Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Freiheitsbegriff bei John Stuart Mill
2.1 Das Prinzip der individuellen Freiheit
2.2 Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere
2.3 Zur Notwendigkeit der Begrenzung der staatlichen Macht
3. Mills Utilitarismus
4. Problem der Zusammenführung von Utilitarismus und Liberalismus
5. Liberalismus und Utilitarismus als gegenseitige Vervollständigung
5.1 Utilitarismus zur Begründung des Liberalismus
5.2 Liberalismus um des Utilitarismus willen
6. Fazit
1. Einleitung
Anliegen dieser Arbeit ist es zu klären, ob und inwieweit Mill’s Liberalismus mit seiner utilitaristischen Theorie verträglich ist. In der Schrift „Über die Freiheit“ entwickelt Mill einen Rechtsliberalismus, in dem er absolute Meinungs- und Handlungsfreiheit, sowie die uneingeschränkte Ausbildung der Individualität für grundlegende und notwendige Prinzipien erklärt. Wie ist aber eine solche politische Theorie, die sich am Wert des Einzelnen orientiert mit einer ethischen Theorie kompatibel, die im Gegensatz dazu den Nutzen der Gemeinschaft betont? Beide Theorien scheinen in einem Widerspruch miteinander zu stehen, da der Liberalismus um des Individuums willen, die Macht, die die Gesellschaftüber den Einzelnen ausübt, zu begrenzen sucht und ihm absolute Freiheit in allen ihn betreffenden Angelegenheiten zuschreibt, während gerade diese Freiheit nicht im Sinne der Gesellschaft und des größten Glücks für die größte Zahl, gemäßdem utilitaristischen Nutzenkalkül, zu sein scheint.
Jedoch sind beide Theorien, wie im Folgenden dargestellt wird, vielmehr Ergänzungen zueinander, als dass sie sich gegenseitig ausschließen, da Freiheit sich als Grundbedingung nicht nur für das Glück des Einzelnen, sondern der ganzen Gemeinschaft erweist. Um das zu zeigen, werden zunächst die Grundzüge Mills liberalistischer und utilitaristischer Theorie und der scheinbare Widerspruch beider Theorien kurz erläutert, um daran eine Zusammenführung und gegenseitige Vervollständigung beider Theorien anzusetzen.
2. Der Freiheitsbegriff bei John Stuart Mill
2.1 Das Prinzip der individuellen Freiheit
John Stuart Mill’s Essay „Über die Freiheit“ ist ein Plädoyer gegen jegliche staatliche oder gesellschaftliche Einmischung in die persönliche Unabhängigkeit und Freiheit des Einzelnen. Mill fordert in seiner Schrift nicht nur absolute Gedankenfreiheit und die Freiheit diese ohne Einschränkung zuäußern, sondern darüber hinaus die Vereinigungsfreiheit und die freie Wahl der Lebensgestaltung. Dieselben Gründe welche für die Meinungs freiheit gelten, fordern, so Mill, auch die Freiheit ihr gemäßhandeln zu können.[1]
Er richtet sich damit entschieden gegen einen Konformitätsdruck und die Einmischung deröffentlichen Meinung in die persönliche Lebensgestaltung. Zweck seiner Abhandlung besteht darin, die Grenze des rechtmäßigen Eingreifens des Staates in die private Sphäre des Individuums zu ermitteln und zu begründen. Der einfache Grundsatz, den Mill dazu aufstellt, lautet, dass die einzige Rechtfertigung der Einschränkung der individuellen Freiheit darin besteht, die Schädigung anderer zu verhüten:
„[…] der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumischen befugt ist, [ist]: sich selbst zu schützen. […] der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gesellschaft rechtmäßig ausüben darf: die Schädigung anderer zu verhüten“.[2]
In allen anderen Fällen muss alles staatliche und gesellschaftliche Handeln darauf ausgerichtet sein dem Individuum eine freie Entwicklung zu gewähren und ihm mit Toleranz zu begegnen.
2.2 Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere
Folglich ist niemand der Gesellschaft verantwortlich solange er keinem anderen durch seine Handlungen Schaden zufügt. Mill teilt somit das Leben eines jeden Individuums in zwei voneinander abgegrenzte Bereiche: den individuellen Bereich und den gesellschaftlichen Bereich. In Sicherheit zu leben, durch den Schutz der Gesellschaft, geht zumindest mit einer wichtigen und notwendigen Pflicht einher, dessen Erfüllung man nicht nur der Gesellschaft schuldet, sondern die zugleich Bedingung der individuellen Freiheit ist: die Wahrung der Interessen bzw. der Rechte anderer. Sobald der Einzelne die Rechte eines anderen beschränkt oder ihm einen Schaden zufügt, gibt es eine legitime Befugnis für den Eingriff der Gesellschaft in das Leben dieses Individuums.
Anders als z.B. in Kant’s Geschichtsphilosophie, in der der Einzelne nicht losgelöst von der Gesellschaft betrachten werden kann, misst Mill dem Individuum einen Teil des Lebens zu, der, unabhängig von Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft, nur ihm gehört: „Über sich selbst,über seinen eigenen Körper und Geist ist der einzelne souveräner Herrscher“.[3]
Der individuelle Bereich beinhaltet somit alle Handlungen, die das Individuum selbst und deren Folgen nur die eigenen Interessen berühren. Aus diesem Bereich können sich daher auch nur Pflichten gegen sich selbst ergeben. Entsprechend ist der Einzelne für alle Handlungen, die in diesen Bereich fallen niemandem außer sich selbst Rechenschaft schuldig, und muss darüber hinaus vor der Einmischung des Staates, sei es durch Kritik und Unterdrückung seitens deröffentlichen Meinung oder aber durch gesetzliche Strafen, geschützt werden.
2.3 Zur Notwendigkeit der Begrenzung der staatlichen Macht
Die Gefahr seiner Zeit, so bemerkt Mill, ist nicht ein Übermaßan Individualität und Verschiedenheit der Meinung, sondern die Unterdrückung derselben. Um die Freiheit des Einzelnen zu garantieren gibt es verschiedene Herrschaftsformen. Die Demokratie, im Gegensatz zu der Herrschaft durch einen vertragstheoretischen Souverän, gilt als eine sehr freiheitliche Form. Mill betont allerdings, dass gerade in der Demokratie die individuelle Freiheit gefährdet ist. Denn diese gleiche eher einer Herrschaft der Masse als einer Herrschaft des Volkesüber sich selbst, bei der „das Volk, welches die Macht ausübt, nicht immer dasselbe ist, wie das,über welches sie ausgeübt wird“[4].
Die Gefahr, die von einem demokratischen System ausgeht, ist mehr die soziale als die politische Bedrückung. Die Demokratie begrenze die Freiheit des Einzelnen sogar stärker da sie „viel tiefer ins soziale Leben eingreift und die Seele versklavt“ als andere Herrschaftsformen. Mill spricht in diesem Zusammenhang von der „Tyrannei der Mehrheit“[5], die in der Auferlegung von Ideen und Lebensregeln und der Unterdrückung von abweichenden Meinungen besteht und somit nicht nur die eigene Persönlichkeitsentfaltung behindert, sondern darüber hinaus der Entwicklung und dem Fortschritt der gesamten Menschheit im Weg steht. Daher verliere auch oder gerade in der demokratischen Herrschaftsform die Begrenzung der Regierungsgewalt und der Einmischung der Gesellschaft nichts an ihrer Dringlichkeit.
3. Mills Utilitarismus
Der Begriff Utilitarismus kommt aus dem Lateinischen (utilitas = Nutzen) und gibt als Moralphilosophie gemäßdem Nützlichkeitsprinzip Richtlinien zur Beurteilung moralischen Handelns vor. In seinen Grundzügen lassen sich drei Hauptmerkmale Mill’s utilitaristischer Ethik herausstellen:
i) die Orientierung am Glück (Eudämonismus)
ii) das Prinzip des größten Glücks der größtmöglichen Zahl (Universalismus)
iii) die Folgenabwägung des Handelns (Konsequenzialismus).
i) Mill erklärt den Nutzen einer Handlung als das Fundament der Moralüberhaupt. Moralisch richtig ist das, was nützt. Die Nützlichkeit sieht er in dem Prinzip des größten Glücks begründet, da das Glück, welches er als Lust und Abwesenheit von Schmerz versteht, den Endzweck aller Menschen darstellt:
„Lust und Schmerzfreiheit [sind] die einzigen Dinge […], die als Zwecke wünschenswert sind, […] alle anderen […] Dinge […] sind entweder wünschenswert aufgrund des Vergnügens, das sie enthalten, oder aufgrund der Förderung der Lust und der Vermeidung des Schmerzes.“[6]
Glück, als oberstes erstrebenswertestes Gut, dient Mill somit als Kriterium für die moralische Bewertung von Handlungen. Dementsprechend sind Handlungen moralisch richtig oder falsch, wenn sie tendenziell Glück befördern bzw. Unglück bewirken.
Mill versucht dabei, anders als in der rein quantitativen Erfassung von Glück bei Bentham, auch qualitative Aspekte als Maßstab für den Wert einer Freude zu berücksichtigen. Somit können selbst geringe geistige Freuden, wie z.B. kulturelle, intellektuelle und spirituelle Befriedigung ein höheres Glück bedeuten als größeres rein körperliches Lustempfinden: „Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein, als ein zufriedenes Schwein, besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr“.[7]
Die Aufgabe jedes Einzelnen ist es deshalb seinen Charakter auszubilden, um in der Lage zu sein, diese höheren Freuden genießen zu können.
ii) Mill’s utilitaristische Ethik ist aber keinesfalls als ein egorationales Glücksstreben zu verstehen. Ganz im Gegenteil wird das individuelle Glück dem der Gemeinschaft untergeordnet. Entscheidend ist das Wohlergehen aller von der Handlung Betroffenen, nicht nur das bestimmter Gruppen oder Individuen. Zweck seiner Ethik ist es daher, das größte Maßan Glück für die größtmögliche Menge zu fördern. Eine moralisch richtige Handlung ist demnach nicht darauf angelegt, das größte Glück des Handelnden selbst zu bewirken, sondern das größte Glück insgesamt. Dieses universalistische und am Gemeinwohl orientierte Prinzip scheint, wie später noch näher ausgeführt wird, das Hauptproblem der Vereinbarung mit der individuellen Freiheit zu sein.
iii) Zuletzt ist die utilitaristische Theorie teleologisch, da sie sich, im Gegensatz zu deontologischen Ethiken (z.B. Kant), welche Handlungen nach ihrem intrinsischen Charakter beurteilen, an dem Ergebnis und den Folgen einer Handlung orientiert. Die Bewertung von moralischer Richtigkeit beinhaltet daher eine genaue Folgenabwägung der Handlung gemäßdes Nutzenkalküls.
4. Problem der Zusammenführung von Utilitarismus und Liberalismus
John Stuart Mill gilt als einflussreichster liberaler Denker im England seiner Zeit. Nur vier Jahre später nach der Veröffentlichung des Essays “Über die Freiheit“, die sogenannte Bibel des Liberalismus, publiziert er seine Schriftüber den Utilitarismus, als eine Ethik, die auf das größte Glück der Gesellschaft abzielt. Wie lassen sich diese beiden so unterschiedlichen Theorien mit einander in Zusammenhang bringen? Kann die utilitaristische Moralphilosophie als eine Begründung für seinen politischen Liberalismus verstanden werden?
Auf den ersten Blick scheinen beide Theorien miteinander unvereinbar. Die Verantwortung für das größte Glück aller stellt scheinbar die größte Einschränkung der individuellen Freiheit dar, zumal die Ausrichtung der eigenen Lebensführung nach dem Wohl der Gemeinschaft eben die freie Gestaltung derselben verhindert. Umgekehrt lässt sich der Vorwurf formulieren, dass unbegrenzte individuelle Freiheit der Beförderung des Gemeinwohls im Weg steht, da ein egorationales Streben des Individuums nach eigenem Ermessen dem Glück der Gesellschaft nicht förderlich ist. Diese Vorwürfe sind Ausgangspunkt des anschließenden Versuchs beide Theorien miteinander zu vereinbaren.
5. Liberalismus und Utilitarismus als gegenseitige Vervollständigung
Dass beide Prinzipien miteinander verträglich sind, macht Mill bereits in seiner Einleitung zu „Über die Freiheit“ deutlich, in der er schreibt, dass es „Nützlichkeit im weitesten Sinne“ ist, auf die er sich in allen ethischen Fragen beruft.[8] Seine politische Theorie der individuellen Freiheit ist somit im Gesamtzusammenhang des Nützlichkeitsprinzips zu verstehen. Jedoch betont er, dass sich diese Nützlichkeit vielmehr auf die „ewigen Interessen der Menschheit als eines sich entwickelndes Wesen“[9] beziehen, als auf das, was allgemein von der Gesellschaft als Gut betrachtet wird. Denn die Ansichten darüber unterscheiden sich von Zeitalter zu Zeitalter und Kultur zu Kultur so stark, dass dieses kein sicherer Maßstab sein kann.
[...]
[1] Vgl. Mill, John Stuart. Über die Freiheit. S. 78
[2] ebendies, S. 16
[3] ebendies, S. 17
[4] ebendies S.9
[5] ebendies S.9
[6] Mill, John Stuart Der Utilitarismus. S.12
[7] ebendies S. 16
[8] Vgl. Mill, John Stuart. Über die Freiheit. S. 18
[9] ebenda