Natur und Subjekt am Beispiel der "Auferstehungsszene" in Jean Pauls "Die unsichtbare Loge" und der "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei" im "Siebenkäs"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2018

24 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Der Entstehungsprozess der Unsichtbaren Loge und des Siebenkäs
2.1 Die Entstehungsgeschichte der Unsichtbaren Loge
2.2 Entstehungsgeschichte der „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“

3 Die Erzählhaltung in den Szenen „Auferstehung“ und „„Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“
3.1 Die Erzählhaltung in der „Auferstehung“
3.2 Die Erzählhaltung in der „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß
kein Gott sei“

4 Natur und Subjekt in den Szenen „Auferstehung“ in Der Unsichtbaren Loge und „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“ im Siebenkäs
4.1 Natur und Subjekt in der „Auferstehungsszene“
4.2 Natur und Subjekt in der „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß
kein Gott sei“

5 Schlussbetrachtung

Quellen- und Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Er verlebte, verschrieb und versaßganze Tage im Freien, auf Bergen und in Wäldern, und im Winter sah er zum Fenster hinaus nach seinen lieben Sternen und Abendröthen und nach dem alten Geister- und Zaubermeister, dem Monde. Ihm gefiel Alles an seiner geliebten Natur und sogar an den elendesten Jahreszeiten.“[1]

Die hier zitierte Textstelle, die von Jean Pauls Nachlassverwaltern stammt, beschreibt seine intensive Beschäftigung mit der Natur. Schon als junger Mann faszinierten ihn die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaft und er begann, sich intensiv mit diesen zu beschäftigen. Neben der reinen Naturwissenschaft beschäftigte er sich zudem mit den philosophischen Schriften Herders, Leibniz’ und Kants. Aber auch die Unsterblichkeit der Seele spielte bei Jean Paul eine große Rolle. So gab er sich mit der konventionellen Idee von Tod und Auferstehung nicht zufrieden. Für ihn existiert eine „zweite Welt“, die er mithilfe philosophischer und naturwissenschaftlicher Studien in seinen Romanen erläuterte.

Ziel dieser Arbeit ist es, das Zusammenspiel zwischen Natur und Subjekt in der „Auferstehungsszene“ in der Unsichtbaren Loge und der „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“ im Siebenkäs zu analysieren. Um dies in seiner Gesamtheit zu verstehen, ist es notwendig, zum einen eine kurze Genese zu den zwei Romanen zu geben, zum anderen die Erzählhaltung in beiden Romanen zu beleuchten. Anschließend widmet sich das vierte Kapitel speziell dem Aspekt des Zusammenspiels zwischen Natur und Subjekt.

Obwohl es zahlreiche Forschungen zu Jean Paul gibt, beschäftigen sich nur wenige Autoren mit dem Zusammenspiel von Natur und Subjekt. Während Elvira Steppacher in ihrer Dissertation[2] eine fundierte Analyse zu der oben genannten Leitfrage veröffentlichte, ist es im Hinblick auf die „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“ schwer, aus dem Konglomerat an Fachliteratur geeignete Analysen zu finden. Der wohl geeignetste Text stammt von Claudia Becker[3] und befindet sich in dem von Gerhard Kaiser herausgegebenen Sammelband „Poesie der Apokalypse“.

2 Der Entstehungsprozess der Unsichtbaren Loge und des Siebenkäs

Im ersten Teil der Arbeit sollen die beiden ausgewählten Szenen „Auferstehung“ in Jean Pauls Die unsichtbare Loge und „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“ in Jean Pauls Siebenkäs im Kontext ihrer Entstehungsgeschichte analysiert werden. Da die „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“ als eine der berühmtesten Dichtungen der Schwarzen Romantik gilt, soll diese aufgrund ihrer speziellen Entstehungs- und Wirkungsgeschichte gesondert analysiert werden. Während es sich bei der ‚unsichtbaren Loge‘ um Johann Paul Friedrich Richters ersten Roman handelt, der Anfang März 1793 unter dem Titel Die Unsichtbare Loge. Eine Biographie veröffentlicht wurde,[4] erschien der satirische Roman Siebenkäs, in dem die „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“ integriert ist, erstmals 1796.[5]

2.1 Die Entstehungsgeschichte der Unsichtbaren Loge

Wie bereits oben erwähnt, handelt es sich bei der unsichtbaren Loge, in der die Auferstehungsszene eingebettet ist, um Richters ersten Roman. Nachdem Richter im März 1790 das Hofmeisteramt an der Winkelschule in Schwarzenbach antrat, begann er am 15. März 1791 mit der Niederschrift. Als Lehrer bildete er tagtäglich seine Schüler zu Schriftstellern aus, weshalb es ihm nur nachts möglich war, seinem Roman nachzugehen. Da er sich als „Informator“ sah, verarbeitete er außerdem seine Erfahrungen mit den Schülern in seinem Roman, um zugleich einen Erziehungsroman zu schaffen. Es entsteht zusammenfassend ein geschlossener Schriftkreislauf, der für Jean Paul nicht untypisch war.[6]

Bereits im Februar 1792 berichtete er seinem Freund Christian Otto stolz, den er zu seinem ersten Leser und Rezensenten auserkoren hatte, dass die Arbeit am Roman nun abgeschlossen sei, obwohl dieser keinen Schluss besaß. Für Richter war es nicht elementar, etwas fertigzustellen, sondern der Fokus lag auf dem Weiterschreiben, auf dem Besserschreiben. Im gleichen Brief an Otto beschreibt er zudem seinen ersten Roman bereits als corpus vile, ein Versuchsobjekt, das nur dazu gebraucht wurde, das Handwerk des Romanschreibens zu erlernen. Weiter ergänzt er, dass er schon etwas „besseres“ im Kopf habe.[7] Hiermit meint er den Hesperus, der dazu dienen soll, den Roman Die unsichtbare Loge auf einer höheren Stufe fortzusetzen.[8] Nach Höllerer ist dies ein einmaliger Vorgang in der Literaturgeschichte.[9]

2.2 Entstehungsgeschichte der „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“

Die „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“ ist in dem Roman Siebenkäs als „Erstes Blumenstück“ integriert und befindet sich zwischen dem zweiten und dritten Bändchen des Werkes. Als Kern der „Rede“ diente eine aus Hof stammende Lokalsage.[10] In dieser wird berichtet, dass sich eine fromme Matrone um Mitternacht zur St. Lorenz Kirche begab, in der Meinung, es sei Zeit zur Engelsmesse. In der Kirche erblickte sie allerdings einen unbekannten Pfaffen, der die Messe las. Auch die Leute in der Kirche erschienen ihr gänzlich unbekannt, darunter „[...] ein Theil ohne Köpfe, auch unter denselben etliche, die ohnlängst verstorben waren, und die sie in ihrem Leben wohl gekannt hatte.“[11]

Nachdem sie sich voller Furcht auf einen Stuhl der Kirche saß, zupfte ihr Taufpate, der zwei Woche zuvor verstorben war, am Pelzkragen und sprach:

„[Ei] liebe Gevatterin, behüt uns der allmächtige Gott, wie kommt ihr daher? Ich bitte euch um Gottes und seiner lieben Mutter willen, habt Acht darauf, wann der Priester wandelt; dann lauft, weil ihr laufen könnt, und sehet euch nur nicht um, es kostet euch sonst euer Leben.“[12]

Mit Beginn der Wandlung rannte die Matrone aus der Kirche, die hinter ihr unter lautem Geprassel einzustürzen schien; „alles Gespenst“ lief ihr nach und wollte sie an der Flucht hindern. Unter Verlust ihres Pelzkragens kann sie jedoch entkommen und erreicht wenig später die Stadt Hof. Da das obere Tor verschlossen ist, erkennt sie, „daßkein guter Geist ihr zuvor durch das Thor geholfen habe, und daßdie Schweine (die sie anfangs vor dem Thore gesehen und gehört, als wenn es Zeit wäre, das Vieh auszutreiben) nichts anders dann leidige Teufel gewesen.“[13] Aufgrund ihres Schreckens blieb sie zwei Tage im Bett und ließdaraufhin nach ihrem Pelzkragen suchen. Allerdings war der Pelzkragen zerfetzt. Die Einzelteile des Kragens lagen verteilt auf den Gräbern der Toten.[14]

Die Impulse für die dichterische Einbildungskraft erhielt Jean Paul folglich durch diese gespenstische Lokalsage. Im Gegensatz zu der Lokalsage, die den Inhalt der Todesmesse verschweigt, schilderte Jean Paul die Einzelheiten der Teufelsmesse. In der letzten Fassung ist es schließlich Christus selbst, der das Dysangelium, das das Evangelium verhöhnte, vor den Toten predigt.[15]

Für Jean Paul sollte die „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“ eine „Schilderung des Atheismus“ sein. Als Rahmen der Dichtung fungierte die Szenerie der Lokalsage. Aus diesem Stoff schuf Jean Paul 1789 den Text „Des todten Shakespear’s Klage unter todten Zuhörern in der Kirche, daßkein Gott sei“, die Wilhelm Schmidt-Biggemann als einen Versuch des Experimentalnihilismus bezeichnet hat.[16] Warum Jean Paul den Bezug zu Shakespeare herstellt, ist schwer nachzuvollziehen. Während Walter Höllerer argumentiert, Jean Paul habe versucht, Shakespeareüber die Erde zu erheben und ihn unmittelbar neben die „hohen Menschen“ der Antike zu stellen,[17] vermutet Götz Müller, Jean Paul könnte während des Schaffensprozesses seines Textes an die Totengräberszene im Hamlet gedacht haben.[18]

Die Veröffentlichung durch Vermittlungen Herders waren allerdings erfolglos. Nach einem längeren Aufschub wurde 1795 statt Shakespeare Christus der Prediger des Dysangeliums. Außerdem wurde der Rede ein Vorbericht vorangestellt, die eine interessante Fußnote aufweist:

„Wenn einmal mein Herz so unglücklich und ausgestorben wäre, daßin ihm alle Gefühle, die das Dasein Gottes bejahen, zerstöret wären; so würd’ ich mich mit diesem meinem Aufsatz erschüttern und – er würde mich heilen und mir meine Gefühle wiedergeben.“[19]

In der Rede geht es zusammenfassend nicht nur darum, andere vom Atheismus zuüberzeugen, sondern auch die eigene Skepsis zu vertreiben.[20]

3 Die Erzählhaltung in den Szenen „Auferstehung“ und „„Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“

Da in Jean Pauls Romanen zwei zu unterscheidende Ebenen der Welt auftreten, ist es erforderlich, diese voneinander abzugrenzen. Während die eine Welt, die sich auf die Erzählung von Personen, Räumen und Begebenheiten bezieht, fiktiv ist, wird die Erzählung zudem von einem Erzähler abhängig, der bei Jean Paul als Person auftritt. Mit verschiedenen Meinungenüber die Welt und die Menschen wendet er sich direkt an den Leser und unterhält sich mit ihm. Zu betonen ist hierbei, dass dieser Erzähler auch eine gedichtete Figur ist und nicht mit dem Autor gleichgesetzt werden darf. Das Fiktive dieses Erzählers zeigt sich bereits im Kontext der romanhaften Begebenheiten. So stellt sich der Erzähler in der Unsichtbaren Loge als Erzieher des Helden vor.[21]

3.1 Die Erzählhaltung in der „Auferstehung“

Im Gegensatz zu den restlichen Romanen schrieb Jean Paul kurz vor seinem Tod ein Vorwort zu seinem ersten Roman und bedauert, dass Die Unsichtbare Loge „eine geborne Ruine“[22] bleibe. Hier spricht Jean Paul; er nutzt das Vorwort, umüber den Roman zu reden und Abstand zu seinem ersten Roman zu nehmen.[23]

Interessanter dagegen erscheint der „Vorredner“, der nur geringe Unterschiede zum Erzähler aufweist. Während sich beide als „Einbein“ (I, S. 27, Z. 13/I, S. 109, Z. 18) beschreiben und sich mit dem Namen Jean Paul ausgeben, lebt der Vorredner in Hof und der Erzähler in Scheerau.

Weitaus bedeutsamer ist allerdings die Beziehung zwischen der Situation des Vorredners, der sich zum Zeitpunkt des Verfassens des „Vorredners“ in einer Kutsche und Sänfte befindet, und der Auferstehungsszene, in der Gustav, nach einer achtjährigen Erziehung im Erdinneren die aufgehende Sonne erlebt. Abgeschieden von der Außenwelt tritt der Vorredner aus der Kutsche vor die Natur und beschreibt die Situation als Eingang in die Ewigkeit:

„Ach welche Lichter und Schatten, Höhen und Tiefen, Farben und Wolken werden draußen kämpfen und spielen und den Himmel mit der Erde verknüpfen – sobald ich hinaustrete (noch ein Augenblick steht zwischen mir und dem Elysium) [...].“ (I, S. 32, Z. 7 ff.)

Auch Gustav erlebt den Aufstieg zur Erde als Eintritt in den Himmel. (I, S. 62, Z. 17 ff.) Bei beiden Szenen bedeutet das Naturerlebnis eine Begegnung der Seele mit dem göttlichen All, der sogenannten „zweiten Welt“.[24]

Wird zuletzt Bezug auf den Erzähler genommen, ist festzustellen, dass das Erzählverhaltenüberwiegend auktorial gestaltet ist. So beschreibt der Erzähler beispielsweise die Gefühle Gustavs, nachdem dieser vom Genius die Informationen zum Aufstieg in die Welt erhält: „Der Kleine bebte vor Freunde und Angst.“ (I, S. 62, Z. 20–21) Neben der Sicht auf die Gefühle des Gustavs merkt der Erzähler, der mit der derselben Stimme wie der Autor spricht,[25] nachdem Gustav an die Brust seiner Mutter gesunken ist, an:

„Verhülltes Schicksal! wird unser Tod sein wie Gustavs seiner? Verhülltes Schicksal! das hinter unsrer Erde wie hinter einer Larve sitzet und das uns Zeit lässet, zu sein – ach! wenn der Tod uns zerleget und ein großer Genius uns aus der Gruft in den Himmel gehoben hat, wenn dann seine Sonnen und Freunden unserer Seeleüberwältigen, wirst du uns da auch eine bekannte Menschenbrust geben, an der wir das schwache Auge aufschlagen? O Schicksal! gibst du uns wieder, was wir niemals hier vergessen können? (I, S. 63 f., Z. 33 ff.)

Die aus einem von Fragen und Interjektionen bestehende Textstelle zeigt gut auf, wie labil das Gleichgewicht zwischen Zuversicht und Ungewissheit des Autors ist.[26]

3.2 Die Erzählhaltung in der „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“

Im Vergleich zu der Auferstehungsszene wurde, wie bereits oben erwähnt,[27] der „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“ ein Vorbericht vorangestellt. Der auktoriale Erzähler versucht, in diesem zu erläutern, warum er seinen eigenen Traum schildert: „Das Ziel dieser Dichtung ist die Entschuldigung ihrer Kühnheit.“ (II, S. 266, Z. 5–6) Die beschriebene Weltvernichtung soll ein in Bildern gezeichnetes Psychogramm jener Menschen sein,[28] die „[...] zum erstenmal in das atheistische Lehrgebäude [treten].“ (II, S. 266, Z. 16) Zusammenfassend liegt die Intention des Erzählers nicht darin, das Weltende prophetisch vorwegzunehmen, sondern in der Zerschlagung des „ganze[n] geistige[n] Universum[s] [...] durch die Hand des Atheismus“ (II, S. 266, Z. 20–21), sodass jeder Einzelne „mit einem verwaisten Herzen“ (II, S. 266, Z. 25) alleine zurückbleibt.

Bereits im „Vorbericht“ sind außerdem Kritikpunkte der Aufklärung, die in der eigentlichen Vision zum Tragen kommen, zu erkennen. So werden „Herz“ bzw. „Gefühl“ mit „Worten“ und „Verstand“ gegenübergestellt und den Vertretern der „kritischen Philosophie“ (II, S. 267, Z. 6) wird vorgeworfen,[29] „das[s] [sie] [das] Dasein Gottes so kaltblütig und kaltherzig erwägen, als ob vom Dasein des Kraken und Einhorns die Rede wäre.“ (II, S. 267, Z. 7 ff.)

In Bezug auf die Erzählperspektive ist festzustellen, dass der Erzähler im Vergleich zu der „Auferstehungsszene“ wesentlich neutraler berichtet. Auktoriale Züge sind dennoch zu konstatieren, indem der Erzähler – nach der vorgeschalteten ‚Rahmen‘-Reflexion, in welcher der Erzählerüber die therapeutische Funktion der Träume erzählt und träumt, er erwache auf einem Friedhof – in der eigentlichen Binnenerzählung schildert, wie „schrecklich [es] für das Herz“ (II, S. 269, Z. 22) war, als verstorbene Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, auf ihn zukamen.

Da es innerhalb des Träumens schwer ist, sich zu distanzieren und kritisch zu bewerten,[30] verwundert es nicht, dass der Träumende der Binnenerzählung, trotz der gespenstischen Stimmung des Traumes, emotions- und gedankenlos wirkt. Zu Beginn der Traumerzählung richtet sich die Erzählhaltung auf den Ich-Erzähler, derüber ungewöhnliche Dinge berichtet, die auf dem Friedhof geschehen:

„Ich suchte im ausgeleerten Nachthimmel die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinsternis verhülle sie mit dem Mond. Alle Gräber waren aufgetan, und die eisernen Türen des Gebeinhauses gingen unter unsichtbaren Händen auf und zu.“ (II, S. 268, Z. 4 ff.)

Die Erzählhaltung verändert sich allerdings, als der Ich-Erzähler in die wankende Kirche eintritt. Nachdem der Träumende seinen Blick auf einen Toten richtet, der durch das Auftreten des „Lebenden“ geweckt wurde, wechselt die Erzählhaltung zugunsten des Toten: „Er schlug mühsam ziehend das schwere Augenlid auf, aber innen lag kein Auge, und in der schlagenden Brust war statt des Herzens eine Wunde.“ (II, S. 268, Z. 28 ff.) Ein erneuter Wechsel der Haltung wird, als Christus als „hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz“ (II, S. 269, Z. 1–2) vor allen Toten in der Kirche erscheint, vollzogen. Erst, als Christus im Traum seine letzte Botschaft verkündet: „Sterblicher neben mir, wenn du noch lebst, so bete Ihn an: sonst hast du Ihn auf ewig verloren“ (II, S. 271, Z. 9–10), richtet sich das Augenmerk wieder auf den Ich-Erzähler. Die wechselnde Erzählhaltung lässt sich auch mithilfe der Personalpronomen erklären. So wird das Personalpronomen „ich“ erst wieder gebraucht, nachdem Christus den Ich-Erzähler persönlich anspricht (II, S. 271, Z. 9–10). Ab diesem Zeitpunkt entsteht erst wieder der Eindruck, dass das erzählende Ich auf sich selbst aufmerksam wird und aus der passiven Rolle befreit wird. Mit einem Glockenhammer, der „die letzte Stunde der Zeit“ (II, S. 271, Z. 19) einläutet, erwacht der Ich-Erzähler schließlich und befindet sich wieder in der ‚Rahmen‘-Reflexion.

In Bezug auf die Zeitspanne, in welcher der Ich-Erzähler diese Angstvision träumt, ist festzustellen, dass es sich nur um wenige Stunden handeln kann. Zu Beginn der ‚Rahmen‘-Reflexion schildert der Erzähler nämlich, dass er „an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge“ (II, S. 268, Z. 1–2) entschlief und aufwachte, als „die Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren [glomm].“ (II, S. 271, Z. 23–24) Wie der Erzähler allerdings die Zeit im Traum empfindet, ist schwer nachzuvollziehen. Mit den „abrollenden Räder[n] der Turmuhr, die eilf Uhr schlug“ (II, S. 268, Z. 3–4) wird zwar der Beginn des Traumes markiert, aber ein eindeutiges Ende des Traumes erfährt der Leser nicht, da der Glockenschlag zum Schluss des Traumes (II, S. 271, Z. 18 ff.) keine zeitliche Funktion besitzt, sondern „lediglich“ die Apokalypse einläutet.

4 Natur und Subjekt in den Szenen „Auferstehung“ in Der Unsichtbaren Loge und „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“ im Siebenkäs

Nachdem das vorherige Kapitel die Erzählhaltung der zwei Szenen analysierte, soll das folgende Kapitel das Zusammenspiel zwischen Natur und Subjekt in den zwei ausgewählten Szenen näher beleuchten. Beide Szenen werden schon dadurch als geeignet markiert, dass zum einen die den gesamten fünften Sektor bestimmende „Auferstehungsszene“ im Gegensatz zu anderen Sektoren das alleinige Erzählinteresse gebührt,[31] und zum anderen die „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“ mehrfach geändert wurde.[32] Aber auch in Bezug auf das Zusammenspiel zwischen Natur und Subjekt erweisen sich beide Szenen in besonderem Maße als geeignet.

[...]


[1] Otto, Christian/Förster, Ernst (Hrsg.): Wahrheit aus Jean Paul’s Leben. Heftlein 1–8, 4. Heftlein, Breslau 1826/1833, S. 377.

[2] Vgl. Steppacher, Elvira: Körpersprache in Jean Pauls „Unsichtbarer Loge“, Würzburg 1996 (= Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 172).

[3] Vgl. Becker, Claudia: Der Traum der Apokalypse – die Apokalypse ein Traum? Eschatologie und/oder Ästhetik im Ausgang von Jean Pauls „Rede des toten Christus“, in: Kaiser, Gerhard R. (Hrsg.): Poesie der Apokalypse, Würzburg 1991, S. 129–144.

[4] Vgl. Pfotenhauer, Helmut: Jean Paul. Das Leben als Schreiben. Biographie, München, 2013, S. 117.

[5] Vgl. ebd., S. 164.

[6] Vgl. ebd., S. 100 f.

[7] Vgl. Höllerer, Walter: Nachwort, in: Miller, Norbert (Hrsg.): Jean Paul: Sämtliche Werke. Abteilung I. Erster Band, München 1960, S. 1313-1348, hier S. 1319.

[8] Vgl. Pfotenhauer: Jean Paul, S. 101.

[9] Vgl. Höllerer: Nachwort, S. 1319.

[10] Vgl. Müller, Götz: Jean Pauls „Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“ (1994), in: Müller, Götz (Hrsg.): Jean Paul im Kontext. Gesammelte Aufsätze, Würzburg 1996, S. 104–124, hier S. 104.

[11] Wirth, Heinrich: Chronik der Stadt Hof nach M. Enoch Widmann, Rector der Schule zu Hof im Jahr 1596, und einigen anderenälteren Geschichtsschreibern, deren Namen unbekannt sind, Hof 1843, S. 101.

[12] Ebd., S. 101.

[13] Ebd., S. 102.

[14] Vgl. Wirth: Chronik der Stadt Hof, S. 102.

[15] Vgl. Müller: Jean Pauls „Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“, S. 104.

[16] Vgl. Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte, Freiburg/München 1975, S. 276 f.; vgl. auch Müller: „Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“, S. 105.

[17] Vgl. Höllerer, Walter: Nachwort, in: Lohmann, Gustav (Hrsg.): Jean Paul. Sämtliche Werke. Abteilung I. Zweiter Band, München 1959, S. 1123–1151, hier S. 1138.

[18] Vgl. Müller: Jean Pauls „Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“, S. 105.

[19] Jean Paul: Siebenkäs, in: Lohmann, Gustav (Hrsg.): Jean Paul. Sämtliche Werke. Abteilung I. Zweite Band, München 1959, S. 7–566, hier S. 266 (in der Folge wird der Roman „Siebenkäs“, der sich in diesem Band befindet, fortan mit II und der jeweiligen Seitenzahl in Klammer zitiert).

[20] Vgl. Müller: Jean Pauls „Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“, S. 105.

[21] Vgl. Scholz, Rüdiger: Welt und Form des Romans bei Jean Paul, Bern 1973, S. 177.

[22] Jean Paul: Die unsichtbare Loge, in: Miller, Norbert (Hrsg.): Jean Paul. Sämtliche Werke. Abteilung I. Erster Band, München 1960, S. 7-470, hier S. 13, Z. 5 (in der Folge wird der Roman „Die Unsichtbare Loge“, die sich in diesem Band befindet, fortan mit I und der jeweiligen Seitenzahl in Klammer zitiert).

[23] Vgl. Scholz: Welt und Form des Romans, S. 189.

[24] Vgl. Scholz: Welt und Form des Romans, S. 191.

[25] Vgl. Neumann, Peter Horst: Vorgriffe auf die Unsterblichkeit. Über das Scheintod-Motiv bei Jean Paul. Für Horst Bienek zum 60. Geburtstag, seinem letzten, in: Grunewald, Eckhard u.a. (Hrsg.): Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft, Bd. 50, Sigmaringen 1990, S. 213.

[26] Vgl. ebd., S. 213.

[27] Siehe oben unter Kapitel 2.2, S. 4.

[28] Vgl. Becker, Claudia: Der Traum der Apokalypse, S. 131.

[29] Vgl. Becker: Der Traum der Apokalypse, S. 131.

[30] Vgl. Kast, Verena: Träume – die geheimnisvolle Sprache des Unbewussten, Ostfildern 62012, S. 32.

[31] Vgl. Steppacher: Körpersprache, S. 46.

[32] Siehe oben unter Kapitel 2.2, S. 4.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Natur und Subjekt am Beispiel der "Auferstehungsszene" in Jean Pauls "Die unsichtbare Loge" und der "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei" im "Siebenkäs"
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Note
1,7
Autor
Jahr
2018
Seiten
24
Katalognummer
V428771
ISBN (eBook)
9783668732896
ISBN (Buch)
9783668732902
Dateigröße
564 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
natur, subjekt, beispiel, auferstehungsszene, jean, pauls, loge, rede, christus, weltgebäude, gott, siebenkäs
Arbeit zitieren
Tillmann Keemss (Autor:in), 2018, Natur und Subjekt am Beispiel der "Auferstehungsszene" in Jean Pauls "Die unsichtbare Loge" und der "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei" im "Siebenkäs", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/428771

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