Die Gefahr des Lesens. Die Lektüre der Emma Bovary


Seminararbeit, 2004

13 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Emma und ihre Lektüre
2.1 Die Spannweite des Lesestoffes
2.2 Emmas Art zu lesen – die Erschaffung einer Idealwelt und ihre Folgen

3. Ironisierung durch den Erzähler und Kritik des Autors

4. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Mais qui donc la rendait si malheureuse? où était la catastrophe extraordinaire qui l’avait bouleversée?“[1] Diese und ähnliche Fragen nach dem Ursprung ihres Unglücks stellt sich Emma Bovary, die Hauptfigur aus Flauberts 1856 erschienenem Roman Madame Bovary, in ihrer tiefen Verzweiflung über die Enttäuschung ihrer mittelmäßigen Ehe, zwei Liebschaften mit unglücklichem Ausgang und den schlussendlich drohenden, von ihr verschuldeten finanziellen Ruin ihrer Familie. Worin liegt die Ursache immer wiederkehrender Motive eines unerfüllten Lebens, wie z.B. l’ennui und das fehlende bonheur, die sich in ihren Desillusionen und sogar im tragischen Ende der Protagonistin widerspiegeln? Emma selbst macht vor allem ihren Ehemann Charles verantwortlich[2] und bereut, dass ihr Leben durch zufällige Begebenheiten[3] oder gottgelenktes Schicksal[4] nicht anders verlief.

Doch verschuldet Emma, unfähig, den wahren Grund ihrer Frustration zu erkennen, nicht selbst ihre Enttäuschungen? Charles entspricht genauso wenig wie ihre beiden Liebhaber Léon und Rodolphe dem, was sich die junge Frau erträumt, nämlich einem Ideal, das sie zum Maßstab für ihr ganzes Dasein erhebt. Dieser träumerische Inbegriff der Vollkommenheit bezieht sich insbesondere auf ihre Vorstellungen von Liebe und entstammt, wie wir untersuchen werden, der Literatur, die sie schon als junges Mädchen, aber auch später als verheiratete Frau verschlingt. Daraus lässt sich unsere Hypothese ableiten, nach der Emmas Lektüre der eigentliche Ausgangspunkt des Unglücks in ihrem Leben und letztendlich auch ihres tragischen Endes ist.

Doch wie gestaltet sich dieses komplexe Verhältnis der héroïne zu ihrem Lesestoff und welche Konsequenzen entstehen daraus? Wir wollen im folgenden untersuchen, inwiefern Emmas Art zu lesen ein essentieller Grund für ihr letztendliches Scheitern ist. Dazu betrachten wir zunächst die Beschaffenheit der von ihr gelesenen Literatur, um dann deren Verarbeitung durch ihre Art und Weise des Lesens zu analysieren. Abschließend wir uns der Ironisierung von Emmas Verhalten durch den Erzähler zu.

2. Emma und ihre Lektüre

Das Wort ‚Lektüre’ bezeichnet per definitionem sowohl den Lesestoff als auch den Lesevorgang.[5] Um unsere Analyse zu vervollständigen, müssen wir unter Berücksichtigung dieser Ambiguität zunächst auf die von Emma gelesenen Texte eingehen. Da Emmas Lektüre sehr unterschiedlich ist und von bekannter, angesehener Literatur bis hin zu Schriftwerken von höchst zweifelhafter Qualität reicht, können wir davon ausgehen, dass weniger die Auswahl des Lesestoffes selbst als vielmehr Emmas Art zu lesen für ihr Verhältnis zur Lektüre entscheidend ist. Daher legen wir den Schwerpunkt bei der Untersuchung der Lektüre auf den Lesevorgang.

2.1 Die Spannweite des Lesestoffes

Obwohl Emma bäuerlicher Herkunft ist, erhält sie in ihrer frühen Jugend, ab dem Alter von 13 Jahren, im Kloster eine „belle éducation“,[6] zu der z.B. der Gesellschaftstanz, das Klavierspiel und Geographieunterricht gehören. Das Kloster ist auch der Ort, wo Bücher sie in ihren Bann zu ziehen beginnen. Nachdem sie bereits in „zartem“ Alter den melancholischen und moralisierenden Roman Paul et Virginie von Bernardin de Saint-Pierre[7] gelesen hat, lernt sie im Gotteshaus durch die Verzierung des Abendgeschirrs zunächst die zur Melodramatik neigende Geschichte der Mademoiselle de La Vallière kennen, in der „la religion, les délicatesses du cœur et les pompes de la Cour“[8] glorifiziert werden. Die einstige Favoritin von Louis XIV hatte sich 1674 in ein Karmeliterkloster zurückgezogen, als sich der König Madame de Montespan als Mätresse nahm.

Des Weiteren liest sie im Verborgenen die Romane, die die Wäscherin des Klosters heimlich in das Gotteshaus hineinschmuggelt. Hierbei handelt es sich um typische, im 19. Jahrhundert verbreitete Liebesromane,[9] in denen sich abenteuerliche und klischeehafte Ereignisse aneinander reihen.[10] Ähnlichen Inhalts sind die von Staub bedeckten Bücher, zu denen Emma im cabinet de lecture Zugang hat.

In der Vielzahl ihrer Lektüre finden sich neben ihren rührend-pathetischen Romanheldinnen, wie z.B. Jeanne d’Arc, Agnès Sorel, Héloïse und vielen anderen, auch Walter Scott, der als von der Romantik geprägter Begründer des historischen Romans gelten kann, und die keepsakes. Bei letzterem handelt es sich um wertvolle, reich illustrierte Bildbände mit feinem Kunstdruckpapier, die eine Auswahl an Gedichten und Prosa enthalten und in der Epoche der Romantik in England und später in Frankreich sehr beliebt waren.[11]

Wir stellen fest, dass bereits in Emmas Jugendzeit ihr Lesestoff stark variiert: Neben allgemein angesehenen Autoren wie Walter Scott und Bernardin de Saint-Pierre finden sich wertvolle Bildbände und auch romantisch-abenteuerliche Romane von niederer Qualität und unbekannten Autoren.

Diese Vielgestaltigkeit ihrer Lektüre setzt sich auch nach ihrer Heirat fort und ist vom jeweiligen Gemütszustand abhängig: Nach dem aristokratisch-luxuriösen bal à la Vaubyessard liest Emma sowohl Mode- und Gesellschaftsmagazine, die sich am mondänen Pariser Leben orientieren, als auch Romane von Balzac und George Sand; nach Léons erstem Weggang versucht sie sich an ‚ernsthafter’ Lektüre der Philosophie und Geschichte, gibt aber schnell auf; als Rodolphe sie verlässt, rettet sie sich in religiöse Broschüren; als ihr der finanzielle und gesellschaftliche Ruin durch die Pfändung ihres Hab und Guts droht, liest sie die ganze Nacht hindurch blutige Schauerromane.

2.2 Emmas Art zu lesen – die Erschaffung einer Idealwelt und ihre Folgen

Im Unterschied zur großen Spannweite von Emmas Lesestoff können wir bei der Art und Weise des Lesens eine von der Art des Textes unabhängige Konstante feststellen. Es ist die Funktion, die die Lektüre für die héroïne einnimmt: „Les livres comblent les manques de son existence […]“.[12] Aber die von ihr gelesenen Bücher füllen nicht nur die Perioden ihrer eigenen Passivität, sondern nähren gleichzeitig Emmas Träume von sozialem Aufstieg und Sehnsucht nach einer von ihr idealisierten Welt, deren einzelne Fragmente sie aus ihren Büchern bezieht. Denn ihre Lektüre ist keine Ganzheit von präzisen und voneinander getrennten literarischen Texten, sondern eine Vermischung exotischer, vom Alltäglichen abweichender Bilder, die sich im Geiste der Protagonistin zusammenfügen.[13] Ein Beispiel gibt uns die Beschreibung der Lektüre Walter Scotts:

Avec Walter Scott, plus tard, elle s’éprit des choses historiques, rêva bahuts, salles des gardes et ménestrels. Elle aurait voulu vivre dans quelque vieux manoir, ces châtelaines au long corsage […].[14]

[...]


[1] Flaubert, Gustave, Madame Bovary. Préface, notes et dossier par Jacques Neefs, Livre de Poche, Paris, 1999, S. 278. Zitate hieraus werden im folgenden mit ‘MB’ und der jeweiligen Seitenzahl gekennzeichnet.

[2] „N’était-il pas, lui, [Charles] l’obstacle à toute félicité, la cause de toute misère […]?“ (MB, S. 197.)

[3] „Elle se demandait s’il n’y aurait pas eu moyen, par d’autres combinaisons du hasard, de rencontrer un autre homme; et elle cherchait à imaginer quels eussent été ces événements non survenus, cette vie différente […].“ (MB, S. 111)

[4] „’Oh! Si le ciel l’avait voulu!’“ (MB, S. 189.)

[5] vgl. Müller-Oberhäuser, Gabriele, "Lesen/Lektüre", in: Metzler-Lexikon Litera tur- und Kulturtheorie: Ansätze– Personen – Grundbegriffe, 2., überarb. u. erw. Aufl., hg. v. Ansgar Nünning, Stuttgart/Weimar, 22001(11998), S. 364 f.

[6] MB, S, 75.

[7] s. Anmerkung v. Jacques Neefs in: MB, S. 97.

[8] MB, S. 98.

[9] vgl. Aragon, Sandrine, Des liseuses en péril. Les images de lectrices dans les textes de fiction de La Prétieuse de l’abbé de Pure à Madame Bovary de Flaubert (1656-1856), Collection „Les Dix-Huitièmes Siècles“, Bd. 71, Paris, 2003.

[10] „Ce n’étaient qu’amours, amants, amantes, dames persécutées s’évanouissant dans des pavillons solitaires, […], troubles du cœur, serments, sanglots, larmes et baisers, […], messieurs braves comme des lions, doux comme des agneaux, vertueux comme on ne l’est pas, toujours bien mis, et qui pleurent comme des urnes.“ (MB, S. 100)

[11] s. Anmerkung v. Jacques Neefs in: MB, S. 102.

[12] Aragon, Sandrine, Liseues en péril, 2003, S. 641.

[13] Aragon, Sandrine, Liseues en péril, 2003, S. 635.

[14] MB, S. 100 f.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Die Gefahr des Lesens. Die Lektüre der Emma Bovary
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Romanische Philologie)
Veranstaltung
Proseminar zu Flauberts Madame Bovary
Note
1,7
Autor
Jahr
2004
Seiten
13
Katalognummer
V43153
ISBN (eBook)
9783638410229
Dateigröße
697 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Worin liegt die Ursache immer wiederkehrender Motive eines unerfüllten Lebens, wie z.B. l'ennui und das fehlende bonheur, die sich in ihren Desillusionen und sogar im tragischen Ende der Protagonistin widerspiegeln? Emma Bovary selbst macht vor allem ihren Ehemann Charles verantwortlich und bereut, dass ihr Leben durch zufällige Begebenheiten oder gottgelenktes Schicksal nicht anders verlief. Doch verschuldet Emma, unfähig, den wahren Grund ihrer Frustration zu erkennen, nicht selbst ihre ...
Schlagworte
Gefahr, Lesens, Lektüre, Emma, Bovary, Proseminar, Flauberts, Madame, Bovary
Arbeit zitieren
Eva Sauerteig (Autor:in), 2004, Die Gefahr des Lesens. Die Lektüre der Emma Bovary, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43153

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