Mit Auge und Hand. Zur Bestimmung der bildnerischen Tätigkeit in Konrad Fiedlers Kunsttheorie


Bachelorarbeit, 2018

49 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Fiedlers Kunsttheorie im philosophiehistorischen Kontext
2.1 Fiedler als formaler Ästhetiker
2.2 Fiedlers Auseinandersetzung mit Kant
2.2.1 Fiedlers Abkehr von Kants ästhetischem Urteil
2.2.2 Fiedlers Interpretation von Kants Erkenntnistheorie

3 Fiedlers Beziehung zu Humboldts Sprachphilosophie 13
3.1 Der Prozess sprachlicher Welterzeugung
3.2 Die Sprache der Anschauung

4 Fiedlers Phänomenologie des Sehens
4.1 Die Grenzen des alltäglichen Sehens
4.2 Sehen um des Sehens willen

5 Die bildnerische Arbeit als anschauliche Erkenntnisarbeit
5.1 Fiedlers Kategorie der Ausdrucksbewegung
5.2 Das Zusammenspiel von Auge und Hand
5.3 Das Bild als Ausdrucksform reiner Sichtbarkeit

6 Resümee

Versicherung

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Konrad Fiedler (1841–1895) gilt als einer der bedeutendsten deutschen Kunsttheoretiker des 19. Jahrhunderts. Seinem Werk wird rückwirkend ein weit über seine Zeit hinausreichender Einfluss auf die Entwicklung der bildenden Kunst zugeschrieben. Fiedlers Auseinandersetzung mit Kunst erfolgt in engem Austausch mit befreundeten Künstlern, hier sind insbesondere der Maler Hans von Marées (1837–1887) sowie der Bildhauer Adolf von Hildebrand (1847–1921) zu nennen. Aufgrund seiner produktionsästhetischen Perspektive erfährt Fiedler vor allem in Künstlerkreisen eine große Resonanz, während seine theoretischen Motivansätze im Rahmen ästhetischer oder philosophischer Debatten zunächst kaum diskutiert werden. Ihre heutige Bedeutung als wichtige Referenz in der Reflexion moderner Kunst erlangen Fiedlers kunsttheoretische Schriften erst Jahrzehnte nach seinem Tod: In den 70er Jahren setzt eine breiter werdende und zunehmend interdisziplinär ausgerichtete Rezeption seiner Schriften ein. Auch für die gegenwärtige Kunst- und Bildforschung, insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeiten und Verwendungsweisen digitaler Bildbearbeitung und virtueller Simulationen, erhalten Fiedlers Ansätze eine erweiterte, gleichsam visionäre Bedeutung.[1]

In der vorliegenden Bachelorarbeit soll Fiedlers Bestimmung der bildnerischen Tätigkeit näher untersucht werden, die er im Rahmen seiner Kunsttheorie entwickelt. Hierzu möchte ich seine „Schriften zur Kunst“ in Gottfried Boehms neuaufgelegter Edition heranziehen – insbesondere Fiedlers Hauptwerk Ü ber den Ursprung der k ü nstlerischen T ä tigkeit (1887), da er hier den bildenden Gestaltungsvorgang explizit in den Mittelpunkt stellt. Fiedlers Kunstverständnis basiert wesentlich auf seiner Analyse des menschlichen Sehens und seiner Definition der künstlerischen Tätigkeit als einer anschaulichen Erkenntnisarbeit, die das visuelle Bewusstsein des Menschen sensibilisieren und über alltägliche Sehkonventionen hinausführen kann. In Abgrenzung zu etablierten ästhetischen Kunstbetrachtungen erarbeitet Fiedler einen produktionsorientierten Ansatz, der vorrangig auf bildliche Darstellungen abzielt. Ein wichtiger Bezugspunkt ist Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie, deren zentrale Thesen von Fiedler aufgegriffen und für seine Kunsttheorie fruchtbar gemacht werden. Neben seinem Rekurs auf Humboldt nimmt Fiedlers Theorie der Sichtbarkeit eine zentrale Bedeutung bei seiner Analyse der gestalterischen Arbeit ein. Daher sollen beide Momente – Fiedlers Bezug zu Humboldts Sprachphilosophie und sein Theorem der Sichtbarkeit – im Folgenden näher betrachtet werden. Dabei wird die Frage leitend sein, wie Fiedler den bildnerischen Prozess definiert: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Kunst und Sprache und wie beschreibt Fiedler die spezifische Erkenntnisleistung der künstlerischen Tätigkeit, die sich signifikant in bildlichen Darstellungen realisiert?

Im ersten Teil meiner Untersuchung soll es um die Einordnung von Fiedlers Ansatz in den philosophiehistorischen Kontext gehen. Dazu werden insbesondere zwei wichtige Bezugspunkte seiner Kunsttheorie beleuchtet: Fiedlers zentrale und eigenständige Position innerhalb des ästhetischen Formalismus sowie seine produktive Auseinandersetzung mit Kants Transzendentalphilosophie. Inwiefern in Fiedlers Ansatz die künstlerisch-anschauliche Erkenntnisleistung gleichberechtigt neben die analytisch-begriffliche Welterschließung tritt, möchte ich anhand seiner Beziehung zu Humboldts Sprachphilosophie genauer betrachten. Im Folgenden soll Fiedlers Analyse des Sehens vorgestellt werden, da sie für seine Untersuchungen der künstlerischen Gestaltungsarbeit von grundlegender Bedeutung ist. Vor diesem Hintergrund möchte ich Fiedlers Auffassung von der bildnerischen Tätigkeit als einer anschaulichen Erkenntnisarbeit näher beleuchten und dabei besonderes Augenmerk auf seine Kategorie der Ausdrucksbewegung sowie auf das enge Zusammenspiel von Auge und Hand legen. Abschließend soll diskutiert werden, wie sich das künstlerische Erkenntnisinteresse in der bildspezifischen Form der Sichtbarkeit realisiert und begrifflich präzisiert werden kann.

2 Fiedlers Kunsttheorie im philosophiehistorischen Kontext

Philosophiegeschichtlich lässt sich Fiedlers Werk in den Kontext einer einflussreichen ästhetischen Strömung aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einordnen, die von ihren Vertretern häufig als „nicht-spekulative Ästhetik“ bezeichnet wird. Sie kann als Gegenbewegung zum Deutschen Idealismus (insbesondere zur Ästhetik Hegels) verstanden werden.[2] Die nicht-spekulative Ästhetik distanziert sich von universalistisch-metaphysischen Systemen und verfolgt stattdessen die Idee einer empirisch basierten „Ästhetik von unten“, wie Gustav Theodor Fechner (1801–1887) in seiner Schrift Vorschule der Ä sthetik (1876) formuliert. Wurde bisher auf vorhandene (spekulativ-) philosophische Theorien zurückgegriffen, um allgemeingültige Prinzipien auf einzelne Kunstwerke anzuwenden, sollen nun ausgehend von der konkreten Kunsterfahrung auf dem Weg der Induktion präzise Aussagen getroffen und so die Ästhetik allererst als strenge Wissenschaft begründet werden. In Abgrenzung zur idealistischen Philosophie werden hierzu empirische Disziplinen herangezogen, so etwa die im 19. Jahrhundert akademisch begründeten Fächer Psychologie und Ethnologie. Als ein alternatives Konzept zum Idealismus entwickelt die nicht-spekulative Ästhetik verschiedene Ansätze, wobei Fiedler eine besondere Position einnimmt.

2.1 Fiedler als formaler Ästhetiker

Innerhalb der antiidealistischen Bewegung wird Fiedler ein formalistischer Standpunkt zugeschrieben. Er gilt demnach als formaler Ä sthetiker, dessen Theorie insbesondere in engem Zusammenhang zu den Konzepten Johann Friedrich Herbarts (1776–1841) und Robert Zimmermanns (1824–1898), zwei bedeutenden Vertretern des ästhetischen Formalismus, gesehen wird. Hinsichtlich der Frage, worin der spezifische Wert eines Kunstwerks liegt, rückt der formalistische Ansatz die formalen Eigenschaften des ästhetischen Objekts ins Zentrum und tritt damit in eine doppelte Opposition, die sich gegen Kants rezeptionsästhetischen Ansatz ebenso richtet wie gegen Hegels gehaltsästhetisches Konzept. Auf diese Weise wird ein Bruch mit den beiden vorherrschenden ästhetischen Positionen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzogen.

Vor dem Hintergrund dieser zweifachen Abgrenzung richten die formalen Ästhetiker ihr Augenmerk auf die Formgebung eines Kunstwerkes. Damit wird der Form eine Eigenständigkeit gegenüber dem Sinngehalt oder den subjektiven Wirkungen zugeschrieben. Dieser Ansatz wird von Fiedler mit einer Akzentuierung vertreten, die seine eigenständige und zentrale Position innerhalb des ästhetischen Formalismus kennzeichnet: So liegt ihm zufolge der eigentliche Inhalt des Kunstwerkes in der formalen Gestaltung desselben; mit Fiedler gesprochen ist „der Inhalt des Kunstwerks […] nichts anderes, als die Gestaltung selbst“.[3]

Die Gleichsetzung von Form und Inhalt verweist auf Fiedlers „These vom Erkenntnischarakter der Kunst“[4], mit der er sich von der frühen formalen Ästhetik eines Herbart oder Zimmermann insofern distanziert, als dass diese der Form im Hinblick auf den Aspekt der Schönheit eine wichtige Rolle zuschreiben. Fiedler erachtet dagegen die Schönheitsproblematik für den Wert eines Kunstwerkes als unwichtig, da sie „lediglich [auf] die dekorative Seite der Kunst“ ziele und daher „das eigentliche Wesen derselben“[5] nicht tangiere. In diesem Zusammenhang konstatiert Brigitte Scheer, dass Fiedler, „lange ehe sich die Vorstellung der ‚nicht mehr schönen Künste‘ durchgesetzt hatte, […] den Begriff des ‚Schönen‘ aus dem Zentrum der Kunstphilosophie“ herausgerückt habe. Damit – so Scheer – fordere Fiedler „eine Abkehr von der rein ästhetischen Kunstbetrachtung“[6], die ein Kunstwerk nach dem Ideal der Schönheit beurteilt, jedoch dessen eigenständige Erkenntnisleistung ignoriert. Die ästhetische Idee, dass „Schönheit Zweck der Kunst sei“, bezeichnet Fiedler als „eine willkürliche unbewiesene Annahme, die jedes unbefangene Nachdenken über Wesen und Ursprung der Kunst unmöglich“[7] mache.

Da nach seiner Überzeugung ästhetische Gesichtspunkte Kunstwerken nicht in vollem Umfang gerecht werden können, fordert Fiedler, dass eine tiefergehende Beschäftigung mit Kunst über das Forschungsgebiet der Ästhetik hinausreichen muss. Deshalb differenziert er explizit zwischen den Disziplinen der Ästhetik und der Kunstphilosophie, da „das Grundproblem der Ästhetik […] ein anderes“ sei, „als das Grundproblem der Kunstphilosophie“ und „das innerste Prinzip der Kunst […] von der Ästhetik nicht erkannt werden kann“.[8] Betrachtet die Ästhetik Kunst unter bestimmten Prämissen, beispielsweise hinsichtlich der Schönheit, fragt dagegen eine kunstphilosophische Perspektive nach Wesen und Ursprung der Kunst, ohne dabei Annahmen im Sinne der Ästhetik vorauszusetzen.[9] Eine ästhetische Rezeption, die primär darauf abzielt, ein Kunstobjekt als schön oder hässlich zu beurteilen, wird dessen eigentümlichen Wert nicht erfassen können, denn Fiedler zufolge kann ein Kunstwerk „mißfallen und doch gut sein“.[10] Nicht im ästhetischen Genuss der Rezipienten liegt demnach die Qualität eines Kunstwerkes, sondern „in der durch die Form vermittelten und zum Ausdruck gebrachten Erkenntnis“.[11]

Fiedlers Vorstellung von der spezifischen Erkenntnis, die über die Formgebung des Kunstwerkes vermittelt wird, steht in direktem Zusammenhang zu seiner Bestimmung der bildnerischen Tätigkeit und ist ein zentraler Gedanke seiner Kunsttheorie, den er insbesondere in Auseinandersetzung mit Kants Transzendentalphilosophie entwickelt. Dass Fiedler dabei nicht nur auf Kants ästhetisches Hauptwerk Kritik der Urteilskraft (1790) zurückgreift, sondern ebenso auf ein grundlegendes Motiv aus dessen erkenntnistheoretischer Schrift Kritik der reinen Vernunft (1781), wird nachfolgend erörtert.

2.2 Fiedlers Auseinandersetzung mit Kant

Indem Fiedler die Eigenständigkeit der Form hervorhebt, wendet er sich gegen eine Priorisierung der begrifflichen Dimension von Kunst und distanziert sich damit dezidiert von Kants ästhetischer Beurteilung, die das Anschauliche dem Primat des Begriffs unterordnet und zugleich dem Schönheitsempfinden eine hohe Bedeutung beimisst. Demgegenüber kann eine angemessene Beurteilung von Kunstwerken auf dem Gebiet der Ästhetik für Fiedler nur erfolgen, wenn „man unter Ästhetik die Lehre von der sinnlichen Erkenntnis“ verstehe und „als das Ziel dieser sinnlichen Erkenntnis“ nicht ästhetische Kategorien wie das „Schöne und Häßliche"[12] fokussiere und Kunstwerke darauf reduziere, „eine ästhetische Lustempfindung zu erwecken“.[13] Seine Überzeugung, dass die genuine Erkenntnisform von Kunst nicht mit Maßstäben ästhetischer Wertschätzung zu ermitteln ist, begründet Fiedler in eingehender Beschäftigung mit Kants rezeptionsästhetischem Ansatz.

2.2.1 Fiedlers Abkehr von Kants ästhetischem Urteil

Die Problematik des ästhetischen Urteilens behandelt Kant im Rahmen seiner Untersuchungen leitender Prinzipien der reflektierenden Urteilskraft, welche er als Fähigkeit zur Bildung allgemeiner Begriffe und Urteile angesichts besonderer Erscheinungen definiert und die dem Menschen erst eine Orientierung in der vielgestaltigen Erfahrungswelt ermöglicht. Dem liegt die Annahme einer zweckmäßigen Verfassung der Natur für das Denken und Handeln zugrunde: Die Natur wird in ihrer Gesamtheit für das menschliche Vernunft- und Urteilsvermögen als prinzipiell erfassbar angesehen sowie als geeigneter Rahmen für vernünftige Handlungszwecke vorausgesetzt. Die Zweckmäßigkeit ist somit ein a priori gesetztes Prinzip. In seiner Analyse der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft macht Kant deutlich, dass ästhetische Urteile nicht notwendig auf Kunstobjekte bezogen sind. Vielmehr werden gerade auch Naturerfahrungen in ästhetischer Weise reflektiert, denn sowohl Gegenstände der Natur wie auch der Kunst werden als schön beurteilt und es sind gerade Schönheiten in der Natur, die den Eindruck ihrer prinzipiellen Zweckmäßigkeit evozieren.[14]

Dieser Aspekt ist für Fiedler ein weiterer Beleg dafür, Schönheit nicht zum Wesen der Kunst zu zählen und das „Geschmacksurteil (zu unterscheiden ob etwas schön sei oder nicht)“ als Kriterium zur Bewertung von Kunstwerken abzulehnen: „Die Kunst […] als solche hat mit dem Geschmacksurteil nichts zu tun; denn ihre Aufgabe ist […] die Erkenntnis der Dinge“, wobei Fiedler mit Kant darin übereinstimmt, dass ein ästhetisches Urteil „kein Erkenntnisurteil“ darstelle, vielmehr mache es deutlich, „wie sich das Subjekt von der Vorstellung affiziert fühlt“.[15] In diesem Kontext verweist Brigitte Scheer auf den Umstand „einer nicht unvoreingenommenen Rezeption der Kantischen Ästhetik“, die Fiedler dazu veranlasst habe, „das Gefühl der Lust angesichts der Schönheit einfach mit bloßer Empfindung“ gleichzusetzen, „die einem ästhetischen Urteil vorausgeht“; aus Kants Perspektive beziehe sich das Lustgefühl dagegen „lediglich auf die Form des Wahrgenommenwerdens des Schönen“.[16]

Demnach ist das Gefühl von Lust (oder Unlust) dem ästhetischen Urteilen nicht vorrangig, sondern das Subjekt empfindet Lust, weil es den als schön gewahrten Natur- oder Kunstgegenstand seinem Urteilsvermögen als zugänglich erfährt. Die Aussage ‚Das Bild ist schön‘ artikuliert nicht etwa eine bildliche Eigenschaft, sondern eine Befindlichkeit des urteilenden Subjekts, derer es sich in der Selbstreflexion des Wahrnehmungsaktes bewusst wird. Schönheit kann somit als ein Reflexionsbegriff verstanden werden, der auf Erfahrungsprozesse hinweist, die im Subjekt ablaufen.[17] Im Zuge seiner Diskussion der Kantischen Lehre vom ästhetischen Urteil bringt Fiedler seine Distanz gegenüber einer am Schönheitsbegriff orientierten Ästhetik als primärer Instanz zur Bewertung von Kunstwerken zum Ausdruck: „Die Empfindung der Schönheit muß aufgegeben werden, wenn man zu dem eigentlichen Reiche der Kunst gelangen will.“[18]

Ein weiterer wichtiger Anknüpfungspunkt für Fiedlers Auseinandersetzung mit Kants ästhetischem Ansatz ist dessen begriffszentrierte Ausrichtung. Ein als schön empfundener Gegenstand erweist sich der Urteilskraft letztlich deshalb als zugänglich, weil er dem Subjekt als „ begriffsaffin, d.h. als zweckmäßig für das Erkennen“[19] erscheint. Stefan Majetschak verweist hier nicht auf die Tatsache, dass ästhetische Urteile stets in sprachlicher Form zum Ausdruck gebracht werden, weil das Subjekt zwecks Orientierung zu bewährten Mustern begrifflicher Explikation greift. Vielmehr problematisiert er den Aspekt, dass in Kants Theorie „die Dimension des Ästhetischen mit Rücksicht auf den Begriff gedacht“ werde, so dass „auch im ästhetischen Urteil nicht Anschauliches als Anschauliches gewürdigt, sondern im Hinblick auf ‚Begriffstauglichkeit‘ qualifiziert“ sei, wenngleich ein ästhetisches Urteil „keinen Begriff von der Beschaffenheit […] des Gegenstandes“[20] bilde.

Kants Ästhetik zielt demnach nicht auf die Erforschung der Anschauung als solche, sondern auf eine Rekonstruktion ihrer diskursiv-urteilsdienlichen Funktion. Hierin liegt ein zentrales Moment von Fiedlers Kantrezeption, denn Fiedler lehnt ein begriffsorientiertes Denken nicht einfach grundsätzlich ab. Vielmehr weist er darauf hin, dass die spezifische Qualität von Werken der bildenden Kunst einer diskursiven, dem Primat des Begriffs folgenden Betrachtungsweise verschlossen bleibt: „Man gelangt, wenn man bei der Anschauung beharrt, sehr bald zu einer Fülle, die kein begrifflicher Ausdruck mehr bezeichnen und umfassen kann.“[21] An dieser „Grenze des Sagbaren[22], dort, so betont Fiedler, „wo alle Möglichkeit des Benennens und Konstatierens im wissenschaftlichen Sinne aufhört“[23], setzen Künstler mit ihrer bildnerischen Arbeit gerade erst an. Eine Interpretation aus der Perspektive des Begriffs kann laut Fiedler die anschauliche Dimension von Kunstwerken nicht adäquat erfassen, denn sie transferiert Begrifflichkeit in den Bereich des Sinnlichen und somit in die Sphäre des Nicht-Begrifflichen.

In Abgrenzung zu Kants Ausgangspunkt, dem rezipierenden Subjekt, entwickelt Fiedler eine produktionsorientierte Theorie, indem er den bildnerischen Entstehungsprozess fokussiert und dabei der Sinneswahrnehmung eine grundlegende und schöpferische Bedeutung zuschreibt. Sein Konzept, das die sinnliche – speziell die visuelle – Wahrnehmung ins Zentrum rückt, entwirft Fiedler in Auseinandersetzung mit einem Motiv aus Kants Kritik der reinen Vernunft.

2.2.2 Fiedlers Interpretation von Kants Erkenntnistheorie

Im Rahmen seiner Deutung von Kants erkenntnistheoretischem Hauptwerk nimmt Fiedler Bezug auf dessen Kritik am sogenannten Naiven Realismus, demzufolge die materielle Welt direkt und unmittelbar sinnlich erfahren werden kann. Dieser Auffassung liegt ein rein rezeptives Verständnis der Wahrnehmung zugrunde, die, einer mechanischen Widerspiegelung ähnlich, die Welt gleichsam abbildet. Kant setzt diesem Ansatz ein „Zwei-Quellen-Modell“ entgegen, demgemäß die Wahrnehmung aus „einem Zusammenwirken von […] passiv-gegebenen Empfindungen und […] aktiven, vom Verstand mittels Begriffen erbrachten Synthesisleistungen“ entsteht: Die Wahrnehmung eines Gegenstandes ist demnach „das Produkt von sinnlich gegebenen Empfindungen und geistiger Interpretation“.[24] Neben die Rezeptivit ä t der Sinnlichkeit als passiver Komponente tritt in Kants erkenntnistheoretischem Konzept die Spontaneit ä t des Denkvermögens, „das von sich aus Vorstellungen und Begriffe hervorzubringen vermag“.[25]

Die Kritik am Naiven Realismus befürwortend vermerkt Fiedler, dass Kant mit seiner Annahme einer passiven Wahrnehmungskomponente die naiv-realistische Position aufgreife, anstatt sie konsequent zu überwinden. Fiedler sieht insofern eine Parallele zwischen Kants Standpunkt und dem des Naiven Realismus, als beide den sinnlichen Wahrnehmungen und Vorstellungen die Aufgabe zuschreiben, „das gegebene unveränderliche Material für die höheren geistigen Operationen“[26] zu liefern. In Kants Modell empfängt die Sinnlichkeit als passive Seite der Wahrnehmung Empfindungsmaterial, das erst durch die analytisch-begriffliche Arbeit des Verstandes interpretiert wird; damit reduziert er die Sinnlichkeit auf eine rezeptive, der Verstandesinterpretation untergeordnete Funktion. Mit seinem Diktum „Begriffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“[27] setzt Kant das Zusammenspiel von rezeptiver Sinnlichkeit und produktivem Verstand für die Möglichkeit von Erkenntnis voraus.

Fiedler verlagert dagegen „den Ursprung aller geistigen Tätigkeit, alles Bewußtseinsinhaltes“ in die „Sinnesempfindung“, hebt in diesem Zuge die „geistig-körperliche Organisation des Menschen“ hervor und versteht die komplexen Bewusstseinsvorgänge der Wahrnehmung als „psycho-physische[…] Prozesse“.[28] Hier wird deutlich, dass er das dualistische Konzept von Geist und Körper zugunsten „der Einsicht in den Parallelismus geistiger und körperlicher Vorgänge“[29] überwindet und infolgedessen die Sinnlichkeit als spontanes Verm ö gen versteht, das eine interpretative Funktion übernimmt, die Kant ausschließlich dem Verstand zuschreibt. Indem Fiedler betont, „daß in jeder sinnlichen Anschauung schon eine geistige Tätigkeit enthalten“[30] sei, distanziert er sich von Kants Zwei-Quellen-Modell zugunsten eines „einzigen Produktionsgedanken[s] eines geistigen Vermögens, genannt Sinnlichkeit“.[31] Während in Kants Theorie die Rezeptivität der Sinnlichkeit in einem Bedingungsverhältnis mit der Spontaneität des Verstandes steht, tritt bei Fiedler die sinnliche Erkenntnisleistung gleichberechtigt neben die analytische Erkenntnisarbeit des Verstandes.

Mit Fiedlers Konzept einer aktiven, geistigen Sinnlichkeit erfolgt eine explizite Abkehr von Kants Idee des ‚Dinges an sich‘, das nicht sinnlich erfasst werden kann. Versteht Kant die Gegenstände sinnlicher Erfahrung als Erscheinungen, die nicht mit den Dingen an sich gleichzusetzen sind, weist Fiedler die Voraussetzung einer Sphäre, die der Sinnlichkeit verschlossen bleibt, entschieden zurück. Er ist der Ansicht, dass „alles was jenseits der Sinnesempfindung vorausgesetzt werden mag, […] nicht anders, als unzugänglich gedacht werden“[32] könne. Damit plädiert er für die Methode einer immanenten Beschreibung der Sinnlichkeit ohne Rekurs auf eine vermeintlich objektive Außenwelt, denn „alles Verhältnis von Wahrnehmung und Vorstellung zur Wirklichkeit ist […] nur wieder ein Verhältnis von Wahrnehmung und Vorstellung zu Wahrnehmung und Vorstellung“.[33]

Das wahrnehmende Subjekt erfasst Fiedler zufolge nicht einen bewusstseinsunabhängigen Gegenstand, vielmehr werden im Zuge des Wahrnehmungsprozesses sinnlich basierte Empfindungen gebildet, die das Wahrgenommene erst zu dem formen, was es ist. Fiedler richtet sein Augenmerk auf die subjektive Erscheinungsweise von Phänomenen, deren Existenz sich außerhalb des Wahrnehmungsbewusstseins insofern nicht bestimmen lässt, als dass Bewusstseinsphänomene nicht an sich, sondern stets f ü r jemanden da sind. Während Kant in seinem erkenntnistheoretischen Ansatz von einem transzendentalen Subjekt ausgeht, tritt bei Fiedler das empirische Wahrnehmungssubjekt in den Fokus, dessen individuelle psychische wie auch physische Zustände die Weise des Wahrnehmens wesentlich beeinflussen. Somit entspricht Fiedlers Beschreibung der Wahrnehmung und der damit verbundenen Bewusstseinszustände einer genuin ph ä nomenologischen Position.[34]

In Abgrenzung zu Kants Transzendentalphilosophie erstrebt Fiedler die Überwindung „der Annahme eines vom Denken unabhängigen Seins“: Es gelte, „aus diesem […] Dualismus herauszukommen und allmählich zu einem konsequenten Monismus zu gelangen“, erst dann könne „der Unterschied zwischen vollkommenem Sein und unvollkommener Anschauung und Erkenntnis“ aufgehoben werden. Dementsprechend erkennt er „im Denken eine Form des Seins“, so „daß die gesamte Wirklichkeit nur als Produkt“ der menschlichen „sinnlich-geistigen Organisation“[35] aufgefasst werden könne. Fiedler argumentiert, „das Dasein der Wirklichkeit“ sei letztlich nur im individuellen „Wirklichkeitsbewußtsein“ zu verorten, welches er als eine „innere Werkstatt“ beschreibt, „in der die Bestandteile des Weltbildes erst entstehen müssen, wenn sie ein Sein“[36] in Form von Anschauungen, Vorstellungen, Begriffen oder Empfindungen für das wahrnehmende Subjekt ausbilden sollen. Da laut Fiedler das (sprachlich wie auch sinnlich strukturierte) Wirklichkeitsbewusstsein des Menschen nicht einem für sich bestehenden Sein gegenübersteht, ersetzt er die Vorstellung eines fixierten Seins durch „ein beständiges Werden […], welches sich nicht außer uns, sondern in uns, durch uns ereignet“.[37] Fiedlers Gedanke von der permanenten Produktion von Wirklichkeit im Bewusstsein des wahrnehmenden Subjekts erschließt die Sinnlichkeit als psychophysische Grundlage eines genuinen Erkenntnispotenzials, das sich nicht aus der Begriffsarbeit des Verstandes ableiten lässt.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Fiedler im Zuge seiner Konzeption einer aktiven, interpretierenden Sinnlichkeit und der damit einhergehenden Zurückweisung von Kants Idee des Dinges an sich ein genuin phänomenologisches Interesse entwickelt. Zwischen dem Erkenntnisvermögen der visuellen Wahrnehmung und der spezifischen Erkenntnisleistung von Kunst sieht Fiedler eine enge Verbindung: Für ihn ist „die Kunst […] eine der Erkenntnis dienende Sprache“.[38] Damit schreibt er nicht nur dem verbreiteten begrifflich-diskursiven Weltzugang, sondern gerade auch der künstlerischen Arbeit eine erkenntniskonstitutive Relevanz zu. Demnach ist Fiedlers Rede von Kunst als einer Sprache keinesfalls nur metaphorisch zu verstehen. Vielmehr stellt er einen direkten Zusammenhang zwischen Kunst und Sprache her, der im Folgenden anhand zentraler Aspekte der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts (1767–1835) beleuchtet werden soll, an der sich Fiedlers Überlegungen in wesentlichen Punkten orientieren.

3 Fiedlers Beziehung zu Humboldts Sprachphilosophie

Fiedler sieht grundlegende Gemeinsamkeiten in der Art und Weise, wie in Kunst und Sprache ein spezifisches Weltbewusstsein des Menschen zur Darstellung gelangt: „Die Untersuchungen über Wesen und Ursprung der Sprache können ein bedeutendes Licht auf die Frage nach Wesen und Ursprung der Kunst werfen“, wobei die Sprache „durch W. von Humboldt“ – wie Fiedler explizit hervorhebt – „Gegenstand echt wissenschaftlicher Forschung geworden“[39] sei. Fiedler begründet so, warum er im Rahmen seiner Analyse des künstlerischen Werkprozesses auch sprachphilosophische Fragestellungen behandelt. Denn anhand einer vergleichenden Betrachtung von Kunst- und Spracharbeit soll der Versuch unternommen werden, wesentliche Aspekte der genuinen Erkenntnisleistung von Kunst aufzuzeigen und so die scharfe Trennung von begrifflicher und anschaulicher Weltaneignung aufzuheben. Diesem Vorhaben liegt Fiedlers Gedanke der wirklichkeitserzeugenden Funktion der Sprache ebenso zugrunde wie „seine davon abhängige Auffassung von der eigentümlichen Sprachlichkeit der menschlichen Anschauung und der Kunst“.[40] Beide Aspekte lassen eine Bezugnahme Fiedlers auf Humboldts Sprachphilosophie erkennen.

[...]


[1] Vgl. Lambert Wiesing, „Konrad Fiedler (1841–1895)“, in : Klassiker der Kunst- philosophie. Von Platon bis Lyotard, hg. v. Stefan Majetschak, München 2005, 194 f.

[2] Zu dieser Argumentation und den nachfolgenden Ausführungen zur formalen Ästhetik vgl. Wiesing, „Konrad Fiedler“, 180–183.

[3] Konrad Fiedler, Schriften zur Kunst, hg. v. Gottfried Boehm, München 1991, Bd. I, 37.

[4] Wiesing, „Konrad Fiedler“, 183.

[5] Fiedler, Schriften zur Kunst, Bd. II, 17.

[6] Brigitte Scheer, „Conrad Fiedlers Kunsttheorie“, in: Ideengeschichte und Kunst- wissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich, hg. v. Ekkehard Mai u.a., Berlin 1983, 134 f.

[7] Fiedler, Schriften zur Kunst, Bd. II, 16.

[8] Ebd., 10 f.

[9] Vgl. Stefan Majetschak, „Einleitung“, in: Ders., Klassiker der Kunstphilosophie. Von Platon bis Lyotard, München 2005, 9.

[10] Fiedler, Schriften zur Kunst, Bd. II, 13.

[11] Ebd., 23.

[12] Ebd., 12.

[13] Ebd., 14.

[14] Vgl. Stefan Majetschak, Ä sthetik zur Einf ü hrung, Hamburg 2007, 42–46.

[15] Fiedler, Schriften zur Kunst, Bd. II, 262.

[16] Scheer, „Conrad Fiedlers Kunsttheorie“, 136.

[17] Vgl. Birgit Recki, „Immanuel Kant (1724–1804)“, in: Klassiker der Kunstphilosophie. Von Platon bis Lyotard, hg. v. Stefan Majetschak, München 2005, 135.

[18] Fiedler, Schriften zur Kunst, Bd. II, 65.

[19] Stefan Majetschak, „Die Überwindung der Schönheit. Konrad Fiedlers Kunstphilosophie“, in: Allgemeine Zeitschrift f ü r Philosophie, Stuttgart 1993, 65.

[20] Stefan Majetschak, „Welt als Begriff und Welt als Kunst. Zur Einschätzung der theoretischen Leistungsfähigkeit des Ästhetischen bei Kant und Conrad Fiedler“, in: Philosophisches Jahrbuch, Freiburg 1989, 284.

[21] Fiedler, Schriften zur Kunst, Bd. I, 22.

[22] Majetschak, „Welt als Begriff und Welt als Kunst“, 287.

[23] Fiedler, Schriften zur Kunst, Bd. I, 170.

[24] Wiesing, „Konrad Fiedler“, 183.

[25] Gottfried Boehm, „Einleitung“, in: Ders., Konrad Fiedler: Schriften zur Kunst, München 1991, XLVIII.

[26] Fiedler, Schriften zur Kunst, Bd. I, 130.

[27] zitiert nach Boehm, „Einleitung“, XLVIII.

[28] Fiedler, Schriften zur Kunst, Bd. I, 73.

[29] Ebd., 118.

[30] Ebd., 107.

[31] Boehm, „Einleitung“, XLIX.

[32] Fiedler, Schriften zur Kunst, Bd. I, 73.

[33] Ebd., 137.

[34] Vgl. Lambert Wiesing, „Einleitung: Philosophie der Wahrnehmung“, in: Ders., Philosophie der Wahrnehmung: Modelle und Reflexionen, Frankfurt/Main 2002, 17 u. 44.

[35] Fiedler, Schriften zur Kunst, Bd. II, 52 f.

[36] Ebd., Bd. I, 119.

[37] Ebd., 140.

[38] Ebd., Bd. II, 28.

[39] Ebd., 56.

[40] Stefan Majetschak, „Die Sprachlichkeit der Kunst. Konrad Fiedlers Sprachtheorie im Lichte der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts“, in Ders.: Auge und Hand. Konrad Fiedlers Kunsttheorie im Kontext, München 1997, 113.

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Details

Titel
Mit Auge und Hand. Zur Bestimmung der bildnerischen Tätigkeit in Konrad Fiedlers Kunsttheorie
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
49
Katalognummer
V429743
ISBN (eBook)
9783668735026
ISBN (Buch)
9783668735033
Dateigröße
829 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
auge, hand, kunsttheorie, Kunstphilosophie, Sichtbarkeit, bildnerische Arbeit, Kunst, Ästhetik, Bild, Konrad Fiedler, künstlerische Tätigkeit, Bilder, Malerei
Arbeit zitieren
Sarah David (Autor:in), 2018, Mit Auge und Hand. Zur Bestimmung der bildnerischen Tätigkeit in Konrad Fiedlers Kunsttheorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/429743

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