Soziobiologische Grundlagen des Rassismus


Hausarbeit, 2005

39 Seiten, Note: sehr gut (1,0)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Biologische Prädisposition und Fremdenfeindlichkeit
2.1 Die Logik der Wahrnehmung
2.2 Vorinstallierte Software
2.3 Wir und sie
2.4 Zusammenfassung

3. Die Evolution der Fremdenfeindlichkeit
3.1 Das egoistische Gen
3.2 Die lieben Verwandten
3.3 Reziproker Altruismus
3.4 Zusammenfassung

4. Kritik am soziobiologischen Ansatz

5. Strategien gegen Fremdenfeindlichkeit im Licht der Biologie
5.1 Die klassischen antirassistischen Strategien in sozio-
biologischer Sicht

5.2 Soziobiologischer Antirassismus
5.3 Das Ende vom Ende des Rassismus: Lob der
Gleich-Gültigkeit

6. Bibliographie

1. Einleitung

Was ist Rassismus? Es scheint keine wirklich allgemein zufriedenstellende Definition zu geben, aber man kann festhalten, dass Rassismus Einstellungen oder Handlungsweisen bezeichnet, die Menschen unter Heranziehung als biologisch definierter Unterschiede in eine Hierarchie von Macht, Fähigkeiten oder Lebensrecht einteilt, wobei die eigene Rasse naturgemäß in der Skala weit oben anzusiedeln ist.[1] Insbesondere die Abgrenzung zum Begriff „Ethnozentrismus“ ist außerordentlich schwierig. Wie unterschiedlich die Definitionen auch ausfallen, alle modernen Rassismuskonzeptionen haben gemein, dass sie einen genuin biologischen Anteil des Begriffs „Rasse“ in Bezug auf Menschen komplett ablehnen; dabei berufen sie sich auf die moderne Genetik, deren Vertreter klar und deutlich sagen: „Tatsächlich ist bei der Gattung Mensch der Begriff ‚Rasse‘ völlig unsinnig.“[2]

Auf den ersten Blick erscheint dies absurd. Der Begriff „Rasse“ ist vollkommen unproblematisch, wenn es sich um Hunde, Katzen oder Pferde handelt, und die Unterschiede zwischen einem Chihuahua und einer Dänischen Dogge sind auch unter Verweis auf den wolfsähnlichen gemeinsamen Vorfahren nicht wegzudiskutieren. Sie sind ganz eindeutig biologischer Natur und lassen sich innerhalb der bestehenden Grenzen an- und wegzüchten beziehungsweise in nicht allzu ferner Zukunft vermutlich durch den direkten Eingriff in das Genom „einbauen“. Mit Menschen verhält es sich ähnlich: Ganz offensichtliche Merkmale sind eindeutig genetischer Herkunft und ermöglichen überhaupt erst eine visuelle Unterscheidung zwischen Menschen, so etwa Haarfarbe, Augenfarbe, Nasengröße und ähnliches; auch Aspekte wie Körpergröße oder Hautton sind um so genetisch bestimmter, je regulärer sich der Mensch entwickelt.[3] Konsequenterweise lassen sich Menschen entlang dieser Unterschiede in Gruppen einteilen, etwa diejenigen bis 1,60 m, diejenigen von 1,61 m bis 1,99 m und diejenigen ab 2,00 m Körpergröße. Diese Unterteilung mag auf den ersten Blick sinnlos wirken, aber vergleichbare und feinere Unterteilungen sind für die Textilindustrie von zentraler Bedeutung, genau wie eine Unterteilung nach Nasengrößen für Brillenhersteller oder eine nach Kieferstruktur für Zahntechniker von Wichtigkeit sein kann. Treten solche menschlichen Unterschiede gehäuft auf, so kann man diese Einzelaspekte zusammenfassen und dem ganzen einen bestimmten Namen geben: Ergibt eine Messung bei einem Menschen, dass er Schuhgröße 46 hat, XXL-T-Shirts trägt und ungefähr 105 kg wiegt, dann kann man mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass er nicht unter 1,85 m groß ist - vermutlich größer – und dass es sich um einen erwachsenen Mann handelt (ich komme im späteren Verlauf der Arbeit auf die Merkmalshäufung und auf die Schlussfolgerungen zurück, die sich daraus ziehen lassen). Mit der gleichen Unschuld könnte man äußerliche Merkmale wie Hautton, Haarfarbe, Nasenform und dergleichen zusammenfassen und dem ganzen Paket den Namen „Rasse“ geben.

Natürlich ist es nicht so einfach, und so ist das Konzept „Rasse“ bei Menschen ein außerordentlich belasteter Begriff. Der erste Grund ist offensichtlich: Ganz unabhängig von Sein oder Nichtsein ist „Rasse“ kein neutraler Beschreibungsbegriff, sondern wurde und wird als politischer und ideologischer Kampfbegriff verwendet und stellte in den letzten beiden Jahrhunderten einen wichtigen Baustein für die Durchführung von Entrechtung, Verhaftung, Pogrom, Folterung und systematischen und unsystematischen Massenmord dar. Es fällt schwer, keine mehr oder weniger direkte Linie zwischen historischen Aussagen wie der folgenden und den Ereignissen des 20. Jahrhunderts zu ziehen:

Diese Naturmenschen (z. B. Weddas, Australneger) stehen in psychologischer Hinsicht näher den Säugetieren (Affen, Hunden), als dem hochzivilisierten Europäer; daher ist auch ihr individueller Lebenswert ganz verschieden zu beurteilen.[4]

Auch wenn es schwierig ist, direkte „geistige Brandstiftung“ nachzuweisen, so ist der Sprung zu Hitler doch eher ein Hopser, und man kann nicht bezweifeln, dass Aussagen wie diese – im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht gerade selten – eugenische Maßnahmen und „Ausmerzung“ minderwertiger „Rassen“ förderten und vielleicht sogar forderten[5].

Mit der Feststellung, dass „Rasse“ ein schädlicher Begriff ist, ist allerdings noch nichts über die Frage ausgesagt, ob menschliche Rassen existieren oder nicht; gäbe es eine Diskriminierung und Verfolgung nach Körpergröße, so änderte diese nichts an den Größenunterschieden zwischen den Menschen. Anders ausgedrückt: Nur weil Rassismus falsch ist, so heißt das nicht automatisch, dass es keine Rassen gibt. Aber es scheint sie tatsächlich in biologischer Hinsicht nicht zu geben. Zunächst einmal muss zur Begriffsklärung deutlich gemacht werden: Alle lebenden Menschen sind samt und sonders Mitglieder einer Spezies; eine Spezies ist definiert als eine Gruppe, deren Mitglieder miteinander lebensfähigen Nachwuchs hervorbringen können. Frühere biologische Formen – Vorfahren des Menschen oder Seitenlinien wie der Neandertaler – gehören zu anderen Spezies, die mit unserer Spezies verwandt sind, aber keine Nachkommen hätten haben können[6] (und nicht könnten, wenn sie heute noch lebten oder falls sie eines Tages durch Klonierung neu entstehen sollten). Alle Menschen sind Nachfahren einer kleinen Population, die in Afrika lebte und vor etwa 100.000 Jahren (oder etwas weiter zurück, aber keinesfalls in den Millionenbereich) durch einen „Flaschenhals“ ging und kurz vor dem Aussterben stand; folglich sind alle sehr eng miteinander verwandt: „The human species today is, to a geneticist, especially uniform.“[7] Die Unterschiede zwischen Individuen und Bevölkerungsgruppen, die uns so offensichtlich erscheinen, sind marginal, wenn man sie mit den Unterschieden vergleicht, die nicht so offensichtlich sind[8] ; und Letztere verlaufen überhaupt nicht entlang der Linien, die wir als „Rassemerkmale“ bezeichnen. Anders gesagt: Das oben erwähnte Paket „Rasse“ ist vom Informationsgehalt her wesentlich uninteressanter als andere Pakete, die sich an Hand von Merkmalen wie Blutgruppen oder anderen „unsichtbaren“ genetischen Faktoren schnüren ließen:

Taking such genetic variation as the human population does possess, we can measure the fraction that is associated with the regional groupings that we call races. And it turns out to be a small percentage of the total: between 6 and 15 per cent [...] Geneticists conclude, therefore, that race is not a very important aspect of a person.[9]

Hätten Menschen einen Super-Sinn, der sie diese Merkmale auf Anhieb erkennen ließe, die „Rassenzugehörigkeit“ würde die Menschheit in ganz andere Gruppen einteilen; da die Menschen jedoch mit den Sinnen zurechtkommen müssen, die sie haben, ist eine Einteilung nach Rassen im Sinne Friedrich Vogels[10] als praktisches Arbeitsinstrument möglicherweise ganz nützlich.

Wenn „Rasse“ ein Begriff ist, der nicht nur schädlich und gefährlich ist, sondern auch im Bezug auf Menschen keine Verankerung in der Biologie zu haben scheint, worum geht es dann in dieser Arbeit, wenn von den biologischen Grundlagen des Rassismus die Rede ist? Die meisten Diskussionen über Rasse und Biologie befassen sich mit den Opfern des Rassismus und bemühen sich, zu ihren Gunsten die Künstlichkeit des Rassebegriffs aufzuzeigen und in einen größeren gesellschaftlich-politischen Kontext zu rücken (etwa in der Frage, wem Rassismus eigentlich nützt). Mir wird es in den folgenden Kapiteln mehr um die „Täter“ gehen – die Fragestellung wird sich auf das Individuum richten und dabei auf die Möglichkeit, dass es biologische Dispositionen in Richtung Rassismus geben könnte. Dabei soll in keiner Weise gesagt werden, dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen oder auch psychologische Probleme rassistisch denkender Menschen keine Rolle spielen – ganz im Gegenteil: In direkt biologischer Hinsicht ist der Mensch ein soziales Wesen, so dass Soziologie und Biologie im Grunde kaum zu trennen sind; und die Psychologie hat einen wesentlichen biologischen Kern. Schwerpunkt soll jedoch das biologische Einzelwesen „Mensch“ mitsamt seinem Geist, seiner Wahrnehmung und seiner Stammesgeschichte sein. Dabei liegt der Fokus auf dem abstrahierten durchschnittlichen“ Menschen und seiner stammesgeschichtlichen Ausstattung; anders als bei typischen „psychologisierenden“ Ansätzen sollen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit hier nicht als Pathologie verstanden werden.

Damit versteht sich diese Arbeit als Teil einer Blickrichtung, die man wahlweise soziobiologisch, biosoziologisch oder evolutionspsychologisch nennen kann (diese Begriffe sind allerdings nicht vollständig austauschbar). Da ich mich damit in den Augen einflussreicher Rassismustheoretiker bereits als Pseudowissenschaftler[11] und Rassist oute[12] und mein Weg zu Hitler nicht mehr weit ist[13], sind vielleicht einige Vorbemerkungen angebracht.

Selbst wenn heute in den meisten Teilen der Welt glücklicherweise keine Menschen mehr auf Grund ihrer „Rasse“ gejagt und getötet werden[14], so sind sich alle vernünftigen Menschen darin einig, dass Rassismus ein Übel ist, das am besten vollständig aus dem Katalog der menschlichen Verhaltensweisen gestrichen werden sollte; konsequenterweise ist eine Diskussion des Rassismus grundsätzlich politisch-ideologisch aufgeladen. Da der Autor dieser Zeilen in den folgenden Seiten vorhat, so wissenschaftlich-neutral wie möglich zu schreiben und dabei nicht nur Rassismus und Biologie wieder zusammenbringen will – mit den oben beschriebenen Richtlinien – sondern auch eher pessimistisch ist, was die Möglichkeit des „Ende des Rassismus“ betrifft und dabei viele zeitgenössische Konzepte zur Rassismusbekämpfung als verfehlt betrachtet, würde er gerne darauf hinweisen, dass er selbst gerne in einer Welt lebte, in der Rassismus keine Rolle mehr spielt (ähnlich wie Sexismus, Klassenhass, religiöse Diskriminierung und so weiter). Der erste Schritt zur Bekämpfung eines Übels ist jedoch eine exakte Diagnose und das Aufzeigen möglicher Ursachen – und wenn diese in der biologischen Disposition des Menschen zu finden sein sollten, dann kann die Bekämpfung des Rassismus wesentlich exakter ansetzen. Es ist ja nun nicht so, dass die bisher vorgeschlagenen Konzepte einen überwältigenden Erfolg gezeitigt hätten (dazu mehr in Kapitel 5).

Es ist vermutlich kein Zufall, dass sinnvolle Kritik am soziobiologischen Modell insbesondere aus der Biologie selber gekommen ist[15] ; die Soziologie hat sich leider viel zu oft bemüht, der Anmerkung Pierre-André Taguieffs gerecht zu werden:

Und da sie eine prinzipiell antibiologische Position einnehmen, weisen die Antirassisten die Argumente der vererbungstheoretischen Psychologen und auch die soziobiologischen Thesen spontan und ohne Diskussion [...] zurück.[16]

Fundierte Kritik am soziobiologischen Modell wird in Kapitel 4 angesprochen werden. Einen Denkfehler, der sich offenbar bei vielen Geisteswissenschaftlern nicht beseitigen lässt, möchte ich jedoch bereits im Voraus erwähnen: Das Schreckgespenst des genetischen Determinismus. Für einfache körperliche Merkmale wie die Augenfarbe ist er Realität, aber alles, was in Komplexität darüber hinausgeht, ist lediglich genetisch beeinflusst; das heißt, die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Verhalten eines Individuums hängt von zahllosen Faktoren ab, von denen seine Gene nur einer sind (mal wichtiger, mal unwichtiger). Dazu kommt, dass selbst genetische Einflüsse oft nicht an einem Strang ziehen und daher eine Ursachenforschung außerordentlich kompliziert machen. Soziobiologische Forschung hat nicht den Anspruch, alles zu erklären, sondern will lediglich einen Beitrag zum Verständnis leisten. Eine Kritik wie die folgende geht komplett am Ziel vorbei: „Erklärungsansätze der Soziobiologie greifen zu kurz, weil sie die politischen und ökonomischen Hintergründe gesellschaftlicher Konflikte ignorieren.“[17] Kein Autor, der sich wirklich mit Soziobiologie auseinandergesetzt hat, kann eine solche Behauptung ernsthaft aufstellen: gerade typisch soziologisch zu deutende Phänomene wie Status, Gruppenkonflikte oder Kampf um Ressourcen sind klassiche sozio biologische Themen. „Schließlich dürften es gerade inhaltliche Fehlinterpretationen zu Biologie sein, die bestimmte Paradigmen sozusagen sympathisch oder unsympathisch machen.“[18] Die umgekehrte Kritik an den nicht-biologischen Modellen wäre wesentlich gerechtfertigter[19]. Wenn es wünschenswert ist, die „[...] Routinisierung, ja die Sklerose des Antirassismus [...]“[20] aufzubrechen, dann ist ein Blick auf neuere Ansätze als die in der üblichen ideologisch überfrachteten Rassismusforschung dringend geboten.

2. Biologische Prädisposition und Fremdenfeindlichkeit

Rassismus beinhaltet die Aufteilung der Menschheit in verschiedene Gruppen; auf dieser Ebene unterscheidet er sich nicht von anderen Formen der Diskriminierung wie etwa Sexismus, Klassenhass oder Antiamerikanismus, aber er hat auch Gemeinsamkeiten mit harmloseren Einteilungen, etwa in „Bayern und Preißn“. Offensichtlich ist Rassismus jedoch nicht harmlos und gehört daher in die erste Gruppe, die sich von der zweiten dadurch unterscheidet, dass nicht nur Unterschiede festgestellt, sondern direkt und politisch-gesellschaftlich relevant bewertet werden: Der Andere ist nicht nur anders, er ist in vielerlei Hinsicht schlechter, und es wäre nur konsequent, dies bei seiner Behandlung zu berücksichtigen. Rassismus ist in diesem Sinne eine Untergruppe einer weiter gefassten Haltung, die man als „Fremdenfeindlichkeit“ im weitesten Sinne bezeichnen kann und die sich je nach historischem und sozialem Kontext verschieden manifestieren kann: In religiösen Zeitaltern zeigt sie sich als religiöse Diskriminierung; in kommunistischen Gesellschaften sieht man sie als Kampagnen und Vernichtungsfeldzüge gegen „Kulaken“ oder „Kapitalisten“, und in Gesellschaften, in denen die Naturwissenschaften ein hohes Prestige genießen, zeigt sie sich unter anderem als „echter“, das heißt biologischer, Rassismus. Die These, die es zu belegen gilt, lautet also: Es gibt in der menschlichen Gesellschaft eine in gewissem Sinne freischwebende Fremdenfeindlichkeit, die sich je nach der sozialen, politischen oder wissenschaftlichen Umgebung auf verschiedene Weise manifestiert, aber letzten Endes immer zu einem gewissen Teil auf dieselben biologisch verankerten Mechanismen zurückzuführen ist.

Eine der logischen Konsequenzen daraus ist, dass diese Fremdenfeindlichkeit älter sein muss als ihre Ausprägungen[21], da sie offenbar je nach Zusammenhang verschiedene Gestalten annehmen kann; mit dem Alter und der Funktion dieses Mechanismus werde ich mich in Kapitel 3 befassen. Des weiteren folgt aus dieser These, dass Fremdenfeindlichkeit eine der menschlichen Universalien ist und im Kern unabhängig von den Gegebenheiten existieren kann; nur ihre Manifestationen sind voneinander verschieden und kulturell beeinflusst. Die Aufgabe muss es daher sein, Fremdenfeindlichkeit zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen aufzuspüren und einen Blick auf ihre Erscheinungsformen zu werfen.

Die Ethnologie spricht hier offenbar eine deutliche Sprache: Fremdenfeindlichkeit ist praktisch überall anzutreffen. Die Yanomamö des brasilianischen Regenwaldes sind berüchtigt für ihre Kriegs- und Vernichtungsfeldzüge gegen alle anderen Stämme in ihrer Umgebung, von denen sich manche erst wenige Jahr zuvor von ihrem eigenen Dorf abgespalten haben.[22] Die Mordraten bei in Stammesverbänden lebenden Menschen sind extrem hoch:

The Yanomamö call themselves the Fierce People, but other pristine tribes give similar numbers. The archeologist Lawrence Keeley has documented that New Guineans, Australian aborigines, Pacific Islanders, and Native Americans have been wracked by warfare […][23]

Auch in der schriftlich dokumentierten Geschichte finden sich mehr als genügend Beispiele für mörderische Fremdenfeindlichkeit, von den Kreuzzügen über präkolumbianische Stammeskriege bis hin zu den modernen Schrecken von Armenien bis Kambodscha. Selbstverständlich sind all diese Fälle voneinander verschieden und ihre Ursachen sehr komplex; aber ohne ein Konzept der Fremdenfeindlichkeit hätten sie nicht stattfinden können: Unsere Gruppe gegen die andere Gruppe. Eine „reine“ Fremdenfeindlichkeit ist vermutlich noch nie der Grund für einen Angriff gewesen, aber ohne eine Abwertung der anderen Gruppe lässt sich eine Maßnahme gegen sie nur sehr schwer durchführen. Viele Theoretiker beklagen, dass Demagogen die Fremdenfeindlichkeit „instrumentalisieren“ und „anstacheln“ – es stellt sich mithin die Frage, warum dies so einfach ist und warum beispielsweise Nationalismus sehr viel leichter zu entfachen ist als etwa die internationale Arbeitersolidarität vor dem Ersten Weltkrieg, die diesen zumindest hätte wesentlich erschweren können .Man kann sagen: Fremdenfeindlichkeit ist für feindselige Maßnahmen gegen andere Gruppen keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung; die näheren Einzelheiten der Maßnahmen ergeben sich aus der jeweiligen Manifestation, aber ein biologisch verankertes Kernelement lässt sich nicht wegdiskutieren.

2.1 Die Logik der Wahrnehmung

Fremdenfeindlichkeit setzt voraus, dass die Welt in unterschiedliche Teile aufgespalten wird; die Fähigkeit zu unterscheiden ist elementar für jeden Organismus, und an ihrer Nützlichkeit kann nicht gezweifelt werden. Gift und Nahrungsmittel; Raubtier oder Pflanzenfresser; zu heiß oder gerade richtig – all diese Unterscheidungen und Hunderte mehr sind absolut essentiell für jedwedes Leben. Wenn Steven Pinker davon spricht, dass wir „einen digitalen Geist in einer analogen Welt“[24] haben, dann bezieht er sich darauf, dass das Universum um uns herum als Gesamtheit „analog“ ist, das heißt, meistens nicht in einzelnen „Päckchen“ kommt, sondern vieles entlang eines Kontinuums fließt; unsere Wahrnehmung dieses Universums ist jedoch grundsätzlich „digital“, das heißt im Rahmen der Informationstheorie Claude Shannons, diese Wahrnehmung hat einzeln voneinander unterscheidbare Informationsteile, die „bits“. Die Funktion dieser „bits“ ist es, Unsicherheit zu reduzieren; jedes „bit“ ähnelt daher einer Frage, die mit „ja/nein“ beantwortet werden kann, und mit jedem „bit“ nähere ich mich dem eigentlichen Objekt der Fragestellung immer mehr an.[25] Ähnlich wie digitale Wiedergabe (eine CD) exakter und weniger störanfällig ist als analoge (eine Schallplatte), so ist digitale Wahrnehmung wesentlich effizienter als analoge, auch wenn sie im Grunde genommen weniger präzise ist, da sie nicht alle Schattierungen erkennen kann. Ein klassisches Beispiel aus der kognitiven Psychologie ist die Wahrnehmung des Regenbogens: Betrachtet man die Wellenlängen der sichtbaren Strahlung, so gehen gelb und grün nahtlos ineinander über; unser Perzeptionsapparat springt jedoch an einer bestimmten Stelle um, und wir sehen eine Bruchstelle. Diese digitale (häufig direkt binäre) Wahrnehmung ist in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen worden.[26]

Was hat das mit Fremdenfeindlichkeit zu tun? Digitale „bits“ in Reinform verringern Unsicherheit und liefern damit eine bestimmte Informationsmenge, aber in der menschlichen Wahrnehmung begegnen uns die „bits“ selten in Reinform, sondern häufig in Form von Häufungen (clusters): Ein „bit“ liefert uns mehr Informationen, als er rein technisch gesehen eigentlich dürfte. Fragt man etwa bei der Geburt eines Neugeborenen: „Hat er abstehende Ohren?“, so erhält man durch „ja“ oder „nein“ zwar die entsprechende Information, aber es lassen sich aus ihr keine weiteren nützlichen Informationen entnehmen. Fragt man hingegen: „Wiegt er mehr als acht Pfund?“, so würde ein „ja“ zumindest die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass wir es mit einem Jungen zu tun haben; und fragt man direkt „Ist es ein Junge?“, so erhält man durch ein einziges „ja/nein“ eine Flut von Informationen, die auf andere Art zu bekommen sehr mühsam wäre: Er hat männliche Geschlechtsorgane, ein XY-Chromosomenpaar, man sollte sich nach blauer Babykleidung umsehen, und der Kleine kann Papst (oder einer seiner Paparazzi) werden. Es versteht sich von selbst, dass Menschen nicht nur ja/nein -Fragen, sondern auch offene Fragen stellen können, aber jede dieser offenen Fragen lässt sich linguistisch auf eine Kette von ja/nein -Fragen reduzieren und kann daher nur als eine Art vereinfachte batch -Datei gelten.

Diese Häufung kann natürlich nur funktionieren, wenn dem Fragenden
(= Informationssuchenden) bereits Informationen vorliegen, die er in dieser speziellen Situation zuvor nicht erfragen muss, da er bereits über sie verfügt. Diese Prä-Informationen kann man als Grundannahmen über die Welt bezeichnen – vielleicht die wichtigste Voreinstellung des Geistes, die es gibt, und einer der Punkte, an denen sich die Konstrukteure von Künstlicher Intelligenz bislang die Zähne ausbeißen. Diese Grundannahmen sind zu einem Großteil erlernt, zu einem geringeren Teil angeboren, und sie erlauben es dem Organismus, sich in „Echtzeit“ in der Welt zurechtzufinden: Wenn es lange Ohren hat und hoppelt, dann nehme ich mal an, dass es Karotten mag, keine Bücher liest und nicht unter Wasser lebt; eine komplette biologische Beschreibung des Konzepts „Hase“ oder „Kaninchen“ wäre nicht nur unmöglich zu merken, sondern auch viel zu schwerfällig zu handhaben für einen realen Organismus, der sich in Sekundenbruchteilen entscheiden muss, was er als nächstes tun soll. „[...] Intelligence depends on lumping together things that share properties, so that we are not flabbergasted by every new thing we encounter.“[27] Das relativ geringe Opfer der nicht hundertprozentigen Präzision kann er bringen, denn sein Wahrnehmungsapparat – zu dem das Gehirn natürlich auch gehört – ist nicht konstruiert, um ein exaktes Abbild der Welt zu schaffen, sondern um ihm zu gestatten, sich gut in der Welt zurechtzufinden[28].

Es wird langsam deutlich, inwieweit Fremdenfeindlichkeit – als Untergruppe einer allgemeinen Aufteilungstendenz – im menschlichen Perzeptionsapparat begründet sein könnte. Die Unterscheidung als solche zwischen Menschen ist noch neutral; aber die Grundannahmen sind es nicht, und Informationen über Fremde kommen meist in Häufungen. Da diese Grundannahmen zu einem großen Teil im Laufe des Lebens gespeichert (erlernt) werden, wäre hier möglicherweise ein Ansatzpunkt für die Bekämpfung des Rassismus; unglücklicherweise sind einige Grundannahmen ganz offenbar neurologisch fest verdrahtet, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden. Gehört Fremdenfeindlichkeit dazu? Von der Beantwortung dieser Frage hängt es ab, wie wirksame Konzepte gegen sie aussehen könnten.

2.2 Vorinstallierte Software

The oldest and strongest emotion of mankind is fear,

and the oldest and strongest kind of fear is fear of the unknown.

- Howard Phillips Lovecraft[29]

Nach Jahrzehnten, in denen der gesellschaftswissenschaftliche Diskurs von einem Modell beherrscht wurde, demzufolge Kinder als unbeschriebene Blätter auf die Welt kommen (das tabula rasa -Modell), setzt sich langsam aber nachdrücklich die korrekte Auffassung durch, dass der Mensch wie alle komplexeren Lebewesen mit einer großen Bandbreite an „vorinstallierter Software“ auf die Welt kommt. Die alte Vorstellung von der Welt des Säuglings als „buzzing, blooming confusion“[30] hat sich nicht bestätigt. Teile dieser Software befassen sich mit der Wahrnehmung (siehe Kapitel 2.1), andere mit Körperbeherrschung oder einfachen Rechenoperationen.[31] Das bekannteste Beispiel ist vermutlich der Sprachinstinkt. Kinder erlernen ihre erste Sprache mit großer Leichtigkeit, wenn sie ihr in einer bestimmten Zeitspanne ihres Lebens ausgesetzt sind, und viele Elemente, die sie verwenden, zeigen, dass sie Regeln anwenden, die sie niemals gelernt haben (etwa bei einer hypercorrection). Auch wenn das sprachliche Rohmaterial spärlich ist, basteln sich Gruppen von Kindern ihre eigene Sprache zurecht (die sogenannte Kreolisierung). All diese Begabungen sind auf neurologische Strukturen zurückzuführen, die bei jedem gesunden Mitglied der Spezies vorhanden sind.

Gibt es eine neurologische Prädisposition zum Rassismus? Die Frage kann, so gestellt, direkt verneint werden; sie bewegt sich auf derselben Kategorienebene wie die Frage nach einer neurologischen Prädisposition zum Erlernen des Französischen. „There is no evidence that racism is in-born [...]“[32] Aber Fremdenfeindlichkeit liegt auf einer höheren Ebene und verhält sich zu Rassismus wie „Sprache“ zu „Französisch“; auf dieser allgemeineren Ebene wäre eine Voreinstellung zumindest denkbar. Einige Indizien aus der Entwicklungsbiologie scheinen auf sie zu deuten.

[...]


[1] Meine Rassismus-Definition basiert für praktische Zwecke auf der von Claude Lévi-Strauss, die etwas zu lang ist, um sie hier ganz zu zitieren (Claude Lévi-Strauss/Didier Eribon: Das Nahe und das Ferne. Frankfurt 1989. S. 218f.).

[2] Luca und Francesco Cavalli-Sforza: Verschieden und doch gleich. München 1994. S. 367.

[3] Unterernährte oder durch Umweltgifte geschädigte Kinder werden oft in ihrem Wachstum gehemmt und daher kleiner, als sie genetisch gesehen eigentlich werden könnten. Physiologische Störungen können zu Zwerg- oder Riesenwuchs führen, aber diese Störungen haben oft ebenfalls eine genetische Ursache. Der Hautton kann etwa durch Albinismus verändert werden.

[4] Haeckel, Ernst: Die Lebenswunder. Stuttgart 1923 [1904]. S. 450.

[5] Dabei muss man allerdings bedenken, dass gerade die Nationalsozialisten mit dem Begriff “Rasse” nicht kleinlich waren; so wurden unter anderem Japaner und eine Gruppe Sioux-Indianer zu Ariern erklärt, als es opportun erschien. Im Grunde leisteten sie der Nachwelt dadurch einen Dienst, indem sie die Künstlichkeit des Rassebegriffs sozusagen auf die Spitze trieben – oder, mit Hermann Görings Worten: “Wer Jude ist, bestimme ich!” Auch Hitler selber scheint von der biologischen Rassentrennung Arier-Jude nicht allzuviel gehalten zu haben; für ihn waren die Juden eher eine “geistige Rasse” als eine biologische. Vgl. Pierre-André Taguieff: Die ideologischen Metamorphosen des Rassismus und die Krise des Antirassismus. In: Uli Bielefeld (Hg.): Das Eigene und das Fremde. Hamburg 1991. S. 247.

[6] Dazu Josef Reichholf: Das Rätsel der Menschwerdung. Stuttgart 1990. Kapitel 20. S. 201-212.

[7] Richard Dawkins: The Ancestor’s Tale.

http://www.prospect-magazine.co.uk/ArticleView.asp?P_Article=12850. Aufgerufen am: 24.03.2005

[8] Von den Gemeinsamkeiten einmal ganz zu schweigen. Ein Missverständnis bei der Diskussion um die Soziobiologie, das gelegentlich auftritt, ergibt sich aus dem Umstand, dass alle Menschen natürlich über 99 Prozent ihres kompletten Genoms gemeinsam haben. Soziobiologie und Verhaltensgenetik befassen sich mit den Unterschieden im übrigen Teil des Genoms. Der genetische Abstand zwischen Mensch und Schimpanse liegt bei etwa 1,2 %, aber offenbar können geringe Unterschiede große Konsequenzen haben.

[9] Richard Dawkins: The Ancestor’s Tale.

http://www.prospect-magazine.co.uk/ArticleView.asp?P_Article=12850. Aufgerufen am: 24.03.2005

[10] Vgl. Friedrich Vogel: Die biologische Grundlage von Gruppenunterschieden beim Menschen. In: Eckhard J. Dittrich/Frank-Olaf Radtke (Hg.): Ethnizität, Wissenschaft und Minderheiten. Opladen 1990. S. 224.

[11] Stephen Castles: Weltweite Arbeitsmigration, Neorassismus und der Niedergang des Nationalstaats. In: Bielefeld, Das Eigene, S. 140.

[12] Etwa bei Etienne Balibar, der die Soziobiologie als “hervorragendes Beispiel [für eine] rassistische[...] Ideologie [...]” bezeichnet (Etienne Balibar: Der Rassismus: Auch noch ein Universalismus. In: Bielefeld, Das Eigene, S. 183).

[13] Laut Heiner Geißler jedenfalls: “Adolf Hitler ist nicht mehr weit, wenn man dem logischen Muster der Humanethologen folgt, die die Xenophobie für angeboren erklären.“ (Heiner Geißler : Der Irrweg des Nationalismus. Weinheim 1995. S. 60).

[14] In den meisten Teilen der Welt. Wie eine solche rassistische Verfolgung im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts aussehen kann, dazu (über den Völkermord in Ruanda): Keith B. Richburg: Jenseits von Amerika. Berlin 1999. Kapitel 5. S. 120-152.

[15] Etwa von dem kürzlich verstorbenen Paläontologen Stephen Jay Gould oder von dem Genetiker Richard Lewontin.

[16] Taguieff, in: Bielefeld, Das Eigene, S. 235.

[17] Christoph Butterwegge: Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt. Darmstadt 1996, S. 19.

[18] Anne Katrin Flohr: Fremdenfeindlichkeit. Opladen 1994. S. 100.

[19] Anne Katrin Flohr führt einige Gründe an, an denen es liegen dürfte, dass gerade die deutsche Soziologie so “biophob” ist (Flohr, Fremdenfeindlichkeit, S. 97ff.).

[20] Taguieff, in: Bielefeld, Das Eigene, S. 223.

[21] Streng logisch betrachtet müsste sie älter sein als alle ihre Ausprägungen mit Ausnahme der ersten, wann immer diese in der Stammesgeschichte auftrat. Meine Vermutung, auf die ich noch zurückkommen werde, ist allerdings, dass Fremdenfeindlichkeit älter ist als die Menschheit.

[22] Dazu Steven Pinker: How the Mind Works. New York 1997. S. 509f.

[23] Pinker, Mind, S. 509.

[24] Steven Pinker: Words and Rules. New York 2003 (1999). S. 300.

[25] Siehe hierzu Claude Shannon/Warren Weaver: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie. München 1976. S. 18ff.

[26] Vgl. Melvin Konner: Why the Reckless Survive ... and Other Secrets of Human Nature. New York 1990. S. 73.

[27] Pinker, Blank Slate, S. 203.

[28] Was die genauen Ziele des Organismus beziehungsweise seines Genoms eigentlich sind, wird in Kapitel 3 beschrieben.

[29] Howard Phillips Lovecraft: Supernatural Horror in Literature. New York 1973. S. 12.

[30] In den Worten von William James. Auch Jean Piaget ging davon aus, dass die Welt des Babys vollkommen unstrukturiert sei (Pinker, Mind, S. 316f.).

[31] Eine Liste der neurologischen Voreinstellungen beim menschlichen Baby findet sich bei Pinker, Blank Slate, S. 206.

[32] P.L. van den Berghe: The Ethnic Phenomenon. New York 1982. S. 240.

Ende der Leseprobe aus 39 Seiten

Details

Titel
Soziobiologische Grundlagen des Rassismus
Hochschule
Universität Münster  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Rassismus aus soziologischer Sicht
Note
sehr gut (1,0)
Autor
Jahr
2005
Seiten
39
Katalognummer
V42958
ISBN (eBook)
9783638408684
ISBN (Buch)
9783638677073
Dateigröße
596 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit befasst sich mit den Mechanismen der menschlichen Wahrnehmung und des menschlichen Sozialverhaltens, die zu rassistischer Wahrnehmung führen und die zum Teil biologisch verankert sind, weil sie in früherer Zeit einen evolutionären Vorteil bedeutet haben (Evolutionspsychologie). Des weiteren wird eine Kritik an den herkömmlichen Anti-Rassismus-Strategien geleistet, die häufig von einem falschen Menschenbild ausgehen.
Schlagworte
Soziobiologische, Grundlagen, Rassismus, Sicht
Arbeit zitieren
Tobias Budke (Autor:in), 2005, Soziobiologische Grundlagen des Rassismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42958

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