Aus erkenntnistheoretischer Perspektive gelingen selbst alltägliche Problemlösungen häufig erst durch eine Wende in der Betrachtung der beobachteten Phänomene: Man „versuche es daher einmal“, ob man nicht nach Einstellen erfolgloser Probierversuche und stattdessen durch Aufstellen einer zuvor noch nicht in Betracht gezogenen alternativen Hypothese, diese weiter zu überprüfen und „damit besser fortkommen“ möge. Dieser aus Vernunft begründete Perspektivenwechsel kann als ein intuitiver Schritt verstanden werden, wie er sich mit der kopernikanischen Wende vollzieht. Tatsächlich verbindet man traditionell Kants erste Kritik mit einer subjektivistischen erkenntnistheoretischen Wende, die als kopernikanisch bezeichnet wird. In der Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft (im weiteren Text: „B-Vorrede“) taucht der Name des Copernicus auf. Dessen astronomischer wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt wird mit dieser Wende analogisch komplementiert.
Zur Interpretation der „kopernikanischen Wende“ existieren Lesarten mit dem angedeuteten erkenntnistheoretischen Fokus. Gegenwärtig präsentiert sich nun eine alternative Sichtweise, die man als wissenschaftstheoretische Interpretation bezeichnen kann. Der Vorteil, den diese Position aufweist, beruht auf der Methode, mit der die Plausibilität der Argumente erhöht und anhand historischer Textquellen belegt werden kann. Die Integration des Ergebnisses in Kants philosophisch-biographischen Werdegang ist eine weitere Stärke. Die Ausstrahlung der von Kant erarbeiteten Kritik der praktischen Vernunft auf sein eigenes inzwischen verändertes Denken lässt sich hierin nachvollziehen.
Das Ziel meiner Arbeit liegt darin, diese Interpretationslinie nachzuzeichnen und ihre über die erkenntnistheoretische Sicht hinaus weitergehende Stimmigkeit mittels der argumentativen Beiträge hierzu zu unterstreichen.
Inhaltsverzeichnis
1.Problem und Ziele
2.Zum Ereignis der kopernikanischen Wende
3.Zur Metaphorik der „kopernikanischen Wende“
3.1.Wandel des Revolutionsbegriffs
3.2.Bedeutungswandel der Metapher
4.Kants kopernikanische Wende in der B-Vorrede
4.1.Frühe begriffliche Verwendung des „Copernicanischen“
4.2.Der „sichere Gang der Wissenschaften“
4.3.Erfolgreichere Wissenschaften
5.Die wissenschaftstheoretische Interpretation
5.1.„Erste Gedanken des Copernicus“: eine wissenschaftliche Hypothese
5.2.Die Analogie zu Kants „praktischen Data“
5.3.Die intertextuell-historische Lesart der Wende
5.4.Galilei, Torricelli, Stahl: Das „Licht“ der Wende
6.Fazit
7.Literatur
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