Geschlechtsspezifischer Schriftspracherwerb


Hausarbeit, 2002

29 Seiten, Note: 1


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Geschlechterdifferenzen in schriftsprachlichen Leistungen

2. Herkömmliche Erklärungsmodelle für Geschlechterdifferenzen
- Physiologischer Erklärungsmodelle
- Sozialisationstheoretische Erklärungsmodelle

3. Sozio-psycholinguistisches Erklärungsmodell
- Interessenbezogenes Rechtschreiblernen
- Jungen- u. Mädchenwörter
- Der Wortschatz in Fibeln

4. Umsetzung des interessenbezogenen Rechtschreiblernens
- „Lesen durch Schreiben“ (Reichen)

Literaturverzeichnis

1. Geschlechterdifferenzen in schriftsprachlichen Leistungen

Die meisten Daten über Geschlechtsunterschiede bei schriftsprachlichen Leistungen scheinen auf der Erforschung der Lese-Rechtschreibschwäche zu beruhen. Hierbei bewegen sich die Verhältniszahlen zwischen 4:1 und 8:1 zu Lasten der Jungen. Es gibt jedoch auch eine Studie, die nahe legt, dass die üblicherweise gefundenen Verhältniszahlen auf einem „sex bias“ basiert, weil nämlich „Lernbehinderungen“ häufiger Jungen als Mädchen zugeschrieben werden.

Auch weitere Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass sich die höhere Betroffenheit der Jungen von Lese-Rechtschreibschwäche, die sich aus Lehrereinschätzungen ergibt, in Testuntersuchungen nicht bestätigt werden kann.

Was sind die relevanten „Voraussetzungen“ für das Lesen- und Schreibenlernen?

Geschlechterdifferenzen in Vorläuferfertigkeiten

Bei der Konstruktion von „Reading Readiness Tests“ wurde ein recht hoher Zusammenhang zwischen schriftsprachnahen Leistungen (z.B. Buchstabenkenntnis) am Schulanfang und späteren schriftsprachlichen Schulleistungen gefunden.

In diesem Modell wird angenommen, dass Kinder zum Lesen- und Schreibenlernen bestimmte Einsichten in die Prinzipien und in die Verwendungsformen von Schriftsprache benötigen, die als die eigentlichen “Voraussetzungen“ anzusehen sind.

(Z.B. dass zwischen Malen und Schreiben ein Unterschied besteht, dass Zahlen und Buchstaben zu verschiedenen Zeichensystemen gehören, dass die Schrift die Lautfolge abbildet, nicht den bezeichneten Gegenstand).

Aus kognitionspsychologischer Sicht geht es u.a. um das Bewusstwerden von Lernstrategien, die Fähigkeit, über Sprache objektiv nachzudenken, und das Verstehen, dass Schrift Bedeutung und Information trägt. Wenn die Kinder falsche oder ungenügend entwickelte Konzepte über die Schriftsprache haben, wird der Schriftspracherwerb behindert.

Diese Konzepte der Kinder entwickeln sich in der Vorschulzeit durch den naiven Umgang mit (Schrift-) Sprache. Da Kinder diese Erfahrungen unterschiedlich intensiv machen, sind am Schulanfang erhebliche Unterschiede in diesen Voraussetzungen zu erwarten und auch festzustellen.

Die Fähigkeit zum bewussten Umgang mit gesprochener Sprache wird zur Voraussetzung des Schriftspracherwerbs. Solche „meta-sprachlichen“ Leistungen die auch unter dem Begriff „phonologische Bewusstheit“ zusammengefasst werden, sind z.B. Laute Verbinden und Wörter Segmentieren.

Es wird der Zusammenhang zwischen der „phonologischen Informationsverarbeitung“ und späteren Schriftsprachleistungen erforscht. Die bereits vorliegenden Ergebnisse lassen auf einen bedeutsamen Zusammenhang schließen.

Untersuchungsergebnisse

Das herausragende Ergebnis ist, dass die Mädchen fast doppelt so viele orthographisch richtige Wörter aufschrieben wie die Jungen. Fasst man die Kinder nach ihrem Abschneiden bei der Erhebung in Leistungsgruppen zusammen, so zeigt sich, dass bezogen auf den Index die Jungen unter den leistungsstärksten 10% mit 21,7% vertreten sind, bei den leistungsschwächsten dagegen mit 82,6%.

Mit einem zusammenfassenden „Risikowert“, der sich im Längsschnitt als treffsicher erwiesen hat, kommt MANNHAUPT zu einem Geschlechterverhältnis von 4:1 zu Lasten der Jungen in der Gruppe derer, bei denen schon aufgrund ihrer Eingangsvoraussetzungen mit Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb zu rechnen ist.

Außerdem waren auch bei den Lesevoraussetzungen mehr Mädchen in der Spitzengruppe als Jungen, in der Gruppe der unteren 10% waren dagegen zweimal soviel Jungen wie Mädchen.

Im Zusammenhang mit den Vorläuferfertigkeiten ist auch von Interesse, dass am Schulbeginn mehr Mädchen als Jungen lesen können (Bei Mädchen um etwa ein Drittel höherer Anteil).

Die Untersuchungen zur Frage von Geschlechterdifferenzen in den für den Schriftspracherwerb relevanten Fähigkeiten können also zusammengefasst werden:

Mädchen kommen mit insgesamt größerer Schriftspracherfahrung in die Schule, was sich in der Fähigkeit zum Schreiben von Wörtern zeigt und darin, dass unter den „Frühlesern“ mehr Mädchen als Jungen sind.

Das Verhältnis von Jungen und Mädchen unter Risikokindern liegt nach einem Vorschul-Screening etwa bei 4:1.

Geschlechterdifferenzen in der Rechtschreibleistung im Verlauf der Schulzeit

Die These von der allgemeinen Überlegenheit der Mädchen im Rechtschreibunterricht lässt sich durch die Eichuntersuchungen verschiedner deutscher Rechtschreibtests eindeutig belegen. Dies gilt über alle Jahrgangsbereiche, für die Tests vorliegen, und für fast alle Schulformen. Jungen und Mädchen unterscheiden sich statistisch signifikant.

Bei aller Unterschiedlichkeit der Klassenstufen, die regionale Zuordnung und die Aufgaben bestätigen alle zwei Trends:

- Die Mädchen sind von der 2. - 9. Klasse signifikant überlegen.
- Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, sind in allen Untersuchungen zu allen Messzeitpunkten die Mädchen in der oberen und die Jungen in der unteren Leistungsgruppe überrepräsentiert.

Die Untersuchungen legen nahe, dass in der Rechtschreibentwicklung der Jungen irgendwann zwischen der Mitte des 2. Halbjahres bis zum Abschluss der 2. Klasse ein Bruch entsteht, bzw. ein Punkt, von dem an sie sich - im Durchschnitt – langsamer entwickeln als die Mädchen.

Zusammengefasst kann man also feststellen:

Jungen beginnen den schulischen Schriftsprachunterricht mit gleich guten „technischen“ Fähigkeiten wie die Mädchen (Buchstabenaufschreien, Laut-Buchstabe-Zuordnung, Vergleich von Schriftbildern), sind ihnen aber bei der komplexeren Leistung des Aufschreibens von Wörtern unterlegen, die auch als Hinweis auf „Interesse am Schreiben“ interpretiert werden kann.

Den Jungen gelingt mit ihren Eingangsvoraussetzungen der Einstieg in den (schulischen) Schriftspracherwerb und damit in das Eindringen in die Logik der Schriftsprache in gleichem Umfang wie den Mädchen. Danach aber verläuft die Entwicklung der Mädchen schneller. Der Rückstand der Jungen bleibt bis zum Ende der 9. Klasse erhalten.

Diese Ergebnisse lassen zwei Interpretationen zu: Entweder werden im Verlauf der 1. und evtl. auch der 2. Klasse komplexere schriftsprachliche Fähigkeiten notwendig, über die männliche Individuen in geringerem Umfang verfügen. Gegen diese Sicht spricht, dass die Korrelation der Aufgabe „Eigene Wörter“ mit den später gemessenen Leistungen eher niedriger war als mit den übrigen Prädiktoren.

Die zweite Erklärungsmöglichkeit ist, dass sich der Schriftsprachunterricht ab den genannten Zeitpunkten zunehmend von den Interessen der Jungen entfernt, sie also nicht mehr in demselben Umfang wie die Mädchen erreicht.

Geschlechterdifferenzen in der Leseleistung während der Schulzeit

Die im Durchschnitt höhere Lesefertigkeit der Mädchen kann im Zusammenhang gesehen werden, mit ihrem durchschnittlich höhere Interesse am Lesen.

Zusammenfassung:

- Im Bezug auf Geschlechterdifferenzen in schriftsprachlichen Leistungen kann auf Grund vielfältiger Untersuchungen als gesichert gelten, dass Mädchen mit einer größeren Fähigkeit zum Aufschreiben ganzer Wörter in die Schule kommen. Hinsichtlich anderer Einsichten in das Wesen und den Aufbau der Schrift unterscheiden sich die Geschlechter dagegen am Schulanfang nicht.
- Der Einstieg in den schulischen Schriftspracherwerb scheint den Jungen ebenso gut zu gelingen wie den Mädchen. Aber irgendwann zwischen dem 2. und dem 4. Schulhalbjahr werden sie von den Mädchen überholt. Den Jungen gelingt es bis zum Ende der Sekundarstufe I nicht, ihren Rückstand aufzuholen.
- Der Leistungsvorsprung der Mädchen betrifft sowohl das Lesen als auch die Rechtschreibung. Er zeigt sich in der Rechtschreibung bei unterschiedlichem Wortmaterial und bei unterschiedlichen Aufgaben und deckt das ganze Spektrum orthographischer Schwierigkeiten ab.
- Repräsentativuntersuchungen aus Österreich, Frankreich und den USA lassen den Schluss zu, dass sich der für die Schule gefundene Trend weiblicher Überlegenheit im Erwachsenenalter fortsetzt.
- Die statistisch bedeutsamen Unterschiede dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Leistungsverteilungen der Geschlechter stark überlappen: Es gibt auch sehr gute (männliche) Schreiber und Leser und sehr schlechte Schreiber- und Leserinnen. Die guten Leser – so legt es eine befragung nahe – werden aber von den Lehrpersonen häufi nicht als solche wahrgenommen. Wahrscheinlich werden hier geschlechterdifferentielle Erwartungshaltungen sichtbar, die die Wahrnehmung beeinflussen, ähnlich wie es im Bereich „Mädchen und Mathematik/ Naturwissenschaften/ Technik“ deutlich wird.
- Speziell für den Bereich des Rechtschreibens kann aber als durch Fakten belegbar gelten, dass in der Gruppe der Leistungsstarken die Mädchen und in der Gruppe der Leistungsschwachen die Jungen erheblich überrepräsentiert sind.

2. Herkömmliche Erklärungsmodelle für Geschlechterdifferenzen

2.1 Physiologische Erklärungsmodelle

Eine Disposition muss drei Bedingungen erfüllen, um als „angeboren“ angesehen werden zu können: Sie muss universal sein (in allen Gesellschaften vorfindbar) , phylogenetische Kontinuität besitzen (zumindest auch bei Primaten vorfindbar) und eine physiologische Basis haben.

Es sollen nun zunächst Argumente und Forschungsergebnisse aus der Biologie dargestellt werden.

Die physiologische Grundlegung von geschlechterspezifischen Verhaltenstendenzen kann als die unterschiedliche Organisation des Gehirns (geschlechterspezifische Organisation des Gehirns) vermutet werden, die durch Einwirkung von Geschlechtshormonen während der Embryonalzeit entsteht.

In der Diskussion um Geschlechterdifferenzen wird immer wieder die unterschiedliche Arbeitsweise der beiden Hirnhälften zur Erklärung herangezogen.

Es besteht die Annahme, dass räumliche Leistungen in der rechten und sprachliche in der linken Hirnhälfte konzentriert sind.

Diese strenge Spezialisierung der Hirnhälften liegt jedoch nur bei Männern vor, während sich die sprachlichen und die visuell-räumlichen Leistungen bei den Frauen in beiden Hirnhälften überschneiden.

Einigkeit herrscht bei den Forschern darüber, dass sich die Geschlechter in Bezug auf die Lateralisierung (Lateralität: das Vorherrschen, die Dominanz einer Körperseite) der Hemisphären (Großhirnhälften) unterscheiden. Der Hauptunterschied wird darin gesehen, dass das Gehirn bei Männern stärker asymmetrisch organisiert ist als bei Frauen, d.h. die Spezialisierung jeder Hirnhälfte ist bei Männern ausgeprägter.

Die unterschiedliche Hemisphären-Spezialisierung wird als Vorteil der Frauen betrachtet, da sie sozusagen „mit beiden Hirnhälften“ lesen und schreiben können.

Bei Untersuchungen an Rattengehirnen stellte man bei männlichen Tieren eine dickere rechte Hemisphäre und bei weiblichen eine dickere linke fest. Bei dieser Entstehung ist der Einfluss von Sexualhormonen wirksam.

Auch wurde festgestellt, dass das Splenium (das hintere Drittel des Balkens zwischen den Hirnhälften) bei Frauen größer ist als bei Männern. Die Dicke des Balkens kann auf eine größere Anzahl von verbindenden Nervenfasern hinweisen, was ein besseres Zusammenwirken der Hirnhälften ermöglicht, also zu einer geringeren Lateralisierung führt.

Die Leistungsunterschiede im mathematischen Bereich und in der Sprache werden mit der unterschiedlichen Lateralisierung in Verbindung gebracht. Jedoch raten die Forscher selbst auch zu Vorsicht bei der Interpretation der Ergebnisse.

Neurophysiologische Erklärungen für Geschlechterdifferenzen im Schriftsprachbereich

Als „Sitz“ der menschlichen Sprache wurden lange Zeit das motorische und das semantische Sprachzentrum in der linken Hirnhälfte angesehen.

Nach neueren Untersuchungen wird die Bedeutung der Sprachzentren für die Sprachverarbeitung nicht grundsätzlich geleugnet, aber sie wird relativiert. Es wird angenommen, dass bestimmte Leistungen von bestimmten Hirnbereichen unterstützt werden, nicht aber, dass sie dort lokalisiert sind.

[...]

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Geschlechtsspezifischer Schriftspracherwerb
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Lehramt an Grundschulen)
Veranstaltung
Didaktik Deutsch
Note
1
Autoren
Jahr
2002
Seiten
29
Katalognummer
V4277
ISBN (eBook)
9783638126489
Dateigröße
604 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Geschlechtsspezifischer, Schriftspracherwerb, Didaktik, Deutsch
Arbeit zitieren
Natascha Finger (Autor:in)Gerlinde Weinzierl (Autor:in), 2002, Geschlechtsspezifischer Schriftspracherwerb, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/4277

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