bedeutung. Je stärker letzterer jedoch eine Rolle im Hintergrund einnimmt und somit der Erhalt der Ehe lediglich von Emotionen und Affekten abhängig ist, umso schneller kann sie als Misserfolg gewertet und dementsprechend aufgelöst werden, da die „Deprivation der Ehe“ (Nave-Herz 2013: 173) von keiner weiteren ehelichen Funktion ausgeglichen werden kann (vgl. Nave-Herz 2013: 173).
Allerdings betont Nave-Herz, dass die Abnahme der institutionellen Ansicht von Ehe nicht heißt, „dass damit generell die Ehe infrage gestellt wird, sondern nur die eigene. Man löst die Ehe nämlich auf, weil man den Wunsch auf Erfüllung einer idealisierten Partnerschaft und die hohen emotionalen Erwartungen an die Ehe nicht aufgibt“ (Nave-Herz 2015: 138). Selbiges unterstreicht Marx, die ebenfalls auf die verschwundenen normativen Traditionen und Regeln verweist, welche früher einen bindenden Charakter hatten. Da diese heute kaum noch gegeben sind, trennen sich Paare, wenn die Beziehung ihre Erwartungen nicht erfüllen kann, da sie hoffen das Glück, die Sicherheit und die Liebe, welche für ihre persönliche Stabilität unabdingbar ist, bei einer anderen Person zu finden (vgl. Marx 2011: 32 f.).
„In der Konsequenz führt der direkte Weg aus Ehe und Familie meist früher oder später wieder in sie hinein – und umgekehrt“ (Beck 2016: 175).
Dies spiegelt sich auch in der Zahl der Eheschließungen, vor allem in der Anzahl Wiederverheiratungen wider. So war es im Jahre 2014 bei insgesamt 13 Prozent aller Eheschließungen der Fall, dass beide Eheleute bereits schon (mindestens) einmal geschieden waren. Darüber hinaus war bei 18 Prozent der geschlossenen Ehen eine der beiden Personen bereits verheiratet gewesen und die zweite ledig. Dies bedeutet, dass bei knapp einem Drittel aller im Jahre 2014 geschlossenen Ehen mindestens eine_r zuvor bereits in einer Ehe gelebt hat (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2016: 50).
„Mit dem innerfamilialen Individualisierungsprozeß verändern sich … auch die soziale Beziehung und Bindungsqualität zum Kind“ (Beck 2016: 193). So verweisen Walper und Wendt darauf, dass in der heutigen Zeit auch bezüglich Ehe und Elternschaft eine zunehmende Entkopplung stattfindet, sodass heute auch ein Großteil der Kinder außerhalb von Ehen geboren wird (Walper/Wendt 2010: 15). Betrug der Anteil an nichtehelich Lebendgeborenen im Jahr 1990 noch 15,3 Prozent, war der Wert 2012 mit 34,5 Prozent mehr als doppelt so hoch (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2016: 40). Auch angesichts der in den letzten Jahrzehnten gesunkenen Geburtenzahlen – „2005 wurden erstmals unter 700 000 Kinder geboren und im Jahr 2011 wurde mit 663 000 Neugeborenen die niedrigste Geburtenzahl seit 1946 registriert“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2016: 18) – werden die Kinder zu einem immer kostbareren Gut (vgl. Walper/Wendt 2010: 15). Dieses Gut spielt, insbesondere wenn Erwachsene im Rahmen einer Trennung Enttäuschung erfahren, eine neue, sehr bedeutungsvolle Rolle: Im Gegensatz zum_zur Ehepartner_in, mit dem_der ein gemeinsames Leben nicht länger zu ertragen ist, kann den Kindern nicht ‚gekündigt‘ werden (vgl. Marx 2011: 33). Das Kind fungiert somit als letzte primäre Beziehung, welche übergeblieben ist und die man weder aufkündigen, noch austauschen kann (vgl. Beck 2016: 193).
Somit dient das Kind als Projektionsfläche, auf der alles abgebildet wird, was das einzelne Elternteil in die Partnerschaft hineinsehnte. Auf diesem Wege, auf dem Zweisamkeit erlebbar wird, können die Eltern sich selbst erfahren und ihrem Leben eine Bedeutung geben (vgl. Marx 2011: 33).
„Das Kind gewinnt mit dem Brüchigwerden der Beziehungen zwischen den Geschlechtern Monopolcharakter auf lebbare Zweisamkeit, auf ein Ausleben der Gefühle im kreatürlichen Hin und Her, das sonst immer seltener und fragwürdiger wird. In ihm wird eine anachronistische Sozialerfahrung kultiviert und zelebriert, die mit dem Individualisierungsprozeß gerade unwahrscheinlich und herbeigesehnt wird. Die Verzärtelung der Kinder, die »Inszenierung der Kindheit« … und das böse Ringen um die Kinder in und nach der Scheidung sind einige Anzeichen dafür“ (Beck 2016: 193).
2.4 Bedeutungswandel von Ehescheidungen – Forschung früher und heute
Wie die Familie, so haben auch die gesellschaftliche Bewertung und Sichtweise von Trennung und Scheidung innerhalb der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten einen Wandel erfahren. Etwa bis ins 20. Jahrhundert hinein bewerteten sie die Menschen als moralische Verfehlung. Trennungen und Scheidungen galten als Ereignisse, die nicht der Norm entsprachen und infolge einer Verletzung der Ehepflicht auftraten und folgenschwere Sanktionen und negative Konsequenzen – beispielsweise stand auf juristischer Ebene die Schuldfrage im Zentrum – zur Folge hatten. Diese Sichtweise hat sich bis heute gewandelt. Immer häufiger gelten Trennung und Scheidung als ein der Norm entsprechender Lösungsweg, der zunehmend sozial akzeptiert wird. Im heutigen Verständnis fungieren Trennung und Scheidung somit als eine Möglichkeit, durch die eheliche Konflikte aufgelöst werden. Sie besitzt damit den Stellenwert eines Übels, welches notwendig erscheint. Dieser Wandel der Betrachtung von Trennung und Scheidung spiegelt sich auch im veränderten sozialwissenschaftlichen Verständnis wider, was vor allem die Ablösung des Desorganisationsmodells durch das Reorganisationsmodell bzw. Transitionsmodell verdeutlicht (vgl. insgesamt Wilk/Zartler 2004: 21). Auf diese Modelle wird nachfolgend eingegangen.
2.4.1 Das Desorganisationsmodell
Trennung und Scheidung wurde über einen langen Zeitraum als ein der Norm abweichendes Verhalten gesehen, welches auf dem Versagen eines Individuums gründete. Aus diesem Grund existiert innerhalb der Sozialwissenschaften lange Zeit ein Desorganisationsmodell, das die Trennung und Scheidung „als traumatisches Ereignis konzeptualisiert“ (Fthenakis 2000: 222) und als „normwidrige Auflösung der Familie und Defekt der Biographie“ (Wilk/Zartler 2004: 21) ansieht. Dies hatte zur Folge, dass mit der Trennung und Scheidung ein Auflösen der Kernfamilie und aller mit ihr verbundenen familialen Beziehungen und Konstellationen verbunden ist, sodass die Trennung und Scheidung das Ende der familialen Entwicklung ist (vgl. Wilk/Zartler 2004: 21). Das Kind wird hierdurch gewissermaßen gezwungen, „mit seiner eigenen Geschichte zu brechen. An die Stelle des verlorenen Zuhauses muß für das Kind demnach im Sinne einer notwendigen Alternative eines der beiden von den geschiedenen Eltern rekonstruierten Zuhause treten“ (Théry 1990: 93). Diesbezüglich spricht Théry von „Substitutionslogik“ (Théry 1990: 93), womit sie darauf verweist, dass das neue Zuhause der Kinder als Beleg für das Überwinden der familialen Krisensituation fungiert. Letztendlich kann dem einzelnen Kind deshalb nur durch die Garantie einer neuen Familie ein Rahmen gegeben werden, welcher Sicherheit stiftet und somit ein neues kindliches Gleichgewicht mit sich bringt (vgl. Théry 1990: 93).
Aufgrund dieser Sichtweise, welche mit dem Desorganisationsmodell dargelegt wird, ist für eine gelingende Sozialisation von Kindern die Verfügbarkeit beider Elternteile unabdingbar. Daraus lässt sich schließen, dass im Umkehrschluss eine Abwesenheit eines Elternteils negative Auswirkungen für die Entwicklung der Kinder nach sich zieht (vgl. Fthenakis 2000: 222).
„In der ersten Phase der Scheidungsforschung in den 70er Jahren bildete das Desorganisationsmodell die Grundlage der gesetzlichen Regelung von Sorgerecht und Umgang“ (Fthenakis/Walbiner 2008c: 1). Staub und Felder legen dar, dass Trennung und Scheidung zu dieser Zeit als ein akuter Einsturz familialer Handlungsfähigkeit und Kommunikation verstanden wurde (vgl. Staub/Felder 2004: 15). Deshalb erfolge die Übertagung des Sorgerechts auf nur ein Elternteil (vgl. Wilk/Zartler 2004: 21 f.). Hierauf wird zu einem späteren Zeitpunkt, unter Punkt 3.1 noch genauer eingegangen.
Es wird deutlich, dass die Familie im Rahmen dieser Krise Entscheidungen von außen benötigt (vgl. Wilk/Zartler 2004: 21 f.). Aus diesem Grund lag innerhalb der Forschung zum einen der Fokus auf der „Frage nach den besten Entscheidungen für die entsprechende Familie“ (Wilk/Zartler 2004: 22), zum anderen interessierten die akuten Schädigungen der Kinder infolge von Trennung und Scheidung (vgl. Wilk/Zartler 2004: 21). Bei diesbezüglichen Ansätzen stehen somit erwartungsgemäß die Struktur von Familie und die durch das Geschehen bedingten negativen Folgen im Zentrum (vgl. Fthenakis 2000: 222).
Auch Sünderhauf verweist darauf, dass in der Scheidungsfolgenforschung der 1970er-Jahre die Scheidung als Ursache für alles, was im Leben der Kinder schief gelaufen sei, verantwortlich gemacht wurde. So wurde nach dem ‚Broken-Home‘-Ansatz ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der elterlichen Trennung und dem Unglück im späteren Leben der Kinder gesehen. Den Kindern attestierte man beispielsweise ein höheres Risiko psychisch zu erkranken, häufig wechselnde Sexualpartner_innen, erhöhte Delinquenz, frühere Schwangerschaften und/oder den Missbrauch von Drogen. Auch die sogenannte ‚Wallersteinstudie‘, eine 1971 unter anderem von Wallerstein begonnene qualitative Längsschnittstudie, unterstrich mit den ersten veröffentlichten Ergebnissen im Jahre 1975 den Zusammenhang zwischen der elterlichen Trennung und der kindlichen Entwicklung (vgl. Sünderhauf 2013: 211-213).
„Kinder erleben eine Scheidung nicht als Chance für einen Neubeginn, und darauf ist ein Teil ihres Leidens zurückzuführen. Für sie bedeutet eine Scheidung unweigerlich das Ende der Kindheit. Sie bezahlen den Preis für die Fehler ihrer Eltern und sehen ihre Zukunft gefährdet“ (Wallerstein/Blakeslee 1994: 181).
Von den 34 untersuchten Vorschulkindern, von denen am Anfang der Studie keiner psychologische Auffälligkeiten zeigte, sind zum Trennungszeitpunkt der Eltern sowie ein Jahr später etwa die Hälfte (44%) psychologisch auffällig gewesen (vgl. Sünderhauf 2013: 213 f.).
Trotz ihrer großen öffentlichen Aufmerksamkeit sowohl in den USA, als auch in Europa, wird die Studie in der Fachwelt aufgrund ihrer populistisch erscheinenden Darstellung und angesichts methodischer Mängel nicht anerkannt.
So übt Kelly, die laut Sünderhauf renommierteste Scheidungsforscherin der Welt, welche zu Beginn selbst noch an der ‚Wallersteinstudie‘ mitwirkte, dahingehend Kritik, dass die Studie nicht repräsentativ sei, eine Kontrollgruppe fehle, eine Überbetonung der pathologischen Befunde erfolge und außer Acht gelassen werde, dass bei etwa der Hälfte der Kinder durchaus ein positiver Entwicklungsverlauf vorliege (vgl. Sünderhauf 2013: 213 f.). Ähnliches bemängelt auch Fthenakis.
„Querschnittstudien … haben zu der fast universellen Erkenntnis geführt, dass Kinder während und nach einer Scheidung sowohl externalisierende (antisoziales, aggressives Verhalten, mangelnde Selbstkontrolle etc.) als auch (in geringem Umfang) internalisierende Störungen (Angst, depressive Symptome sowie Probleme in den sozialen Beziehungen, etwa in den Beziehungen zu Eltern, Geschwistern, Gleichaltrigen) zeigen“ (Fthenakis 2000: 223).
Dies sei jedoch eine Fehleinschätzung hinsichtlich der Trennungs- und Scheidungsfolgen, welche insbesondere aufgrund fehlender Repräsentativität, ungenügender Erfassung von Daten und unzureichender Bedienung an Methoden entstanden sei (vgl. Fthenakis 2000: 222 f.).
Wie an den Forschungsmethoden, so üben Fthenakis und Walbiner auch Kritik am Desorganisationsmodell selbst. Das Konzept von Familie, auf welchem das Modell gründet, werde der heutigen Vielfalt von Familienformen nicht mehr gerecht. Auch seien die Rechte der Kinder – hierzu zählen sie beispielsweise die Gestaltung der Beziehungen zu beiden Elternteilen – und die bedeutsamen Aufgaben nach der Scheidung, z.B. das Aufteilen der elterlichen Aufgaben zum Wohle des Kindes, nur wenig beachtet (vgl. Fthenakis/Walbiner 2008c: 2). Darüber hinaus erfolge keine Berücksichtigung von familialen Konfliktregulierungspotentialen. Trennung und Scheidung werden letzten Endes lediglich „als persönliches Scheitern, als eine stigmatisierende Lebenserfahrung begriffen“ (Fthenakis/Walbiner 2008c: 2).
Im Laufe der Zeit führten die Erkenntnisse, welche im Rahmen der Scheidungsforschung gewonnen wurden, zu einer generellen Kritik am Desorganisationsmodell. Vor allem die Annahme, eine stabile Beziehung zwischen dem Kind und einer primären Betreuungsperson stelle eine ausreichende Bedingung dafür dar, dass Trennung und Scheidung positiv bewältigt werden können, wurde immer häufiger in Frage gestellt (Fthenakis/Walbiner 2008c: 2). Diese Kritik führte auch dazu, dass sich seit „den 1980er Jahren … das sozialwissenschaftliche Verständnis von Scheidung grundlegend verändert“ (Wilk/Zartler 2004: 22).
2.4.2 Das Reorganisationsmodell
Die beschriebene Entwicklung führte nun zu einer Ablösung des Desorganisationsmodells durch ein Reorganisationsmodell. Diesem Ansatz nach werden „Scheidungen nicht mehr generell als ‚traumatisches Ereignis‘ angesehen“ (Sünderhauf 2013: 217), durch welches die Familie ‚zerfällt‘, sondern als langfristiger Prozess des Übergangs, der auf verschiedensten Ebenen stattfindet und mit dem auch neue Chancen der Lebensgestaltung verbunden werden (vgl. Wilk/Zartler 2004: 22). In dieser Sichtweise stellen Trennung und Scheidung lediglich einen Übergang zwischen der Familienorganisation im Ursprung und der reorganisierten, jetzt jedoch „bipolaren familialen Einheit“ (Théry 1990: 94) dar. Bei dieser Einheit fungieren sowohl Mutter, als auch Vater komplementär und gleichbedeutend als Sicherung der fortbestehenden Familie und somit gleichzeitig auch als Schutz des kindlichen Gleichgewichtes (vgl. Théry 1990: 94). Die elterlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten werden in diesem Familiensystem in der Folge geteilt, sodass die Kinder laut Fthenakis und Walbiner beiden elterlichen Haushalten zugeordnet werden (vgl. Fthenakis/Walbiner 2008c: 2). „Das Kind hat nun zwei Bezugssysteme bzw. Zuhause, zwischen und in denen es sich bewegt“ (Théry 1990: 95). Somit steht laut Wilk und Zartler nicht der gemeinsame Haushalt, sondern das Erhalten der familiären Beziehungen im Zentrum (vgl. Wilk/Zartler 2004: 22).
Nach Fthenakis und Walbiner bildet eine systemische Sichtweise die Basis des Reorganisationsmodells. Aufgrund dieser Sichtweise, durch die eine Einbindung der Familie in übergeordnete Systeme, z.B. die Berufswelt deutlich gemacht wird, bringen kritische Lebensereignisse, wie Trennungen und Scheidungen, Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen mit sich (vgl. Fthenakis/Walbiner 2008c: 2). „Diese wirken sich jedoch nicht nur negativ auf die Einzelperson und auf die Familie aus, sondern sie beinhalten gleichzeitig auch die Chance, die Beziehungen und verschiedenen Aspekte der Lebenssituation neu und oftmals für alle Beteiligten befriedigender zu organisieren“ (Fthenakis/Walbiner 2008c: 2). Da laut Wilk und Zartler auch das Makrosystem der Familie (Verwandtschaft, Freund_innen) reorganisiert werden muss, ist nicht nur ein Übergang, sondern eine Vielzahl von Übergängen zu bewältigen. Daran wird deutlich, dass dieser Übergangsprozess für die Frauen, Männer und Kinder mit verschiedensten, spezifischen Entwicklungsaufgaben verbunden ist (vgl. Wilk/Zartler 2004: 23).
Aus diesem Grund lag das Forschungsinteresse in dieser Phase überwiegend auf der Trennungsverarbeitung durch die einzelnen Mitglieder der Familie (vgl. Fthenakis/Walbiner 2008c: 3).
Aufgrund der Ergebnisse vieler Studien werden Trennungen und Scheidungen heutzutage nicht mehr allgemein als traumatisierendes Ereignis gesehen (vgl. Sünderhauf 2013: 217).
Napp-Peters fand diesbezüglich heraus, dass die meisten Kinder die elterliche Trennung als schwerwiegenden Einbruch innerhalb ihrer Lebenswelt erleben, welcher ihr kindliches Gleichgewicht aus der Bahn wirft. So reagieren 29 Prozent der Kinder unter sechs Jahren unmittelbar nach der Trennung mit Ängsten, Schuldgefühlen und depressivem Verhalten, während 16 Prozent aggressive Verhaltensweisen zeigten. Bei etwa 41 Prozent konnte keine Reaktion festgestellt werden, was Napp-Peters daran festmacht, dass die Kinder noch nicht alt genug waren, um das Geschehen zu verstehen. Bei den Kindern, welche eine Reaktion zeigten, klingen diese zumeist nach etwa ein bis zwei Jahren wieder ab, sobald eine Einstellung des Kindes auf die neue Familienform erfolgt ist.
Diese Reaktionen, welche unmittelbar in Folge der Trennung auftreten, seien jedoch zu unterscheiden von den Anpassungsstörungen, welche langfristig wirken (vgl. Napp-Peters 1988: 37 ff.).
In diesem Zusammenhang legt Sünderhauf dar, dass eine Vielzahl von Studien zeigte, „dass es nicht das ‚Zerbrechen der Familie‘ per se ist, das die gravierenden Folgen für die betroffenen Kinder auslöst, sondern eine Vielzahl von Begleiterscheinungen und Konsequenzen der Trennung“ (Sünderhauf 2013: 217 f.). Ursächlich für diese Folgen sind somit einerseits Faktoren, welche Auslöser von Trennung und Scheidung sind, andererseits die Auswirkungen, welche infolge des Lebens mit einem alleinerziehenden Elternteil auftreten. Laut zwei amerikanischen Metaanalysen von Amato und Keith aus den Jahren 1991 und 2001, auf die sich Sünderhauf beruft, „ist es nicht die Tatsache der Trennung an sich, die Kinder beeinträchtigt, sondern es sind deren primäre und sekundäre Folgen“ (Sünderhauf 2013: 218). Zu den Primärfolgen zählen neben des ökonomischen Abstiegs und dem Verlust eines Elternteils auch die Konflikte zwischen den Eltern und die psychische Verfassung des alleinerziehenden Elternteils. Ein möglicher Umzug, der Verlust weiterer Beziehungen und die Gründung einer Zweitfamilie sind sekundäre Folgen (vgl. Sünderhauf 2013: 218 f.).
Ähnliche Ergebnisse lassen sich auch der Kölner Längsschnittstudie entnehmen, welche darlegt, dass Kinder in Folge einer elterlichen Trennung durchaus verschiedene Entwicklungsverläufe aufweisen. Während rund 50 Prozent der Kinder im gesamten vierjährigen Verlauf nach der Trennung als durchgängig hochbelastet eingestuft wurden, bewältigte ein Drittel der jungen Menschen die Trennung erfolgreich. Darüber hinaus war eine kleine Gruppe von Kindern zu jedem Zeitpunkt nur gering belastet (vgl. Walper 2011: 8).
„Wie zu erwarten unterschieden sich diese Gruppen vor allem hinsichtlich der sozialen Risikofaktoren und Ressourcen im Familiensystem. Chronisch hochbelastete Kinder hatte eine negativere Beziehung zum getrennt lebenden Vater als Belastungsbewältiger und Geringbelastete, waren häufiger mit ungelösten Partnerschaftsproblemen der Eltern konfrontiert, die einer erfolgreichen Neudefinition der Beziehung entgegenstanden, und mussten mehr Verschlechterungen im Erziehungsstil der Eltern hinnehmen“ (Walper 2011: 8).
Auch wird die Bewältigung von der jeweiligen Persönlichkeit und dem Temperament des Kindes beeinflusst, was daran deutlich wird, dass 75 Prozent der Geschwisterkinder unterschiedliche Reaktionen infolge der elterlichen Trennung zeigten (Schmidt-Denter/Beelmann 1995b). Des Weiteren ergaben sich durch die vierjährige Längsschnittuntersuchung Anhaltspunkte, dass eine Verringerung der kindlichen Belastung erfolgen kann, wenn sich die Eltern mit der Beendigung ihrer Paarbeziehung auseinandersetzen und eine Neudefinition ihrer Elternbeziehung gelingt (vgl. Schmidt-Denter/Beelmann/Trappen 1995: 26).
Trotz des Verdienstes der Scheidungsforschung, durch den ein Aufzeigen der Grenzen des Desorganisationsmodells möglich wurde und durch den die Bedeutsamkeit der Nachscheidungszeit für die weitere Entwicklung der einzelnen Mitglieder der Familie an Wichtigkeit gewann, weisen Fthenakis und Walbiner darauf hin, dass auch beim Reorganisationsmodell der Standpunkt, Trennung und Scheidung seien „eine abweichende Form der Familienentwicklung, nicht überwunden werden“ (Fthenakis/Walbiner 2008c: 3) konnte. Diese Überwindung würde in der zeitlich noch neueren Grundposition, dem Transitionsmodell deutlich. Bei diesem werden sowohl Scheidung, als auch Wiederheirat als Transition bezeichnet. Sie ist somit ein Übergang in der Familienstruktur, welcher in entwicklungspsychologischer Hinsicht auf unterschiedlichen Ebenen (individuell, Interaktional, kontextuell) bewältigt werden muss (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006: 117 f.). Damit werden sie „als Normalereignisse betrachtet und nicht als nicht-normative kritische Lebensereignisse. Hier besteht jedoch die Gefahr einer Verleugnung der Scheidungsrealität“ (Kirst 2014: 16).
Wie an den Ausführungen deutlich wurde, hat sich die Sicht auf Trennung und Scheidung stark gewandelt. So geht man nicht mehr von einem einmaligen, traumatischen Ereignis aus, welches in einem engen zeitlich begrenzten Rahmen abläuft, sondern von einem Prozess familialer Entwicklung (vgl. Kardas/Langenmayr 1996: 26). „Scheidung wird [somit] nun nicht mehr als singulares, die Familie endgültig auflösendes Ereignis betrachtet, sondern als komplexes, prozessuales Geschehen, welches lange vor der eigentlichen Scheidung beginnt und weit in die Nachscheidungsphase hineinreicht“ (Wilk/Zartler 2004: 22). Diesbezüglich wird im Folgenden auf den prozesshaften Verlauf von Trennung und Scheidung eingegangen.
2.5 Der Scheidungsprozess
Beim Blick in die Literatur zur Thematik Trennung und Scheidung fällt laut Watzlawik, Ständer und Mühlhausen auf, dass eine große Zahl an Modellen vorliegen, die den prozesshaften Verlauf der Trennung und Scheidung darstellen (vgl. Watzlawik/Ständer/Mühlhausen 2007: 49). Zu diesen zählen beispielsweise die Phasenmodelle von Bohannan, Kaslow und Turner, das Scheidungsmodell von Kessler und der Scheidungszyklus von Textor. All diesen Modellen ist gemeinsam, dass sie den Scheidungsprozess als phasenhaften Verlauf abbilden (möchten). Sie unterscheiden sich zumeist lediglich in der Anzahl der Phasen, die nicht jede_r in der gleichen Art durchlaufen muss (vgl. Djurdjevic 2003: 19-25). So unterteilt Bohannan den Prozess in seinem Modell, welches von vielen Autoren zitiert wird, in „six overlapping experiences“ (Bohannan 1971: 34). Bei diesem ist ihm laut Herzer nicht wichtig, dass die einzelnen Stadien in einer bestimmten Reihenfolge durchlebt werden müssen, sondern Komplexität und Vielfalt des Geschehens stehen für ihn im Vordergrund (vgl. Herzer 1998: 112 ff.).
Im Gegensatz zu Herzer verweisen Watzlawik, Ständer und Mühlhausen auf den Scheidungszyklus von Textor, welcher laut ihnen gegenwärtig zu den bekanntesten Reorganisationsmodellen zählt und auf den aus diesem Grund im Folgenden eingegangen wird. Bei diesem Modell, welches Trennung und Scheidung als einen zwei- oder mehrjährigen Prozess versteht, können von jedem einzelnen Mitglied der Trennungsfamilie drei Phasen (Vorscheidungsphase, Scheidungsphase, Nachscheidungsphase) erlebt werden, denn „[ k ] ein Mensch erlebt eine Scheidung auf dieselbe Weise wie ein anderer “ (Textor 1991: 13). Die einzelnen Phasen, welche daher nicht von allen Mitgliedern der Familie durchlebt werden müssen, obwohl sie die gleiche Situation erfahren, sind nicht scharf voneinander abgrenzbar (vgl. Watzlawik/Ständer/Mühlhausen 2007: 49 f.). „In jeder Phase wird die Familienstruktur reorganisiert, was zu Veränderungen im Denken, Fühlen und Handeln jedes einzelnen Familienmitgliedes führt und so auch den Umgang miteinander beeinflusst“ (Watzlawik/Ständer/Mühlhausen 2007: 50). Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass bei diesem Modell die Trennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften nicht explizit berücksichtig wurde. Abgesehen vom ‚fehlenden‘ singulären Scheidungsereignis, kann dieses meines Erachtens dennoch auch auf Elternteile, welche vor der Trennung nicht miteinander verheiratet waren bezogen werden.
Die Vorscheidungsphase
Der Beginn der Vorscheidungsphase ist in der Regel nicht genau zu definieren und festzulegen und kann zumeist nur zurückblickend bestimmt werden. Laut Textor liegt ihr Anfang in dem Zeitraum, in welchem Konflikte, die später zur Trennung führen, vermehrt auftreten. Das Ende dieser Phase, welches genau bestimmbar ist, wird markiert durch die Trennung der beiden Partner_innen (vgl. Textor 1991: 16).
Insgesamt ist diese Phase geprägt von einer sinkenden Zufriedenheit, häufigen Konfliktsituationen, abnehmender Kommunikation zwischen den Partner_innen und vielen gegenseitigen Vorwürfen. Zu Beginn leugnen beide Partner_innen ihre Unzufriedenheit noch (vgl. Watzlawik/Ständer/Mühlhausen 2007: 50). So „ziehen sich die Ehepartner langsam voneinander zurück, da sie einander nicht mehr viel zu sagen und zu geben haben. Sie leben nebeneinander her, empfinden immer weniger füreinander und erleben einander als distanziert“ (Textor 1991: 17). Bis sich diese Situation jedoch ‚auflöst‘ und die Partner_innen sich endgültig trennen, dauert es meist Jahre, was einerseits daran liegt, dass die Entscheidung sehr komplex erscheint und die Folgen der Trennung zumeist nicht absehbar sind, andererseits fürchten sich viele Partner_innen vor der endgültigen Entscheidung (vgl. Textor 1991: 21). Dies liegt auch daran, dass die Neigung in diesem Zeitraum groß ist, voreilig und spontan zu handeln sowie bereits getroffene Entschlüsse zu revidieren (vgl. Oberndorfer 2008: 29). Die Vorscheidungsphase kann aber auch insgesamt entfallen, wenn eine_r der beiden Partner_innen vor vollendete Gegebenheiten gestellt wird, in dem die Trennung durch die andere Person plötzlich erfolgt (vgl. Watzlawik/Ständer/Mühlhausen 2007: 50).
Laut Textor beschränken sich die Probleme jedoch meistens nicht auf die Partnerschaftsebene, sondern auch die in der Familie lebenden Kinder werden „ in Mitleidenschaft gezogen “ (Textor 1991: 20). Zum einen kommt der Trennungsentschluss ihrer Eltern zumeist unerwartet, da sie häufig „von ihren Eltern im Dunkeln gehalten werden, wenn diese ihre Partnerprobleme verheimlichen“ (Textor 1991: 24). Zum anderen ist diese Phase für sie aufgrund ihrer Ohnmacht und Unsicherheit hinsichtlich der häufig auftretenden Konflikte sehr bedrückend (vgl. Kirst 2014: 18). „Oft werden sie vernachlässigt oder mißhandelt, in pathogene Beziehungen wie Symbiosen verwickelt oder zu Sündenböcken, Bündnispartnern oder Vermittlern gemacht“ (Textor 1991: 20). Aus diesem Grund versuchen viele Kinder ihre Eltern durch die Entwicklung von symptomatischen Beschwerden oder durch Ausagieren von deren Konflikten abzulenken und so den Zusammenhalt der Familie zu erhalten oder aber Hilfe von außen zu beziehen (vgl. Textor 1991: 20).
Die Scheidungsphase
Ihren Beginn hat die Scheidungsphase mit der unwiderruflichen Trennung der Partner_innen, das Scheidungsurteil bildet ihren Endpunkt. Die Phase erstreckt sich, auch aufgrund der Vorschriften, welche die Gesetze vorgeben, bis auf wenige Ausnahmen über den Zeitraum von mindestens einem Jahr, kann jedoch auch über mehrere Jahre andauern. Sie lässt sich generell in zwei Zeiträume unterteilen: die Phase nach der endgültigen Trennung und die Zeitspanne um die gerichtliche Scheidung herum (vgl. Textor 1991: 25).
Der Zeitraum unmittelbar in Folge der Trennung erfordert von allen Personen der Familie eine Vielzahl innerer und äußerer Anpassungsleistungen (vgl. Kirst 2014: 18). Mit der Trennung gehen eine Menge an Veränderungen im sozialen, psychischen, beruflichen und finanziellen Bereich einher (vgl. Textor 1991: 26). „Lebensweisen, Gewohnheiten, Rollen, Selbstbild ändern sich; die interpersonale Umwelt verhält sich ihnen gegenüber anders. Jeder Getrenntlebende reagiert auf die Veränderungen auf ganz individuelle und einzigartige Weise“ (Textor 1991: 26). Aus diesem Grund reichen die Gefühle von Schmerz und Trauer bis hin zu Wut, Hass und Zorn. Insbesondere letztere, starke negative Emotionen führen oftmals zur Austragung von Machtkämpfen und dazu, dass die Situation außer Kontrolle gerät. Trotz allem besteht in dieser Phase die Notwendigkeit, Regelungen bezüglich der gemeinsamen Kinder und Besitztümer zu treffen. Dies erfordert von den betroffenen Personen, dass nicht nur die Beziehung zwischen den ehemaligen Partner_innen neu gestaltet werden muss, sondern auch die Eltern-Kind-Beziehung einer Reorganisation bedarf (vgl. Watzlawik/Ständer/Mühlhausen 2007: 52 ff.). Für die Kinder erscheint diese Phase zwar einerseits weiterhin eine Belastung darzustellen, da die elterliche Trennung für sie auch durch einen möglichen Umzug den Verlust ihres bisherigen sozialen Umfeldes bedeuten kann, andererseits kann die räumliche Trennung ihrer beiden Elternteile und die damit verbundene Abnahme der familiären Konflikte eine Entlastung darstellen (vgl. Kirst 2014: 18 f.).
Im zweiten Zeitraum der Scheidungsphase erfolgen die Vorbereitung des Scheidungsverfahrens und das Aussprechen des rechtskräftigen Scheidungsurteils (vgl. Watzlawik/Ständer/Mühlhausen 2007: 55). Laut Hötker-Ponath bedeutet das Scheidungsereignis aufgrund seiner Endgültigkeit zwar einen Einschnitt, es wird von den Betroffenen jedoch meistens nicht so belastend empfunden wie die Trennung (vgl. Hötker-Ponath 2009: 140). Durch dieses wird das Subsystem der beiden Partner_innen offiziell aufgelöst, das Eltern-Kind-Subsystem bleibt hingegen bestehen. Und obwohl die beiden ehemaligen Partner_innen Eltern ihrer Kinder bleiben, wird das Subsystem Eltern-Kind starken Reorganisationen unterzogen. Dabei werden die Kinder immer wieder in Konflikte involviert, vor allem dann, wenn es um Regelung zum Sorgerecht geht (vgl. Watzlawik/Ständer/Mühlhausen 2007: 55).
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