Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Glück bei Aristoteles
1. Glück als höchstes menschliches Gut
2. Tugenden
2.1. Die aristotelische Mesotes- Lehre
2.2. Lust und Unlust
3. Der Wert der Freundschaft
III. Glück bei Epikur
1. Anleitung zu einem gelungenen Leben
2. Die Bedeutung der Empfindungen
2.1. Menschliche Begierden
2.2. Die Lust als höchstes Gut
2.3. Die Bedeutung von Schmerz und Tod
3. Der Wert der Freundschaft
IV. Glück im aktuellen Kontext – am Beispiel von Wilhelm Schmid
1. Ist antike Glücksphilosophie heute noch aktuell?
2. Philosophie in der Praxis
3. Ein Entwurf der Lebenskunst
3.1. Was bedeutet Glück?
3.2. Der richtige Umgang mit Leid
3.3. Die Bedeutung von Freundschaft
4. Melancholie – Der notwendige Gegenpol zum Glück
V. Schluss
Quellen- und Literaturverzeichnis:
I. Einleitung
Die Frage nach Glück und einem glücklichen Leben, was das genau ist, wo man Glück findet und vor allem, wie man es behält, beschäftigt Menschen auf der ganzen Welt seit sehr langer Zeit. Doch „vielleicht wissen bloßdie wenigsten von uns, was es bedeutet, glücklich zu sein, obwohl wir es schon längst sind – oder kurz davor stehen, es zu werden!“[1] Glück zu definieren ist keine einfache Aufgabe, da jede Epoche, jeder Kulturkreis und im Grunde jeder Mensch das Glück unterschiedlich interpretiert und definiert.[2] Die entscheidende Gemeinsamkeit jedoch bleibt die Tatsache, dass sich alle Epochen und jeder Mensch mit Glück auseinandersetzt und man allgemein sagen kann, dass der Begriff von Glück positiv konnotiert ist.[3] Glück ist ein Begriff, dessen Herkunft vermutlich aus dem 12. Jahrhundert stammt und unfassbar viele Möglichkeiten der Anwendung besitzt.[4] Glück kann als Synonym für Zufall verwendet werden (Glück haben), wo es zum Beispiel in der Lotterie Anwendung findet. „Es handelt sich hier immer um eine positive Fügung von Ereignissen, um ein günstiges Schicksal oder einen glücklichen Zufall.“[5] In der Redewendung ‚Glück im Unglück‘ bedeutet es, dass schlimmeres Leid verhindert werden kann und zugleich wird mit Unglück eine zweite Ebene eröffnet, eine Dualität erschaffen von Glück und ‚Un-Glück‘. In Heidelberg wird seit einigen Jahren das Unterrichtsfach Glück angeboten, dessen Ziel unter anderem persönliche Zufriedenheit und soziale Verantwortung umfasst.[6] Bis heute wird häufig die Überlegung diskutiert, ob der Besitz von Grundbedürfnissen, das heißt Gesundheit (oder zumindest Schmerzfreiheit), ein Dachüber dem Kopf und ausreichend zu Essen und zu Trinken, bereits ausreichend ist für ein glückliches Leben.[7] Neben dem Erkennen von Glück als einen zufälligen Zustand gibt es noch eine weitere, entscheidende Art und Weise, Glück zu definieren, nämlich als eine subjektive Empfindung: Als Zustand großer Freude und intensiven Empfindens von Glückseligkeit, fast schon einer Art Sinnesrausch, erkennt der Mensch in sich das Glück und damit einhergehend auch das Glücklichsein.[8] In der heutigen Bedeutung von Glück liegt der Fokus einerseits auf dem Glück als Zufall und andererseits auf dem Leben. Es wird nach einem glücklichen Leben gestrebt, danach, mehr als nur zufrieden zu sein.[9]
Überlegungen zu einem gelungenen Leben ziehen sich durch alle Epochen, und heute scheint die Frage nach Glück und einem erfüllten Leben aktueller denn je. Buchhandlungen bieten unzählige verschiedene Ratgeber an, von Sittenratgebern und Empfehlungen für ein angemessenes Verhalten in allen Lebenslagen, bis hin zu Ratgebern, mit deren Hilfe ein gutes, glückliches Leben versprochen wird.[10] Ratgeber zu einem gelungenen Leben schaffen es bisweilen sogar an die Spitze der Spiegel-Bestsellerlisten der Sachbücher.[11] Worin ein glückliches Leben besteht, darüber herrscht kein Konsens, sodass die Bandbreite an Ratgebern und Büchernüber das Glück immer unüberschaubarer wird. Manche sehen ihr Glück in materiellem Reichtum und beruflichem und privatem Erfolg. Auch hier bleibt die Definition von Erfolg diskussionswürdig. Andere finden ihr Glück in einem aufmerksamen Leben, welches durch gezielte Achtsamkeit und Meditation trainiert werden kann.[12]
Diese Arbeit gliedert sich in drei Teile, wobei in jedem ein Philosoph thematisiert wird. Die ersten zwei Teile widmen sich der antiken Philosophie. Im ersten Teil wird die Philosophie des Glücks nach Aristoteles dargelegt. Anhand der Nikomachischen Ethik soll die Vorstellung von Glück und einem gelungenen Leben nach Aristoteles dargelegt werden. Obwohl Aristoteles oft politisch argumentiert und das Glück auch in der politischen Gemeinschaft sieht, konzentriert sich diese Arbeit auf das Glück des Einzelnen. In der Nikomachischen Ethik sind die Tugenden elementar und nehmen in dieser Untersuchung viel Raum ein. In dieser Arbeit wird mit der Nikomachischen Ethik, 2017 herausgegeben undübersetzt von Gernot Krapinger, gearbeitet.[13]
Im zweiten Teil zur antiken Glücksphilosophie sollen die Grundgedanken zu einem guten Leben von Epikur und seine Vorstellung von Glück dargelegt werden. Im Mittelpunkt stehen verschiedene Empfindungen, vor allem die Lust ist hierbei zu erwähnen. Aber auch die Bedeutung von Freundschaft spielt eine Rolle. Freundschaft ist im Übrigen ein Thema, welches bei allen drei hier thematisierten Philosophen zu finden ist. Außerdem sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Glücksvorstellung von Aristoteles herausgearbeitet werden. Dazu wird in dieser Arbeit mit den Fragmenten, aber auch mitüberlieferten Briefen Epikurs gearbeitet. Die Briefe und Lehrsätze sind in einer zweisprachigen Ausgabe gesammelt undübersetzt worden von Hans-Wolfgang Krautz.[14]
Im letzten Drittel beschäftigt sich diese Arbeit mit Wilhelm Schmid und stellt sich außerdem die Frage, ob antike Glücksphilosophie auch heute noch aktuell ist. Außerdem soll das Glücksstreben und das Bedürfnis der Menschen nach einem gelungenen, erfüllten Leben in der heutigen Zeit dargelegt werden. Die Philosophie Wilhelm Schmids strebt nach einer praktischen Anwendung und seine Vorstellung von einem glücklichen Leben soll in dieser Arbeit dargelegt werden. Schmid entwirft eine Philosophie der Lebenskunst, die in ihren verschiedenen Facetten dargelegt werden soll.
II. Glück bei Aristoteles
Aristoteles wurde 384 v. Chr. in Stagira in Griechenland geboren. Er wurde 62 Jahre alt und starb 322 v. Chr. in Chalkis.[15] Er gilt als einer der bedeutendsten Philosophenüberhaupt. Einen Teil seinerüberlieferten Schriften macht seine Ethik aus, der Corpus Aristotelicum, welcher aus drei verschiedenen, sich jedoch teilweiseüberschneidenden Schriften besteht: Die Nikomachische Ethik, die Eudemische Ethik sowie die Magna Moralia, die oft als eine Art Zusammenstellung der beiden anderen Texte gilt.[16] In dieser Arbeit liegt das Hauptaugenmerk auf der Darstellung von Glück und der aristotelischen Vorstellung eines guten Lebens, die er in der Nikomachischen Ethik beschreibt. Die antike Glücksphilosophie kennt zwei zentrale Begriffe von Glück oder Glückseligkeit: eudaimonia und eutychia. Eudaimonia bedeutetübersetzt guter Geist oder eine Art innere Glückseligkeit. Glücklich und ein gelungenes Leben führend ist nach der eudaimonia derjenige, der von einem guten Dämon geführt wird und tugendhaft handelt.[17] Eutychia beinhaltet, wie auch eudaimonia, die griechischen Vorsilbe ‚eu ‘ für ‚gut‘. Der Begriff setzt sich außerdem noch aus dem Namen der Schicksalsgöttin Tyche zusammen, und lässt sich als ‚vom Glück begünstigt sein‘übersetzen.[18]
1. Glück als höchstes menschliches Gut
In der Nikomachischen Ethik, dessen Ethik eine politische Disziplin ist, werden zunächst zwei Aspekte aufgezeigt: Das Schöne und Gerechte und letztendlich die Güter. Das Schöne besitzt in diesem Fall keinenästhetischen Wert, sondern bezieht sich auf das Handeln. „Schön ist ein Handeln, das in sich gut ist und daher Befriedigung schenkt.“[19] Ein Handeln, das nicht nur vom Einzelnen, sondern auch von der Gemeinschaft aller Handelnden als gut empfunden wird, nennt Aristoteles schön und gerecht. Allerdings herrscht darüber Uneinigkeit, denn Sitten und Gesetze stehen oft im Widerstreit zueinander. In der Antike war es neu, zu entdecken, dass Gesetze der Naturüberall identisch waren, die Gesetze von Sitte und Handeln aber sehr unterschiedlich. Das Schöne und Gerechte scheint also nicht grundsätzlich vorherbestimmt zu sein, sondern lediglich durch den Menschen bestimmt.[20]
In der Nikomachischen Ethik schreibt Aristoteles, dass jedes Handeln auf ein Ziel ausgerichtet ist und das Gute dasjenige ist, worauf sich alles hin ausrichtet.[21] Das Gut des Einzelnen rückt Aristoteles in den politischen Kontext. Er geht davon aus, dass das Gut für den Einzelnen dasselbe ist wie für den Staat, sodass „es doch wichtiger und vollkommener [scheint], das Gut des Staates zu erlangen und zu erhalten. Es ist zwar auch erfreulich, wenn das Gut für den Einzelnen erreicht wird, schöner aber und göttlicher ist es, wenn das bei einem ganzen Volk und bei Staaten der Fall ist.“[22] Damit ist gemeint, dass ein gut funktionierender Staat automatisch glücklichere Bürger hat als ein Staat, welchem seine Bürger egal sind. Der Ausgangspunkt der Untersuchung einer politischen Wissenschaft in der Nikomachischen Ethik liegt bei den praktischen Dingen des Lebens, das Ziel liegt nicht im Erkennen, sondern im praktischen Handeln.[23] Die Güter, von denen Aristoteles spricht, sind nicht, wie der Begriff vermutet lässt, durchweg gut, „da sie vielen Menschen zum Schaden gereichen. Denn so manchen wurde ihr Reichtum zum Verhängnis, anderen wieder ihre Tapferkeit.“[24] Nun nennt Aristoteles das Glück als das höchste aller Güter des praktischen Handelns. Doch was bedeutet ‚gut‘? Für Aristoteles ist das Gute kein rein subjektiver Begriff, da erüber die Subjektivität hinausreicht. Das Gute ist eher ein intersubjektiver Begriff,über welchen sich die Menschen in ständigem Austausch befinden.[25] Neben der Intersubjektivität ist dem Guten auch das Sittliche zuzuordnen, der Begriff steht also mit der Frage in Zusammenhang, wie man sich verhalten soll und zielt nicht nur auf das Wollen einer einzelnen Person ab.[26] Etwas Gutes zu wollen, bedeutet also nicht, einen persönlichen Vorteil zu erstreben, sondern etwas Gutes an sich, ganz allgemein, also ein sowohl für den Einzelnen als auch für die Allgemeinheit erkennbares Gut zu wollen.[27] Glück ist für Aristoteles integrativ. Man erreicht Glück nicht in der Erfüllung von einem einzigen Ziel; vielmehr stellt Glück eine Anzahl verschiedener Güter dar, die um ihrer selbst willen gewählt werden, wie beispielsweise Gesundheit und die Gesellschaft mit anderen Menschen.[28] Aristoteles hält Glück für etwas Dauerhaftes, Beständiges, das nur schwer veränderbar ist.[29] Glück ist für ihn untrennbar mit gutem Handeln und mit Tätigsein verbunden. Durch angemessenes Handeln soll ein glückliches und langes Leben erreicht werden.[30] Allerdings hat das Gute in verschiedenen Bereichen wie der Ehre oder der Lust jeweils unterschiedliche Bedeutungen.[31] Die praktische Philosophie, die auf gutes Leben und gelungenes Handeln abzielt, muss sich mit unterschiedlichen Meinungen darüber, was gut oder gerecht ist, auseinandersetzen. Was für einen Menschen gut ist, kann für einen anderen schädlich sein. Praktische Philosophie zielt daher nicht auf allgemeingültige Aussagen ab, sondern auf „Sätze, die in der Regel wahr sind. Dass es die praktische Philosophie mit Aussagen zu tun hat, die nur in der Regel gelten, ist ein Merkmal, das die Möglichkeit echter Wissenschaft keineswegs ausschließt.“[32] In der praktischen Philosophie kommt es nicht nur auf Erkenntnis, sondern vor allem auf die gelungene praktische Anwendung an.[33]
Aristoteles nennt Glück als das höchste aller Güter, er meint: „Sowohl die breite Masse als auch die Gebildeten nennen es Glück und unterstellen dabei, gut leben und sich wohl befinden wäre dasselbe wie glücklich sein.“[34] Aristoteles unterscheidet drei mögliche Arten der Lebensführung: Eine genussreiche, eine politische und eine betrachtende Art zu leben. Die erste Lebensart betrifft vor allem ungebildete Menschen, welche die Lust und ein genussvolles Leben schätzen. Das genussvolle Leben ist allerdings ein Leben wie eine Knechtschaft, wie Aristoteles betont. Zweitens nennt er die politische Art zu leben, in der die Ehre als Ziel allen politischen Lebens zu erstreben ist. Doch auch hier sieht Aristoteles nur Oberflächlichkeit und noch nicht die wahre Art zu leben. Denn das Gut, wonach er sucht, sei etwas dem Menschen Eigenes. Er betont außerdem, dass man lediglich nach Ehre strebe, um sich selbst für gut halten zu können. Da man in der politischen Lebensart nach Ehre strebt und dies aber durch Tüchtigkeit und Fleißerreicht werden soll, hält Aristoteles nun die Tüchtigkeit für wertvoller als die Ehre.[35] Die dritte Lebensart, die Betrachtende, die als Einzige den Anforderungen genügt, die an die Glückseligkeit gestellt werden, nämlich dass sie sich selbst genug ist und als Wünschenswertes nichts darüber hinaus beansprucht.[36] Damit gilt Glück als eine Art Endziel im Leben.[37] Aristoteles benennt das Glück als vollkommen und autark, also etwas, was das Leben aus sich heraus erstrebenswert macht, ohne dass es weiterer Dinge bedarf, und setzt es als das Ziel allen Handelns.[38]
Die drei Lebensweisen spiegeln stufenweise den Aufbau des Menschen wieder. Auf der untersten Stufe steht die Befriedigung physischer Bedürfnisse, die mittlere Stufe stellt die politische Natur und die dritte Stufe die Vernunft dar, die sich in eine theoretische und eine praktische Vernunft aufteilt. Für Aristoteles entscheidet sich der Mensch selbst für eine dieser Stufen, wobei die oberste Stufe die beiden unteren Stufen ebenfalls berücksichtigt. Die Lebensweise, die von Natur aus dem Menschen entsprechen soll, bleibt für Aristoteles jedoch diejenige, die von der Vernunft geprägt ist.[39]
Obwohl Aristoteles zuvor deutlich machte, dass der Mensch das Glück um seiner selbst willen wähle, führt er etwas später in seinem Werk an, dass auch das Glück möglicherweiseäußerer Güter bedarf. Mangel, etwa von Stand oder Schönheit, kann das Glücksgefühl trüben. Aristoteles nennt zwei mögliche Synonyme für das Glück: Für manche Leute seien guteäußere Umstände gleichbedeutend mit Glück. Für Andere, darunter Aristoteles, ist dies die Tugend.
2. Tugenden
Die Tugenden sind für Aristoteles eine praktische Vernünftigkeit.[40] Er differenziert die Tugenden in Tugenden des Denkens und Tugenden des Charakters. Tugenden des Denkens entstehen durch Belehrung, wie Weisheit, Einsicht und Klugheit, während die Tugenden des Charakters, wie Großzügigkeit und Besonnenheit, durch Gewöhnung entsteht. Dem Menschen kommt von Natur aus die Fähigkeit zu, diese Charaktertugenden, auf die im Folgenden genauer eingegangen werden soll, aufzunehmen und sich durch Gewöhnung vollkommen anzueignen.[41] Es genügt nicht, etwas darüber zu hören, sondern es muss an eine Praxis angeknüpft werden.[42] Tugenden eignet sich der Mensch an, indem er sie zuvor tätigt, wie etwa beim praktischen Können. Aristoteles führt ein Beispiel an, dass ein Mensch gerecht wird, indem er Gerechtes tut. Schon im Kindesalter wird der Grundstein für bestimmte spätere Eigenschaften gelegt. „Denn durch unser Verhalten im Umgang mit den Menschen werden die einen gerecht, die andern ungerecht, […] die Eigenschaften erwachsen aus den entsprechenden Tätigkeiten.“[43] Sich tugendhaft zu verhalten, reicht allerdings noch nicht aus, es bedarf einer gewissen Grundhaltung. Außerdem muss wissentlich gehandelt werden, basierend auf einem Entschluss für die Sache selbst und mit einer unerschütterlichen Haltung. Eine Handlung ist dann gerecht, wenn sie so ausgeführt wird, wie ein Gerechter handeln würde.[44] Doch was genau bedeutet die Tugend für Aristoteles? Fest steht, dass Tugenden als eine Art Eigenschaften eng verknüpft sind mit den menschlichen Handlungen, also mit dem Tätigsein. Aristoteles ordnet der Seele dreierlei Dinge zu: Affekte, Fähigkeiten und Eigenschaften. Als Affekte bezeichnet er alles, was von Lust und Unlust begleitet wird, beispielsweise Neid, Liebe, Sehnsucht oder Mitleid. Als Fähigkeiten beschreibt er dasjenige, wodurch der Mensch für Affekte empfänglich wird, also das, wodurch man in der Lage ist, Lust, Unlust oder Zorn zu empfinden.[45] Diese Eigenschaften hält Aristoteles für eine richtige oder falsche Verhaltensweise gegenüber den Affekten. Die Tugenden sind vorsätzlich, zumindest jedenfalls nicht frei von Vorsatz, daher können sie nicht den Affekten zugeordnet werden. Aristoteles schließt die Tugenden auch von den Fähigkeiten aus, da man bei Tugenden, und auch Lastern, nicht von Bewegung, sondern von einer „bestimmten Verfassung“[46] spricht. Daher zählen die Tugenden zu den Eigenschaften. Aristoteles präzisiert dies noch; er führt aus, dass Tugenden derartige Eigenschaften des Menschen sind, „durch die er ein guter Mensch wird und die ihm eigentümliche Leistung gut vollbringt.“[47] Der Mensch versucht also, sich tugendhaft zu verhalten, um dadurch Glück zu erlangen und ein glückliches Leben führen zu können. Das Glück ist das Ziel allen Handelns und dies soll durch Tugendhaftigkeit erreicht werden.[48] In der vollkommenen Tugend liegt die Tätigkeit der Seele, und das wiederum ist Glück.[49] Aristoteles räumt der Tugend einen immens hohen Stellenwert ein, denn er nennt sie noch beständiger und dauerhafter als die Wissenschaften. Glückliche Menschen verbringen ihr gesamtes Leben tugendhaft.[50] Wenn eine Handlung durch Tugend vollendet wird, dann wurde eine Tätigkeit der Seele geleistet und das Gute wurde erreicht.[51] Aristoteles definiert Glück als gut leben und gut handeln. Ein glückliches Leben erfordert also ein stetes gutes Handeln und ein gutes Leben. Glück ist eine Tugend, oder zumindest eine Art von Tugend, der eine ihrer gemäßen Tätigkeit zugeordnet werden kann.[52] Für Aristoteles sind das Ziel und der Preis der Tugend das höchste Gut und auch etwas Göttliches und Seliges, „denn zum Glück gehört einmal, wie gesagt, vollendete Tugend und ein abgeschlossenes Leben.“[53] Für jemanden, der sein Leben der Tugend widmet und dadurch glücklich ist, ist es beinahe unmöglich unglücklich zu werden, da er nichts tun wird, was schlecht ist und verachtenswert.[54] Aristoteles betont dadurch noch einmal die Wichtigkeit des permanenten richtigen Handelns, da es nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft, Glück verspricht.
2.1. Die aristotelische Mesotes- Lehre
Für die Definition und die Darlegung der Tugend ist die sogenannte Mesotes-Lehre für Aristoteles zentral. Mesotes bedeutet Mitte. Aristoteles vertritt die These, dass Tugend immer die Mitte zwischen zwei Lastern, dem Übermaßund dem Mangel, ist. Die Tugend ist damit ihrer Definition nach die Mitte, aber im Hinblick auf das gute Handeln ist die Tugend ein Extrem.[55] Aristoteles differenziert das noch, indem er erwähnt, dass nicht alles eine Mitte hat, denn es gibt Dinge, die an sich schon schlecht sind und nicht erst im Übermaßoder Mangel, wie zum Beispiel Schadenfreude, Ehebruch oder Mord. In diesen Fällen kann man nie richtig handeln, sondern immer nur falsch und schlecht. Des Weiteren gibt es keine Mitte bei Übermaßund Mangel, und auch umgekehrt: Es gibt bei der Mitte kein Übermaßoder Mangel.[56] Die Charaktertugenden versuchen also, eine Mitte zu finden zwischen den Leidenschaften, welche die menschlichen Handlungen beeinflussen.[57] Dass dem Handeln die richtige Überlegung vorausgeht ist für Aristoteles die Grundlage. Es gilt, in seinem Handeln ein Mittelmaßzu finden zwischen Übermaßund Mangel. Die Tugend bezieht sich auf Affekte und Handlungen, bei denen es gilt, das entsprechende Mittelmaßzu finden und beizubehalten. Dies gilt für verschiedene Eigenschaften, wie zum Beispiel Besonnenheit oder Tapferkeit: „Also gehen Besonnenheit und Tapferkeit durch Übermaßund Mangel zugrunde, durch ein Mittelmaßhingegen bleiben sie erhalten.“[58] Die Mitte zu finden und in deren Sinne zu handeln ist ein eindeutiges Zeichen von Tugend. Sie ist eine auf Vorsätzen begründete Grundhaltung, die in einer durch Überlegung bestimmten Mitte in uns selbst liegt. Es gilt also, nicht zu viel oder zu wenig von etwas zu empfinden, wie zum Beispiel Angst, Begierde oder Zorn, sondern „wann man soll und in welcher Situation, wem gegenüber, wozu und wie“[59]. Es lässt sich konkret sagen, dass es drei verschiedene Handlungsweisen gibt: „Zwei davon sind Laster, nämlich die dem Übermaßund die dem Mangel entsprechende, und eine ist die Tugend, die die Mitte bildet“[60].
Allerdings ist es nicht einfach, immer die Mitte zu treffen und nur der Wissende ist dazu in der Lage. Das ist nach Aristoteles der Grund, weshalb richtiges Handeln so selten zu finden ist. Um richtig zu handeln muss man das „kleinste Übel“[61] wählen, und sich von dem Extrem abwenden, das gegenüber der Mitte stärker entgegengesetzt ist. Aristoteles rät, sich von den Fehlern zu entfernen und weist darauf hin, auf Angenehmes und Lust achtzugeben, da man diese nicht vorurteilsfrei beurteilt.[62] Auf dem Weg zum Ziel, die Mitte zu erreichen, ist es notwendig, manchmal in Richtung der Extreme abzuweichen. Auf diese Art und Weise kann der Mensch am einfachsten die Mitte und damit das Gute erlangen.[63]
2.2. Lust und Unlust
Alle Charaktertugenden stehen in Verbindung mit Lust und Unlust. Aristoteles drückt die Situation präzise aus: „Wegen der Lust tun wir das Schlechte, wegen der Unlust unterlassen wir das Gute.“[64] Tugend und Laster sind gegensätzlich, beziehen sich aber auf dieselben Dinge. Aristoteles nennt hierbei jeweils drei zu erstrebende und drei zu vermeidende Werte: Das Werthafte, das Nützliche sowie das Angenehme und auf der anderen Seite das Schändliche, das Schädliche und das Unangenehme. Der Mensch versucht nun, die richtigen Entscheidungen zu treffen und die falschen Handlungen zu vermeiden, um zum höchsten aller Güter, dem Glück, zu gelangen.[65]
Die Lust ist dabei bei allen Menschen zu finden, sie begleitet alle Entscheidungen und Handlungen. Aristoteles betont, dass die Menschen schon seit ihrer Kindheit mit der Lust konfrontiert werden und es darum umso schwieriger ist, derartige Empfindungen loszuwerden. Alle Handlungen werden nach Lust und Unlust beurteilt.[66] Es ist entscheidend, ob man auf gute oder auf schlechte Weise Freude und Unlust empfindet bei verschiedenen Handlungen.[67] Wer in der Lage ist, gekonnt mit diesen beiden Empfindungen umzugehen, der wird gut sein. Wenn jemand aber schlechten Gebrauch dieser Empfindungen macht, wird er auch selbst schlecht sein und kein Glück erreichen. Nicht nur die Handlungen selbst, sondern auch die Tugend bezieht sich auf Lust und Unlust. Die Tugend entsteht beide und sie wächst auch daraus. Aber die Tugend kann auf die gleiche Weise wie sie wächst, auch wieder abhandenkommen, wenn Lust und Unlust nicht mehr auf die Weise vorhanden sind, wie sie entstanden.[68] Unlust und Lust entstehen, wenn jemand auf das reagiert, was einem anderen Menschen zustößt. „Entrüstung ist die Mitte zwischen Neid und Schadenfreude […]. Wer sich entrüstet, empfindet Unlustüber die, denen es unverdient gut geht, […] der Schadenfrohe aber ist so weit von jeder Unlust entfernt, dass er sich darüber sogar noch freut.“[69] Aristoteles betont, dass diejenigen, die unfreiwillig handeln, dies mit Unlust tun, die es aber wegen des Angenehmen tun, machen es mit Lust. Er führt weiter aus, dass nicht alles, was unter Unwissenheit geschieht, freiwillig ist, vielmehr ist es erst dann unfreiwillig, wenn es mit Bedauern und Unlust geschieht.[70] Grundsätzlich aber liegt es am Menschen selbst, sich für eine bestimmte Handlung zu entscheiden. „Denn wo es in unserer Macht steht zu handeln, steht es auch in unserer Macht nicht zu handeln, und wo das Nein bei uns liegt, dort auch das Ja.“[71] Aristoteles geht so weit zu behaupten, dass jemand, der wissentlich etwas Schlechtes tut, dies freiwillig tut, aber er kann, wenn er es schließlich wünscht, nicht plötzlich wieder Gutes tun, hat er einmal Schlechtes getan. Denn „nachdem sie einmal so geworden sind, ist es ihnen nicht mehr möglich, nicht so zu sein.“[72] Auch bei der Lust gilt es, sich an der Mitte zu orientieren. Denn wer sich jeder Lust hingibt, ist zügellos. Wer sich aber jeglicher Lust verweigert, der wird letztendlich empfindungslos.[73]
[...]
[1] Schildhammer, Georg: Glück. Wien 2009. S. 8.
[2] Vgl. Schildhammer: Glück. S. 8.
[3] Vgl. Tatarkiewicz, Wladyslaw: Über das Glück. Stuttgart 1984. S. 13.
[4] Vgl. Schildhammer: Glück. S. 28.
[5] Tatarkiewicz: Über das Glück. S. 14.
[6] Vgl. Schildhammer: Glück. S. 12.
[7] Ebd. S. 8.
[8] Vgl. Tatarkiewicz: Über das Glück. S. 14.
[9] Vgl. Schildhammer: Glück. S. 28.
[10] Vgl. Henning, Christoph/ Mitscherlich-Schönherr, Olivia/ Thomä, Dieter: Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2011. S. 308.
[11] http://www.spiegel.de/kultur/bestseller-buecher-belletristik-sachbuch-auf-spiegel-liste-a-458623.html. 10.01.2018.
[12] Vgl. Henning / Mitscherlich-Schönherr / Thomä: Glück. S. 308.
[13] Krapinger, Gernot (Hrsg.): Aristoteles. Nikomachische Ethik, Stuttgart 2017.
[14] Krautz, Hans-Wolfgang (Hrsg.): Epikur. Briefe · Sprüche · Werkfragmente, Stuttgart 2015.
[15] Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Kindler Kompakt. Philosophie der Antike, Stuttgart 2016. S. 92.
[16] Ebd. S. 115.
[17] Vgl. Henning / Mitscherlich-Schönherr / Thomä: Glück. S. 11.
[18] Vgl. Schildhammer: Glück. S. 28f.
[19] Höffe, Otfried: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, Berlin 2008. S. 106.
[20] Vgl. Ebd. S. 106f.
[21] Vgl. NE I, 1094a. 1-5.
[22] NE I, 1094b. 5-15.
[23] Vgl. NE I, 1095a. 1-10.
[24] NE I, 1094b. 15-20.
[25] Vgl. Buchheim, Thomas: Aristoteles – Einführung in seine Philosophie. Freiburg/München 2015. S. 126.
[26] Ebd.
[27] Ebd. S. 126f.
[28] Vgl. Ricken, Friedo: Allgemeine Ethik. Stuttgart 2003. S. 209.
[29] Vgl. NE I, 1100b, 1-5.
[30] Vgl. Höffe: Praktische Philosophie. S. 109.
[31] Vgl. NE I,1095a. 20-25.
[32] Rapp, Christoph: Aristoteles zur Einführung. Hamburg 2001. S. 21.
[33] Vgl. Ebd. S. 20.
[34] NE I, 1095a. 15-20.
[35] Vgl. NE I, 1095b. 15-30.
[36] Vgl. Pleger, Wolfgang: Das gute Leben. Eine Einführung in die Ethik, Stuttgart 2017. S.19.
[37] Vgl. NE I, 1097a, 30.
[38] Vgl. NE I, 1097b, 15-25.
[39] Vgl. Pleger: Das gute Leben. S. 20.
[40] Vgl. Rapp: Aristoteles zur Einführung. S. 21.
[41] Vgl. NE II, 1103a, 10-20.
[42] Vgl. Rapp: Aristoteles zur Einführung. S. 21.
[43] NE II, 1103b, 10-25.
[44] Vgl. NE II, 1105a, 25 – 1105b, 5-10.
[45] Vgl. NE II, 1105b, 20-25.
[46] NE II, 1106a, 5-10.
[47] NE II, 1106 a, 20-25.
[48] Vgl. NE IC, 1097b, 1-10.
[49] Vgl. NE I, 1102a, 5-10.
[50] Vgl. NE I, 1100b, 10-20.
[51] Vgl. NE I, 1098a, 15-20.
[52] Vgl. NE I, 1098b, 30-35.
[53] NE I, 1100a, 1-5.
[54] Vgl. NE I, 1100b, 30-35.
[55] Vgl. NE II, 1107a, 5-10.
[56] Vgl. NE II, 1107a, 10-30.
[57] Vgl. Rapp: Aristoteles zur Einführung. S. 33.
[58] NE II, 1104a, 25-30.
[59] NE II, 1106b, 20-25.
[60] NE II, 1108b, 10-15.
[61] NE II, 1109a, 35.
[62] Vgl. NE II, 1109b, 5-10.
[63] Vgl. NE II, 1109b, 25.
[64] NE II, 1104b, 10-15.
[65] Vgl. NE II, 1104b, 25-30.
[66] Vgl. NE II, 1105a, 1-5.
[67] Vgl. NE II, 1105a, 5-10.
[68] Vgl. NE II, 1105a, 10-15.
[69] NE II, 1108b, 1-10.
[70] Vgl. NE III, 1110b, 15-20.
[71] NE III 1113b, 5-10.
[72] NE III, 1114a, 20-25.
[73] Vgl. Wolf, Ursula: Sinn der aristotelischen Mesoteslehre. In: Höffe, Otfried (Hrsg.): Aristoteles. Nikomachische Ethik, Berlin 2010. S. 89.