Leseprobe
Gliederung
1. Fragestellung
2. Einleitung
3. Liberale Theorie der internationalen Politik
3.1. Liberaler Intergouvernementalismus
3.2. Neofunktionalismus
4. Europäische Integration
5. Liberaler Intergouvernementalismus und die Europäische Integration
6. Fallbeispiel „Osterweiterung“ der Europäischen Union
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis
1. Fragestellung
Ist die Entwicklung der Europäischen Integration ein Beleg für die Liberale Theorie der internationalen Politik?
2. Einleitung
Die Fragestellung, wie der Prozess der Europäischen Integration erklärbar ist, hat deshalb Relevanz, da hierdurch ähnliche vergangene, aktuelle und zukünftige Prozesse besser verstanden und gegebenenfalls vorhergesehen werden können.
Um die Frage, ob sich die Europäische Integration mit der Liberalen Theorie der internationalen Politik erklären lässt, ist zunächst eine Begriffsklärung notwendig:
Was kennzeichnet die Liberale Theorie im Kontext der internationalen Politik? Was ist überhaupt „Integration“? Welcher Prozess im Einzelnen wird mit „Europäische Integration“ gemeint?
Auf den folgenden Seiten werde ich die Liberale Theorie der internationalen Politik, im Speziellen den Liberalen Intergouvernementalismus sowie den Neofunktionalismus, und die Europäische Integration erläutern und verknüpfen. Als spezielles Fallbeispiel der Europäischen Integration habe ich die Osterweiterung der Europäischen Union im Jahre 2004 ausgewählt.
Abschließend folgt ein Fazit, ob die Liberale Theorie geeignet ist die Europäische Integration hinreichend zu erklären.
3. Liberale Theorie der internationalen Politik
„Das Völkerrecht soll auf einem Föderalism freier Staaten gegründet seyn. […] Dies wäre ein Völkerbund, der aber gleichwohl kein Völkerstaat seyn müßte. [sic]“ (Kant, 1795, S. 30)
Der deutsche Philosoph Immanuel Kant kann als früher liberaler Vertreter der internationalen Beziehungen bezeichnet werden. Seine Idee des Friedens durch Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Völkerbund ist auch heute noch aktuell und bildet den Kern der Liberalen Theorie der internationalen Politik. (vgl. Krell, 2004, S. 31)
Heute liegt der Fokus der Analyse in der liberalen internationalen Theoriebildung anders als beispielsweise beim Realismus nicht in der Machtverteilung, sondern bei den staatlich organisierten Gesellschaften. Auch die Interessen der Staaten ergeben sich aus deren Gesellschaften statt aus vorgefertigten und feststehenden Vorstellungen. Deshalb wird aus liberaler Sicht beispielsweise nicht das Handeln des Staates vom internationalen System bestimmt, vielmehr entscheiden Akteure, die ihren jeweiligen individuellen materiellen und ideellen Interessen nachgehen, über das internationale System. Diese Interessen können von Akteur zu Akteur unterschiedlich sein und bilden sich unabhängig von anderen Staaten heraus. (vgl. Krell, 2004, S. 189)
Der Liberalismus zählt neben dem Realismus zu einer Großtheorie innerhalb der internationalen Politik. Doch alleine der Liberalismus lässt sich in eine Vielzahl kleinerer Theorien einteilen, sodass zahlreiche Theorien in den internationalen Beziehungen existieren dürften. Im Folgenden möchte ich zum einen auf den intentional argumentierenden Liberalen Intergouvernementalismus sowie zum anderen auf den Neofunktionalismus eingehen.
3.1. Liberaler Intergouvernementalismus
Der Liberale Intergouvernementalismus gehört zu den analytischen Theorien zur Europäischen Integration. Es wird auf intergouvernementaler Erklärungsebene nach intentionalem Erklärungsmodus argumentiert. Andrew Moravcsik gilt als Begründer dieser Theorie; diese beruht maßgeblich auf drei Annahmen:
- der Staat agiert als rationaler Nutzenmaximierer
- die nationale Präferenzbildung folgt der Liberalen Theorie
- die zwischenstaatlichen Verhandlungen sind intergouvernemental
Der erste Punkt der Nutzenmaximierung ist simpel ausformuliert; die Akteure, im Falle der Europäischen Integration Nationalstaaten, unterwerfen sich einem möglichst optimalen Kosten-Nutzen-Kalkül und agieren ausschließlich rational.
Die Liberale Theorie der nationalen Präferenzbildung sagt aus, dass auf nationaler Ebene verschiedene Interessensgruppen wie politische Parteien, Gewerkschaften, Lobbyisten oder andere Vertreter in einem pluralistischen Wettbewerb die von den Regierungen vertretenen und ausgedrückten Vorstellungen bilden. Diese Vorstellungen formen schließlich das internationale politische System.
Beim letzten Punkt, der zwischenstaatlichen Verhandlung, ist eine etwas längere Erläuterung notwendig: Die zunehmenden vielfältigen Beziehungen zwischen Staaten führen unweigerlich zu negativen Externalitäten. Hierdurch kommt es zwangsläufig zu asymmetrischen Kosten-Nutzen-Verteilungen zwischen den Akteuren, sodass es, für die von den negativen Externalitäten betroffen Akteuren rational – siehe Punkt 1 – ist, dieses durch internationale Kooperation auszugleichen. Erfolgreiche Kooperation – hier Integration – kann allerdings nur entstehen, wenn sich die Interessen der Akteure einander angleichen. Um die Interessen anzugleichen, bedarf es zwischenstaatlicher Verhandlungen – bei diesen Verhandlungen ist die Regierung im Vorteil welche in der Lage ist
- negative Externalitäten zu beseitigen, indem anderen Akteuren Zugang zu begehrten Märkten oder ähnlichem gewährt wird
- Politikinhalte zu verändern, die andere Akteure verändert sehen wollen
- Ressourcen zu verteilen, die andere Akteure verlangen
Hier gilt, je mehr ein Akteur eines oder mehrere der obigen Punkte verlangt, desto schwächer ist seine Verhandlungsposition und desto eher ist dieser Akteur bereit Kompromisse einzugehen um sein vorrangiges Ziel zu erreichen.
Ein wichtiger Punkt beim Liberalen Intergouvernementalismus ist der staatliche Handlungsspielraum welcher nicht unwesentlich durch die Verhandlungsmacht der Regierung und den Druck der nationalen sozialen Gruppen beeinflusst wird. Dies heißt, dass ein Staat über mehr Handlungsspielraum, gerade in Verhandlungen mit anderen Akteuren, verfügt, wenn der Druck der nationalen sozialen Gruppen verhältnismäßig schwach ist. Somit nehmen die nationalen sozialen Gruppierungen in dieser Theorie eine überaus wichtige Rolle ein. (vgl. Neyer/Wolf, 1996, S. 404f) (vgl. Faber, 2005, S. 129f)
Supranationale Institutionen wie die EU-Kommission oder der Europäische Gerichtshof haben in diesem Paradigma eine untergeordnete Rolle; die wahre Entscheidungsmacht liegt bei den „großen“ Staaten wie Deutschland oder Frankreich. (vgl. Hüttmann / Wehling, 2013, S. 357f)
3.2. Neofunktionalismus
Der Neofunktionalismus beschrieb bereits in den späten 1950er Jahren Integrationsprozesse, insbesondere die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (kurz EGKS) von 1951, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (kurz EWG) von 1957 sowie der Europäischen Atomgemeinschaft (kurz Euratom) von 1957. Begründet wurde diese Theorie vom US-Amerikaner Ernst B. Haas. (vgl. Faber, 2005, S. 38f)
Da der Neofunktionalismus vor dem Hintergrund der frühen westeuropäischen Integration entwickelt wurde und Haas Europa als „lebendes Laboratorium“ (Faber, 2005, S. 41) verstanden hat, lauten die Grundprämissen
- pluralistisches westeuropäisches Gesellschaftsbild
- technisch-funktionalistisches Staatsverständnis, Fokus allen politischen Handelns liegt auf Wohlfahrtsmaximierung
- politische Akteure handeln rational, nutzen- und gewinnmaximierend und sind lernfähig
(vgl. Faber, 2005, S. 42). In dieser Theorie wird neben den drei Grundprämissen von folgenden drei Hauptakteuren ausgegangen:
- politische, ökonomische und gesellschaftliche Eliten
- supranationale Institutionen
- Regierungen der Mitgliedsstaaten, deren im Ministerrat versammelten Vertreter das formale Machtzentrum repräsentieren
Haas nennt die Eliten – namentlich unter anderem Entscheidungsträger in Regierungen, Lobbyisten, höhere Beamte, Arbeitnehmervertreter oder Unternehmer – als wichtigste Akteure. (vgl. Faber, 2005, S. 45f)
Die Integration wird im Neofunktionalismus vor allem durch „spill-over“ Effekte erklärt. Im Einzelnen sind dies funktional-wirtschaftliche, politische und geographische Effekte. (vgl. Faber, 2005, S. 47f) Als Beispiel kann hier die Einführung des Euros als Reaktion auf die Errichtung eines gemeinsamen Binnenmarktes angeführt werden. Die Europäische Integration folgt dem Prinzip „form follows function“, das heißt, die institutionelle Struktur der Europäischen Union (kurz EU) ergibt sich aus den jeweiligen Sachproblemen (vgl. Hüttmann / Wehling, 2013, S. 357f) (vgl. Lemke, 2012, S. 199)
Abschließend lässt sich bezüglich des Neofunktionalismus festhalten, dass diese Theorie zum einen eher deskriptiv ausgerichtet ist und zum anderen ausschließlich auf Europa bzw. Westeuropa fokussiert ist. Haas betrachtete beim Verfassen seiner Thesen lediglich die jüngere Nachkriegsentwicklung Europas und den Status quo.
Aus diesen Gründen kann meiner Meinung nach die Europäische Integration mit dieser sehr bekannten Theorie nicht hinlänglich erklärt werden, da die „Hochphase“ der Integration erst Jahrzehnte später einzuordnen ist. Haas sah weder dies umfassend noch den kurzzeitigen „Einbruch“ der Integration in den 1960ern durch Frankreichs „Politik des leeren Stuhls“ voraus. (vgl. Faber, 2005, S. 55)
4. Europäische Integration
Integration an sich kann vor dem Hintergrund der internationalen Beziehungen unter anderem Prozess, Zustand, Gegensatz zu Konflikt oder auch Interdependenz von Akteuren bedeuten. Akteure können in diesem Kontext als jegliche Art sozialer Einheit – vom Individuum über eine Stiftung bis hin zu Unternehmen, Nationalstaat und multinationaler Einrichtung – verstanden werden. Integration zwischen diesen Akteuren kann nur aus territorialer und funktionaler Nähe entstehen. Territoriale und funktionale Nähe bildet sich wiederum entweder aus Ähnlichkeit oder Interdependenz heraus. (vgl. Tudyka, 1971, S. 62ff)
Da die an der Europäischen Integration beteiligten Akteure nicht als ähnlich gelten können – schließlich handelt es sich um sozial, kulturell und politisch-normativ unterschiedliche Nationalstaaten (vgl. Bieling, 2006b, S. 93) – kann die Europäische Integration am ehesten mit Interdependenz beschrieben werden.
Gleichzeitig wird der Integrationsprozess gekennzeichnet durch den Wunsch und die Fähigkeit vormals unabhängige innen- und außenpolitische Entscheidungen zugunsten gemeinsamer Entscheidungen aufzugeben und diesen Entscheidungsfindungsprozess an neugeschaffene zentrale Organe zu delegieren. (vgl. Faber, 2005, S. 50) (vgl. Lemke, 2012, S. 173) Hierbei wird ein „größeres Ganzes“ (Bieling, 2006a, S. 13) gebildet.
Gemäß diesen Definitionen der Integration kann man folgende Eckdaten der Europäischen Integration nennen:
- 1951: Gründung EGKS
- 1957: Gründung EWG und Euratom (Verträge von Rom)
- 1979: Erste Direktwahl des Europäischen Parlaments (kurz EP)
- 1992: Vertrag von Maastricht, Gründung der EU
- 2002: Einführung des „Euro“
Dazu kommen diverse Erweiterungen der Mitgliedsstaaten. (vgl. Wolff, 2015, S. 70) Durch diese Prozesse kann zusammenfassend festgehalten werden, dass die Europäische Integration einen europäischen Binnenmarkt geschaffen hat welcher zunehmend erweitert wurde.
Abschließend ist anzuführen, dass dieser Prozess ein fortlaufender und nicht abgeschlossener Vorgang ist.
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