Psychomotorische Diagnostik im Spannungsfeld zwischen Medizin und Pädagogik


Diplomarbeit, 2005

89 Seiten, Note: 1


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG
1.1. Zur Motivation über dieses Thema meine Diplomarbeit zu schreiben
1.2. Aufbau und Gliederung der Arbeit
1.3. Einführung in das Thema

2. PSYCHOMOTORISCHE DIAGNOSTIK
2.1. Definition „Diagnostik
2.1.1. Begriffsabgrenzungen
2.1.2. Klassifizierung der diagnostischen Methoden
2.2. Historisch-methodischer Überblick
2.2.1. Frühe Phase
2.2.2. Die Weiterentwicklung des OSERETZKY-Tests
2.2.3. Die motometrische Phase
2.2.4. Förderdiagnostik
2.2.5. Beobachtung
2.2.6. Individuelle Entwicklungspläne
2.3. Gütekriterien

3. GRUNDLAGEN DER DIAGNOSTIK AUS MEDIZINISCHER SICHT
3.1. klassische Medizin
3.1.1. Definition „Diagnostik“
3.1.2. Das medizinische Modell der Diagnostik
3.2. Diagnostik in der Gesundheitsförderung

4. ENTWICKLUNG DER PÄDAGOGISCHEN DIAGNOSTIK
4.1. Der Weg der Diagnostik in pädagogische Handlungsfelder
4.2. Die pädagogische Diagnose
4.2.1. Zum Verhältnis von diagnostizierenden Pädagogen und Klienten
4.2.2. Förderdiagnostische Informationsgewinnung in der Pädagogik
4.2.3. Gütekriterien des diagnostischen Vorgehens in der Pädagogik

5. DAS SPANNUNGSFELD DER DIAGNOSTIK
5.1. kritische Fragestellung
5.2. Psychomotorische Diagnostik im Zeitwandel derzugrundeliegenden Theorien
5.2.1. Motometrische Verfahren
5.2.2. Psychomotorische Diagnostik im Zuge des Paradigmenwechsels
5.2.2.1. Blick auf die Gütekriterien
5.2.3. Förderdiagnostik
5.3. Methodenbezogene Kritik
5.3.1. Vor- und Nachteile der klassischen Diagnostikmethoden
5.3.2. Kritischer Blick auf die Methoden der Förderdiagnostik
5.4. Diagnostik und Individuum

6. KONSEQUENZEN FÜR DIE PSYCHOMOTORIKUND DIE PSYCHOMOTORISCHE DIAGNOSTIK: EIN RESÜMEE

7. LITERATURVERZEICHNIS

8. ERKLÄRUNG

1. EINLEITUNG

Ich möchte die Einleitung in drei Teile gliedern. Zunächst werde ich kurz über eine Erfahrung berichten, die mich auf die Problematik der Psychomotorischen Diagnostik in einem Spannungsfeld zwischen medizinisch beeinflussten Erwartungen von Eltern und Umfeld des Kindes im Sinne einer Unterscheidung in „gestört“ oder „nicht gestört“ und (eigenen) pädagogischen Grundsätzen aufmerksam gemacht hat. Aus dieser Erfahrung heraus, resultierte schließlich die Motivation, über dieses Spannungsverhältnis meine Diplomarbeit zu verfassen. Danach werde ich den Aufbau meiner Arbeit erläutern und eine kurze Einführung in das Thema geben.

1.1. Zur Motivation über dieses Thema meine Diplomarbeit zu schreiben

Im Dezember 2004 habe ich im Rahmen meiner Psychomotorik-Zusatzausbildung an der FH Darmstadt, FB Sozialpädagogik, ein Fördergutachten über ein Kind aus der von einer Kommilitonin und mir geleiteten Psychomotorik-Gruppe geschrieben. Teil dieses Fördergutachtens war die Durchführung einer Diagnostik. Zusammen mit meiner Kommilitonin habe ich mich der Verfügbarkeit und Einfachheit halber für die von CARDENÁS entwickelte „Diagnostik mit Pfiffigunde“[1] entschieden. Eine aufwendigere Diagnostik kam aufgrund des relativ geringen Zeitrahmens nicht in Frage.

Schon während der Vorbereitung unseres Diagnostik-Tages fiel uns auf, welchem Druck wir die Kinder, die uns bisher nur als „gutmütigen Spielpartner“ aus den Psychomotorik-Stunden kannten, aussetzen werden. Da wir bisher keinerlei Erfahrung mit Diagnostik in der Praxis hatten, arbeiteten wir uns durch die dazugehörige Literatur. Meine Kommilitonin würde die Kamera führen und ich sollte die Geschichte mit den Kindern „durchspielen“. Zunächst fiel uns auf, dass alleine die Vorbereitungen, Materialbeschaffungen, „Präparieren“ der Psychomotorik-Halle etc. mit einem sehr hohen Aufwand verbunden war. Das Spielen von Pfiffigundes Geschichte mit den Kindern verlief dann aufgrund der guten Vorbereitung relativ reibungslos. Anzumerken ist jedoch, dass von fünf teilnehmenden Kindern nur zwei der Geschichte wirklich folgen konnten und konsequent mitarbeiteten. Darunter war „glücklicherweise“ auch jenes Kind, über welches wir unser Fördergutachten schreiben wollten.

In der Auswertung des Videobandes hielten wir uns streng an die Vorgaben der Autorin.

Das Ergebnis überraschte uns sehr. Das Kind, welches wir diagnostiziert hatten, zeigte in den bisherigen Psychomotorik-Stunden keinerlei Auffälligkeiten und hatte unserer Ansicht nach gute sozial-kommunikative und motorische Kompetenzen. Wir hatten es für das Fördergutachten ausgewählt, weil wir von Beginn unserer Arbeit an ein sehr gutes und vertrauensvolles Verhältnis zu ihm und seiner Mutter hatten und uns für unsere „erste Diagnostik“ keinen „Problemfall“ aussuchen wollten.

Was die Diagnostik scheinbar ans Licht brachte, war unfassbar. Wir hatten es dem Ergebnis zufolge offenbar mit einem Kind zu tun, welches leichte Probleme in der Grobmotorik und schwerwiegende Probleme in der Feinmotorik hatte. Zudem war in vier Kriterien ein hoher Förderbedarf zu erkennen.

Da dies unsere erste Diagnostik war und im Rahmen des Fördergutachtens eher Übungs- und Einschätzungsqualität hatte, hatte das Ergebnis keine weitreichenden Konsequenzen für das Kind. Einige Auffälligkeiten, die wir festgestellt hatten, konnten mit Hilfe unserer Professorin sinnverstehend interpretiert werden und ergaben somit ein klares Bild von den Lebensthemen und Problemen des Kindes. Wir stellten uns jedoch an dieser Stelle die Frage, was passiert wäre, wenn diese Diagnostik in einem institutionellen Rahmen durchgeführt worden wäre und dem Kind durch diese Diagnose eine Entwicklungsstörung zugewiesen worden wäre.

Ein einziger Diagnostiktag hätte in diesem Fall eine großen Einfluss über das weitere Leben des Kindes gehabt und hätte es mit einer vielleicht unabwendbaren Diagnose verknüpft. Mögliche Gründe für das Ergebnis, ob das Kind vielleicht einfach einen schlechten Tag hatte oder keinen Zugang zu Pfiffigundes Abenteuer gefunden hat, werden nicht berücksichtigt.

Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass sich diese Kritik keineswegs an einzelne Diagnostik-Methoden richtet; ich bin jedoch der Meinung, man sollte die Psychomotorische Diagnostik im Allgemeinen kritisch auf ihre Anwendbarkeit, ihre Chancen und Risiken und ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen.

1.2. Aufbau und Gliederung der Arbeit

In Kapitel 2 werde ich zunächst das Wort „Diagnostik“ im psychomotorischen Sinne definieren und einen historisch-methodischen Überblick über die Entwicklung der Psychomotorischen Diagnostik in Deutschland geben. Die Menschenbilder, die den verschiedenen Diagnostiken zugrundeliegen, entwickelten sich im Laufe der Zeit von einem eher medizinisch geprägten, mechanistischen Menschenbild immer weiter zu einer eher pädagogisch geprägten Sichtweise mit humanistisch oder anthropologisch geprägten Menschenbildern.

Die medizinische Sichtweise der Diagnostik ist Thema des 3. Kapitels. Neben einem Blick auf die klassische Medizin, werde ich auch auf eine veränderte Sichtweise im medizinischen Kontext eingehen: die Gesundheitsmedizin In der Fachsprache wird der Begriff Gesundheitsförderung benutzt.

Neben der Medizin als einen Pol des diagnostischen Spannungsverhältnisses, beschreibe ich in Kapitel 4 den anderen Pol, nämlich die pädagogische Diagnostik. Auch hier werde ich wieder zunächst auf eine historische Entwicklung eingehen, in deren Anfängen man ganz deutlich wiederum die medizinisch geprägte Orientierung erkennt.

Nachdem nun der Rahmen des Spannungsverhältnisses abgesteckt ist, werde ich in Kapitel 5 in dieses Spannungsverhältnis hineingehen und es zunächst in bezug auf die der jeweiligen Diagnostik zugrundeliegende Theorie kritisch beleuchten. In gleicher Weise werde ich mit den gängigen Methoden verfahren, um im letzten Unterpunkt wichtige Kritikpunkte der kritischen Diagnostik aufzugreifen, wie beispielsweise Normalität oder Objektivität.

Im Fazit in Kapitel 6 bewerte ich den heutigen Stand der Psychomotorischen Diagnostik im Spannungsverhältnis zwischen Medizin und Pädagogik und stelle die Frage nach der Notwendigkeit von Psychomotorischer Diagnostik.

1.3. Einführung in das Thema

Diagnostik in der Psychomotorik ist ein seit langem umstrittenes und vieldiskutiertes Thema. In meinen Augen resultiert ein großer Teil der Probleme der Diagnostik, welche von vielen Praktikern[2] beschrieben werden, aus der Doppelrolle, in der sich die Diagnostik befindet. Diagnostik soll ein Mittel sein, eine Krankheit oder Störung mit Hilfe bestimmter Methoden sichtbar zu machen. In der Medizin sind diese Methoden wissenschaftlich geprägt, d.h. sie unterliegen einer bestimmten Standardisierung, Objektivität und weiteren naturwissenschaftlichen Gütekriterien. Diese Grundsätze sind allerdings mit den Paradigmen der Pädagogik nicht vereinbar. In der Pädagogik geht es heutzutage nicht mehr darum, Menschen zu klassifizieren und sie verschiedenen Krankheitsbildern zuzuordnen, sondern viel eher faktisch, sie als Individuum mit individuellen Förderbedürfnissen und Problemen zu sehen. Das Wort „Diagnostik“ hat in der Medizin also einen ganz anderen Sinn, als in der Pädagogik.

Die Psychomotorische Diagnostik steht mit ihrem pädagogischen Grundgedanken und dem Anspruch, eine anerkannte Therapiemethode zu bieten, wörtlich genommen „zwischen den Fronten“. Das hieraus resultierende Spannungsverhältnis möchte ich in der vorliegenden Arbeit sowohl von der medizinischen Seite, als auch vom pädagogischen Standpunkt aus kritisch beleuchten.

2. PSYCHOMOTORISCHE DIAGNOSTIK

2.1. Definition „Diagnostik“

Das Wort Diagnostik kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Unterscheidung“ oder „Entscheidung“. Im medizinischen Sinne dient sie der Erkennung und Unterscheidung von Krankheiten. Die Psychomotorische Diagnostik geht an dieser Stelle allerdings noch einen Schritt weiter. Sie sieht einen untrennbaren Zusammenhang zwischen dem Prozess des Erkennens und des Verstehens bei der Entscheidungsfindung[3]. Die Diagnose soll also nicht nur Defizite und Störungen aufdecken, wie es beispielsweise die Hauptaufgabe der Medizinischen Diagnostik ist, sondern ebenso Möglichkeiten aufzeigen, das Kind durch einen sinnverstehenden Zugang optimal zu fördern und es bei der Entdeckung der eigenen Kräfte und Stärken zu unterstützen.

Die Diagnostik kann ein Kind durch die gesamte Psychomotorik-Therapie begleiten, d.h. sie kann diese sowohl legitimieren und einleiten als auch immer wieder den Therapieweg korrigieren und auf Veränderungen hinweisen. Zusätzlich kann sie auch den Abschluss der Maßnahme kennzeichnen.

2.1.1. Begriffsabgrenzungen

Zum besseren Verständnis möchte ich hier kurz einige Begriffe definieren. Die eindeutige Abgrenzung zum besseren Verständnis der Begriffe ist notwendig, da diese im Folgenden häufig gebraucht werden und dann an dieser Stelle nur noch fachspezifisch definiert und interpretiert werden müssen.

Die Begriffe Diagnose und Diagnostik wurden aus der Medizin sowohl in die Psychologie als auch in die Sonderpädagogik und von dort in die Pädagogik übernommen.[4] Die Psychologie ist jedoch die wissenschaftliche Disziplin, die sich in den letzten Jahrzehnten am häufigsten mit diesem Thema beschäftigt hat. Das Wörterbuch der Psychologie definiert Diagnostik als

die mit qualitativen und quantitativen Kenndaten zu ermittelnde Charakterisierung 1. des Zustandsbildes eines Menschen und seiner Position innerhalb eines bestimmten Bezugssystems und 2. der Bedingung und Ursachen, die zur Ausprägung des Zustandsbildes geführt haben, aber 3. auch das damit verbundene Ziel, eine Prognose zu geben und über durchzuführende Maßnahmen zu entscheiden.“[5]

Das auch in der Psychomotorischen Diagnostik verankerte „Dreigespann“ aus Vorgeschichte, Zustandsbild und Zukunftsprognose ist hier deutlich zu erkennen.

In der Pädagogischen Diagnostik bildet die quantitative Erfassung von Lernvoraussetzungen, Lernprozessen, Lernergebnissen und Lernumwelten den inhaltlichen Schwerpunkt.[6] Sie ist aus der sonderpädagogischen Diagnostik heraus entstanden und hat heutzutage ihr Haupteinsatzgebiet im Bereich der Schule.

Die Psychomotorische Diagnostik ist ein Teilbereich dieser Pädagogischen Diagnostik. Sie ist im klassischen Sinne die Diagnostik, die eine psychomotorische Förderung einleitet, begleitet oder abschließt. Ihre theoretischen Orientierungen und somit auch die Menschenbilder haben sich in den letzten Jahren grundlegend weiterentwickelt. Diese Weiterentwicklung steht in einem engen Zusammenhang mit auch in der Psychomotorik erfolgten Blickerweiterungen. Im folgenden Kapitel werde ich auf ihre Entwicklung eingehen und ihre Vorteile und Nachteile sowie ihre Notwendigkeit in Kapitel 5 und 6 diskutieren.

Der Begriff der Motodiagnostik ist eine Fachdisziplin des Bereiches Mototherapie. Beide sind als Anwendungsgebiete des Wissenschaftsbereichs Motologie anzusehen und eher medizinisch orientiert. Die Motologie ist seit 1983 an der Philipps-Universität der Stadt Marburg etabliert. Sie beschäftigt sich mit der Entwicklung von Handlungs- und Kommunikationsstrukturen in der menschlichen Persönlichkeit.[7] Ausgehend von der Annahme, dass Störungen in einzelnen Bereichen durch Anpassungsprozesse oder Kompensationen in anderen Bereichen möglichst ausgeglichen werden, muss eine Diagnostik über eine Organ- und Funktionsdiagnostik hinausgehen. Aus dieser Problematik heraus entwickelte sich die Motodiagnostik, die sich des Mediums Bewegung bedient und über diese Bewegung den Zugang zur Persönlichkeit und zum Handlungsvermögen des Menschen sucht. Die Anfänge der Motodiagnostik lassen sich auf den Neurologen OSERETZKY zurückführen, dessen Verfahren im folgenden Unterkapitel näher betrachtet wird.

2.1.2. Klassifizierung der diagnostischen Methoden

Bereits 1931 teilte OSERETZKY in seiner Monographie „Psychomotorik-Methoden zur Untersuchung der Motorik“[8] die diagnostischen Methoden in drei unterschiedliche Bereiche ein:

1) Motoskopische Verfahren: Laut OSERETZKY ist Motoskopie

„die Beschreibung der auf dem Wege der Beobachtung gewonnenen äußeren Merkmale, welche den Zustand des ganzen Organismus oder seiner einzelnen Teile in der Ruhe und in der Bewegung kennzeichnen“[9]

Bewegungsmerkmale werden also durch gezieltes Beobachten erfasst. Dies können offene oder auch standardisierte Spiel- und Bewegungssituationen sein. Eine Auswertung kann entweder anhand freier Aufzeichnungen oder auch durch festgelegte Kriterien erfolgen.

Ausgangspunkt der Diagnostik ist immer die Beobachtung des kindlichen Verhaltens.

Die Motoskopie stellt die Grundlage einer psychomotorischen Diagnostik dar. Sie ermöglicht einen umfassenden Blick auf das Bewegungs- und das Sozialverhalten des zu beobachtenden Kindes.

Laut EGGERT[10] bildet OSERETZKYs motoskopisches Beobachtungsschema auch heute noch den Rahmen für die vielfältigen Verfahren zur Beobachtung der Körperhaltung, der Pose (Natürlichkeit, Künstlichkeit, Gespanntheit und Interesse), des Gesichtsausdruckes, der Mimik, der Gestik, des Händedrucks, des Ganges, der Sprache, der Handschrift, der automatischen Hilfs- und Abwehrbewegungen und der pathologischen Bewegungen. Diese Kriterien findet man auch heute noch in vielen Beobachtungs- oder Einschätzskalen. Da es viele Faktoren gibt, die den Beobachter in seinen Beobachtungen beeinflussen, können diese niemals rein objektiv sein. Es fließen immer subjektiv geprägte Abweichungen in die Auswertung mit ein.

2) Motometrische Verfahren: Motorische Merkmale werden mit Hilfe von Tests gemessen. Die quantitative Erfassung und Auswertung der Daten ermöglicht ein Ergebnis, welches Vergleiche mit Kindern derselben Altergruppe zulässt. Somit kann eine Aussage über den gegenwärtigen Entwicklungsstand des Kindes gemacht werden.

In der Motometrie ist ein hohes Maß an Subjektivität gegeben, da ihre Methoden standardisierbar sind. Motorische Merkmale werden quantitativ erfasst, indem sie die Häufigkeit der Wiederholung einer Bewegungsausführung in einer bestimmten Zeit ermitteln oder aber die Höhe, die Schnelligkeit oder die Weite einer Bewegung feststellen. Die Testauswertung wird also nicht durch subjektive Komponenten beeinflusst, sondern erfolgt durch den Abgleich des meist numerischen Ergebnissen mit anderen Vergleichsgruppen.

EGGERT[11] beschreibt, dass sich in der Motometrie eine Vielzahl verschiedener Verfahren finden, die sich ebenso wie naturwissenschaftliche Tests an den Regeln der klassischen Testkonstruktion orientieren. Diese Gütekriterien werde ich in Kapitel 2.3. beschreiben.

3) Motographische Verfahren:

Beurteilung der Bewegung aus gewonnenen Darstellungen, Abdrucken der Bewegung [12]

Motographie wird durch den Einsatz modernster Technik heute um einiges erleichtert. Sie fand bei OSERETZKY selbst nur wenig Beachtung, da die Technologie, die zur Erfassung der Bewegung nötig gewesen wäre, noch nicht sehr weit entwickelt war. Bewegungen werden heute mit Hilfe von Videokameras oder Fotoapparaten aufgezeichnet, um sie anschließend einer Analyse zu unterziehen. Die Bewegungssituation findet hierbei nicht nur einmalig in Echt-Zeit statt, sondern kann beliebig oft angeschaut und ausgewertet werden.

Viele Diagnostiken lassen sich in dieses dreiteilige Schema einordnen, bzw. bedienen sich deren Elemente.

In der Praxis existiert jedoch noch eine weitere Klassifikation der verschiedenen Diagnostik-Methoden. Diese Klassifikation beschreibt jedoch nicht nur die Art der Informationssammlung, sondern ermöglicht auch ein differenziertes Bild der jeweiligen Auswertungsmethode: Die quantitative Diagnostik als messende, objektive Methode und die qualitative Diagnostik als beschreibende, subjektive Methode.

2.2. Historisch-methodischer Überblick

An dieser Stelle werde ich die Entwicklung der psychomotorischen Diagnostik erläutern: ausgehend von der bereits oben beschriebenen Enteilung von OSERETZKY über die motometrischen Verfahren bis hin zur Förderdiagnostik.

Unter Berücksichtigung der verschiedenen Menschenbilder, die jeder Phase zugrunde liegen, sollen die einzelnen Charakteristiken der jeweiligen Orientierungen vorgestellt werden. Zu jeder Phase werde ich einen diagnostischen Test als Beispiel geben, der jedoch weder als einziger Test dieser zeitlichen Epoche, noch als „klassischer“ im Sinne von typischer Diagnostiktest der beschriebenen Phase gesehen werden soll. Ich möchte die bekannten Testmethoden jedoch in das erstellte Schema einfügen, um sich sowohl am Verlauf der Literatur und theoretischen Merkmalen, als auch an praxisnahen Tests selbst orientieren zu können. In Punkt 2.2.5. werde ich auf eine weitere, vieldiskutierte Methode eingehen, welche in die vorher beschriebenen Phasen nicht ohne weiteres einzuordnen ist, da sie teils als Bestandteil einer Diagnostik, teils aber auch als eigenstehendes Mittel genutzt wird: die Beobachtung.

Die Diagnostik der psychomotorischen Praxis Aucouturier bedient sich allein der Beobachtung des Kindes während der Stunde. So kann sie der Problematik und den Schwierigkeiten des Kindes so nahe wie möglich kommen und diese sinnverstehend interpretieren.

Im letzten Punkt werde ich den Individuellen Entwicklungsplan (I-E-P) als Methode beschreiben, welche die Diagnostik in das ganzheitliche Förderprogramm des Kindes integriert und die vielfältig gewonnenen diagnostischen Informationen strukturiert.

2.2.1. Frühe Phase

Der erste bedeutsame spezielle Entwicklungstest für den Bereich der Motorik war die „Metrische Stufenleiter zur Untersuchung der motorischen Begabung“ von OSERETZKY, die 1923 zunächst in Russisch, 1925 dann aber in deutscher Sprache herausgegeben und mehrfach vom Autor revidiert wurde. Diesem eher klinisch orientierten Testverfahren liegt ein mechanistisches Menschenbild zugrunde, welches den Menschen als funktionierende Einheit sieht.

Dem Autor ging es in diesem Testverfahren um die Erfassung der angeborenen, motorischen Begabung. Sechs verschiedene Komponenten dieser Begabung konnte der Test erfassen. RENNEN-ALLFOFF und ALLHOFF[13] beschreiben, dass die Skala bezüglich des Aufbaus dem Binet-Verfahren zur Intelligenzmessung folgt.

Für jede der vorgesehenen Altersstufen gab es 6 Aufgaben. Ausgehend vom Alter des zu testenden Kindes wurden so lange Aufgaben vorgelegt, bis nach unten hin alle Items einer Serie gelöst und nach oben hin keines mehr bewältigt wurde. Zur Auswertung konnte aus dem Lösungsmuster das motorische Entwicklungsalter des Kindes bestimmt werden, welches dann im Vergleich zum chronologischen Alter interpretiert wurde.

2.2.2. Die Weiterentwicklung des OSERETZKY-Tests

Auch dieser Phase liegt ein Menschenbild zugrunde, welches sehr funktional orientiert ist. Kinder werden in „normal“ und „behindert“ klassifiziert, indem der Endwert des Testes den Ausschlag gibt. Der Körper wird zudem als eine Einheit gesehen, in dem sich Störungen eines Wahrnehmungsbereiches negativ auf andere Bereiche auswirken können.

OSERETZKYs Nachfolge traten viele Forscher an, sodass sich nach EGGERT[14] drei Entwicklungslinien motometrischer Verfahren kennzeichnen lassen:

1. die Entwicklung in den USA in den 40er bis 60er Jahren hin zu den LINCOLN – OSERETZKY – Skalen und später dann zum BRUININKS – OSERETZKY – Test[15].
2. Die zeitlich daran anschließenden deutschen Entwicklungen im Rahmen der Testbatterie für geistig behinderte Kinder (LINCOLN – OSERETZKY – Test KF 18von EGGERT[16] ) und
3. dem GÖLLNITZ – OSERETZKY – Test in der DDR, der jetzt als ROSTOCK – OSERETZKY – Test von KURTH[17] vorliegt.

Die „metrische Stufenleiter“ von OSERETZKY wurde in den Folgejahren mehrmals bearbeitet. Die zu dieser Zeit bekannteste Version war die oben bereits erwähnte LINCOLN – OSERETZKY Motor Development Scale. Sie wurde 1969 von BONDY, COHEN, EGGERT und LÜER und 1970 von LÜER, COHEN und EGGERT als deutsche Version „Testbatterie für geistig behinderte Kinder“ herausgegeben.

Die LINCOLN – OSERETZKY – SKALA KF 18 wurde 1971 von EGGERT[18] als Diagnostik zur Erfassung des motorischen Entwicklungsstandes bei normalen, lernbehinderten und geistig behinderten Kindern herausgegeben. Diese Kurzform LOS KF 18 möchte ich an dieser Stelle vorstellen.

EGGERT entwickelte diese Kurzform, da bei der langen Fassung auf eine Durchführung oftmals aufgrund des Zeitmangels oder der Motivationsprobleme der zu testenden Kinder verzichtet werden musste. Weiterhin präzisierte er in der Kurzform die Durchführungs- und Bewertungsanweisungen.

Ziel des Tests ist die Beurteilung des gegenwärtigen motorischen Entwicklungsstandes von normalen und behinderten Kindern im Alter von 5 bis 13 Jahren. EGGERT[19] geht zu dieser Zeit davon aus, dass bei lernbehinderten, geistig behinderten und verhaltensgestörten Kindern oft auch das Bewegungsverhalten gestört sei. Über eine gezielte Bewegungserziehung seien zugleich Störungen des sozialen und emotionalen Verhaltens positiv zu beeinflussen.[20] Aufgrund der Annahme, dass ein primärer Wahrnehmungsbereich einen anderen (sekundären) motorischen Bereich „stört“, spricht man in diesem Zusammenhang auch von der „Sekundärstörungshypothese“.

Der LOS KF 18 besteht aus 18 Aufgaben, deren Schwierigkeitsgrad ansteigt. Der Test sollte von Psychologen sowie psychologisch geschulten Sonderschullehrern durchgeführt werden. Außerdem wird ausdrücklich körperliche Fitness verlangt, da jede Aufgabe vom Testleiter demonstriert werden muss.

Die zur Durchführung benötigten Materialien sind einfach zu besorgen (Papier, Schere, Streichhölzer). Einige Aufgaben erfolgen auch ganz ohne Materialaufwand (z.B. mit dem Finger die Nasenspitze berühren). Für die Auswertung steht ein Protokollbogen zur Verfügung, welcher neben der Kurzbeschreibung der Items auch Hinweise zur Durchführung und Bewertung (Zahl der vorgesehenen Durchgänge, Zeitgrenzen, Bewertungskriterien) enthält. Jede Aufgabe wird mit „1 Punkt“ als gelöst oder „0 Punkte“ als nicht gelöst bewertet. Den Testrohwert bildet die Summe der gelösten Aufgaben. Für geistig behinderte, lernbehinderte und „normale“ Kinder existieren gesonderte, altersgemäß gegliederte Normentabellen zur Umwandlung des Rohwertes in einen T-Wert. Die abschließende Interpretation des Tests erfolgt in Bezug auf die motorische Entwicklung des Kindes in den Abstufungen „hoch“, „gut“, „normal“, „unternormal“, oder „behindert“.[21]

2.2.3. Die motometrische Phase

Diagnostische Tests der motometrischen Phase orientieren sich an den ursprünglich aus naturwissenschaftlichen Untersuchungen stammenden Gütekriterien Objektivität, Reliabilität, Validität, Normierung und Ökonomie, die ich im Unterkapitel 2.3. ausführlich erläutern werde.

Lange Zeit wurde das Kriterium der Objektivität an oberster Stelle der Kriterienliste für das Finden der richtigen Diagnostik gesetzt. Es galt, einen möglichst mit Kindern der gleichen Altergruppe vergleichbaren Wert zu ermitteln. Ausgehend von der von OSERETZKY beschriebenen Motometrie und deren Verfahren der Messung von Bewegungen, entwickelten sich weitere Tests. Mittels exakter Messung und Bewertung motorischer Fähigkeiten und Fertigkeiten wurden Interventionspläne erstellt und Klassifikationen wie „motorisch normal entwickelt“ oder „motorisch auffällig“ gewählt.[22]

KIPHARD nahm Ende der siebziger Jahre sehr optimistisch an, dass

„motometrische Verfahren überlegene Methoden seien ... und dass man durch die frühzeitige Überprüfung der Wahrnehmungs- und Bewegungsentwicklung (durch motorische Tests) in Zukunft eine Chance habe, Verhaltens- und Lernstörungen rechtzeitig in den Griff zu bekommen.“[23]

Auch in weiteren Forschungsbereichen wurden ohne große Überlegungen diagnostische Instrumente angewandt – auch hier waren es immer motometrische Tests[24], die sich an den Kompetenzen und Defiziten des Kindes orientierten.

Selbst in den Ausbildungsrichtlinien für motodiagnostische Kurse des Aktionskreises Psychomotorik wurden Instrumente der „klassischen“ Testtheorie bevorzugt.[25]

Das erklärte Ziel einer Diagnostik war eine vermeintlich objektive, quantitative Information und eine dazugehörende aber dennoch sparsame Interpretation dieser Zahlen.

Im Menschenbild spiegelt sich ganz klar die Messbarkeit des Menschen wieder. Ein Defekt in der Motorik kann behoben werden, wenn dieser zuerst erfasst und eingeordnet und dann mit der dazugehörigen Therapie behandelt wird.

Kritiken, die zwar schon während dieser Zeit laut wurden, wurden aber oftmals mit dem Argument der notwendigen Rechtfertigung einer Therapie bei Krankenkassen oder anderen behördlichen Instanzen abgewehrt.

Zwei klassische Tests dieser Phase und gleichzeitig auch zwei der bekanntesten Diagnostiken sind zum einen der 1970 von KIPHARD veröffentlichte „TRAMPOLIN-KÖRPERKOODINATIONSTEST“[26], ein schnell durchführbares Beobachtungs-verfahren, welches die pathologischen Anpassungsmechanismen des Trampolinspringens als Merkmal für eine vorliegende Störung erklärt. Zum zweiten der klassischste motometrische Test, welcher in einigen Institutionen auch heute noch in Gebrauch ist: der „Körperkoordinationstest für Kinder (KTK)“[27], welcher 1974 von SCHILLING und KIPHARD vorgestellt wurde. Auf letztgenannten werde ich jetzt näher eingehen.

1974 erschien der KTK als

Methode zur Feststellung des motorischen Entwicklungsstandes der Körperbeherrschung und Identifikation hirngeschädigter Kinder “.[28]

Er basiert auf der von HÜNNEKENS, KIPHARD und KESSELMANN[29] veröffentlichten motorischen Funktionsprüfung und auf den darauf aufbauenden Hamm-Marburger-Koordinationstest für Kinder von KIPHARD und SCHILLING.[30] Diese Entwicklungslinie und somit auch der KTK zielte weniger auf die Erfassung der motorischen Fähigkeiten im Allgemeinen, sondern vielmehr auf die Messung des Bereichs der Motorik, der für neuropsychologische Diagnostikzwecke besonders geeignet schien.

Der KTK, der sich im Vergleich zu seiner Vorgängerversion durch eine reduzierte Aufgabenzahl, sowie eine testtheoretische Überarbeitung und Schwierigkeitsstaffelung innerhalb der Items unterscheidet, wurde auf die Erfassung der grundlegenden Dimension der Grobmotorik ausgerichtet, um leicht bzw. nicht sofort erkennbare Hirnschäden bei Kindern zu diagnostizieren.[31]

Er besteht aus vier verschiedenen Aufgaben: Balancieren rückwärts, monopedales Hüpfen, seitliches Hin- und Herspringen und seitliches Umsetzen. Der Materialaufwand ist relativ hoch, für jede Aufgabe werden mehrere, teilweise sehr sperrige Gegenstände benötigt. Jede einzelne Aufgabe ist so aufgebaut, dass beginnend mit einfachen Übungen der Schwierigkeitsgrad stetig gesteigert wird, um das Kind an seine Leistungsgrenze heranzuführen. Die Dauer des Tests beläuft sich auf 20 Minuten. Dem Testleiter wird außerdem empfohlen, das zu testende Kind während der Übungen zu motivieren und durch Lob aufzubauen. Aussagen wie „nicht bestanden“ oder „falsche Ausführung“ sollen absolut vermieden werden.

Zur Auswertung werden alle erzielten Punkte jeder einzelnen Aufgabe zu einem Rohwert addiert. Daraufhin erfolgt eine Umwandlung dieses Wertes in einen Motorikquotienten (MQ) mit Hilfe einer Umwandlungstabelle. Die Addition der Rohwerte aller vier Aufgaben sowie eine weitere Umwandlung durch eine Umwandlungstabelle ergibt einen Gesamt-MQ.

Für die Interpretation dieses MQ gibt es genaue Angaben. Ein MQ im Bereich von etwa 100 gilt als normale bzw. alterentsprechende motorische Leistung. Werte im Bereich zwischen 71 und 85 gelten als auffällig, darunter sogar als eindeutiges Zeichen einer Störung. Für behinderte Kinder gelten gesonderte Werte.

2.2.4. Förderdiagnostik

Gemeinsam im Zuge mit der Diagnostik in der Sonderpädagogik vollzog sich dann ein grundlegender Wandel der Sichtweise, nachdem die Kritik vor allem von Praktikern immer lauter wurde. PAWLIK sprach zu dieser Zeit sogar von einer „ Krise der Diagnostik “.[32]

Rein begrifflich spricht man von einem Wechsel der Auslese- oder Selektionsdiagnostik hin zu einer Förderdiagnostik. Dieser Paradigmenwechsel[33] vollzog sich nicht nur im Rahmen der psychomotorischen Diagnostik, sondern in der gesamten psychomotorischen und vor allem pädagogischen Praxis. Anstelle der Annahme, dass eine Behinderung ein letztlich unveränderbarer Defekt sei (=Konstanzannahme), rückte die Veränderungsannahme. Hier wird die Behinderung nun nicht mehr als feststehendes Persönlichkeitsmerkmal gesehen, sondern als ein mit anderen Persönlichkeitsmerkmalen vergleichbares, veränderbares und einer ständigen Entwicklung unterlegenes Axiom der menschlichen Persönlichkeit.[34]

Die Annahme, durch einen diagnostischen Test einen Endwert zu erhalten, der als konstantes Persönlichkeitsmerkmal des getesteten Kindes zu sehen ist, konnte nicht gehalten werden. Das zu testende Kind wird nun nicht mehr als funktionierende Einheit gesehen, sondern sein Verhalten wird zusätzlich interpretiert. Diese Ebene ermöglicht es, Fördermöglichkeit nicht aus Test-Endwerten abzuleiten, sondern aus individuellen Beobachtungsmerkmalen.

In der Pädagogik und auch in der Psychologie ging und geht es auch heute noch eher darum, Veränderungen herbeizuführen und nicht ein Zustandsprofil zu beschreiben.

EGGERT sieht die oben beschriebe Krise der Diagnostik

„...in der Unzulänglichkeit der Konstanzannahme für die Veränderungsziele im therapeutischen und pädagogischen Raum – es wären Verfahren zur Erfassung von Veränderungen erforderlich.“[35]

Der daraufhin erfolgte und von ihm beschriebene „Paradigmenwechsel“ vom Konstanz- zum Veränderungskonzept und zur Ganzheitlichkeit hat die Psychodiagnostik allgemein und damit auch die Motodiagnostik stark beeinflusst. Die Bestimmung eines „wahren Wertes“ des Menschen und die damit zusammenhängende Annahme, die Persönlichkeit eines Menschen prinzipiell „messen“ zu können, ist zweitrangig geworden. Die individuelle Veränderung des einzelnen ist in den Vordergrund getreten.

In der Förderdiagnostik kommt nun eine Ebene hinzu, die sich auf den individuellen Förderbedarf des Kindes richtet. Die Ganzheitlichkeit des Kindes wird jetzt viel stärker berücksichtigt. Der motometrische Test ist allerdings auch heute noch häufiger Bestandteil einer Diagnostik, jedoch werden jetzt außerdem Bereiche wie Sozial-, Lern- und Arbeitsverhalten oder Fähigkeiten wie z.B. Kreativität, Musik oder Malerei mit in die Auswertung einbezogen.

Die Förderdiagnostik behauptet für sich, individuelle Veränderungsmöglichkeiten zu erkennen. Im Folgenden möchte ich Prinzipien und Ziele der Förderdiagnostik näher erläutern.

EGGERT[36] formuliert drei grundlegende Merkmale, die die Förderdiagnostik von der bisherigen rein motometrisch orientierten Diagnostik unterscheiden:

1. Individualisieren statt Gruppieren
2. Inventarisieren statt Testen
3. Ein gemeinsames theoretisches Modell für Entwicklung, Beobachtung und Diagnose, sowie Förderung und Erziehung

Ausgehend von diesen Merkmalen nennt er vier förderdiagnostische Prinzipien:

- Die Suche nach der „am geringsten einschränkenden Lernumwelt“. Hierbei geht es darum, die Fördersituation zu finden, die am nächsten an der gegenwärtigen Lebenssituation des Kindes liegt.
- Die Individualisierung der Förderung durch eine Erstellung von individuellen Entwicklungsplänen, die sowohl die psychomotorische Förderung als auch anderwärtige Fördermaßnahmen berücksichtigen.
- Die Ableitung der Förderung aus einer allgemeinen Theorie. Diese allgemeine Theorie sollte eine Theorie der motorischen Entwicklung, und nicht eine Theorie der spezifischen Erfordernisse von Kindern mit spezifischen Störungen der Entwicklung sein.
- Die Betonung qualitativer und eher subjektiver Methoden in der Diagnostik mit ihren Elementen der Beobachtung und Verhaltensbeschreibung, Situationsanalysen und dem Versuch, aus Beobachtung und Gesprächen, den inneren Dialog des Kindes mit sich und seinen bedeutsamen Bezugspersonen herauszuarbeiten.

Die Förderdiagnostik orientiert sich also nicht an vorgegebenen Normen und vergleicht diese mit anderen Werten derselben Vergleichsgruppe, sondern an der individuellen Entwicklung eines Kindes und versucht, Entwicklungsstrukturen zu beschreiben. ZIMMER[37] sieht die Aufgabe der Förderdiagnostik darin, die individuellen Möglichkeiten des Kindes und seine besonderen Fähigkeiten hervorzuheben, wie auch Retardierungen und Beeinträchtigungen bestimmter Entwicklungsbereiche zu kennzeichnen, um hierauf Förderschwerpunkte aufzubauen.

SCHÖNRADE und PÜTZ[38] beschreiben ähnliche bzw. ergänzende förderdiagnostische Prinzipien, die im Vergleich zu EGGERT eher in der Praxis angesiedelt sind:

- Diagnostik berücksichtigt die Individualität des Kindes. In einer ersten Beobachtung soll es nicht darum gehen, zu schauen, was ein Kind kann und was nicht. Die Frage des „Wie“ steht im Mittelpunkt. Jede Aufgabenstellung birgt verschiedene Lösungsmöglichkeiten, die von Tag zu Tag variieren können, da das Kind sich in einer ständigen Auseinandersetzung mit sich und seiner Umwelt befindet. Die Leistung des Kindes und Beurteilung seiner Fähigkeiten ist erst Bestandteil eines zweiten Schrittes.

[...]


[1] Cárdenas, B.: Diagnostik mit Pfiffigunde. 3. Auflage, Dortmund 1995

[2] Ich verwende in der vorliegenden Arbeit durchweg der Einfachheit halber die maskuline Form; der Ausdruck bezieht sich jedoch immer auch auf die feminine Form des Subjektes.

[3] vgl. Zimmer, R.: Handbuch der Psychomotorik. Freiburg 1999

[4] vgl. Kleber, E.W.: Diagnostik in pädagogischen Handlungsfeldern. Einführung in Bewertung, Beurteilung, Diagnose und Evaluation. Weinheim und München 1992

[5] Clauss, G.: Wörterbuch der Psychologie. Leipzig 1978

[6] Schwarzer, C.: Einführung in die pädagogische Diagnostik. München 1979

[7] Schilling, F.: Motodiagnostik und Mototherapie. In: Irmischer, T. & Fischer, K.: Psychomotorik in der Entwicklung. Reihe Motorik (Bd. 8) 2. Auflage, Schorndorf 1989

[8] Oseretzky, N. I.: Psychomotorik – Methoden zur Untersuchung der Motorik. Zeitschrift für angewandte Psychologie, Beiheft 57, 1931

[9] Oseretzky 1931

[10] vgl. Eggert, D.: Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung. Dortmund 1994

[11] vgl. Eggert 1994

[12] Oseretzky 1931

[13] vgl. Rennen-Allhoff, B. & Allhoff, P.: Entwicklungstests für das Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter. Berlin und Heidelberg 1987

[14] vgl. Eggert 1994

[15] vgl. Bruininks, R.H. u.a.: The BRUININKS-OSERETZKY-Test of Motor Proficiency. American Guidance Service, 1978

[16] Eggert, D.: LOS KF 18, Lincoln-Oseretzky-Skala, Kurzform zur Messung des motorischen Entwicklungsstandes von normalen und behinderten Kindern im Alter von 5-13 Jahren. Manual. Weinheim 1971

[17] Kurth, E.: Motometrische Rostock-Oseretzky-Skale (ROS). Berlin: Psychodiagnostisches Zentrum der Humboldt-Universität, 1985

[18] vgl. Eggert 1971

[19] vgl. Eggert 1971

[20] vgl. Rennen-Allhoff & Allhoff 1987

[21] vgl. Rennen-Allhoff & Allhoff 1987

[22] vgl. Eggert 1994

[23] Kiphard, E.J.: Motopädagogik. Dortmund 1980b, S.26

[24] vgl. Eggert 1994

[25] vgl. Eggert, D.: Von der Kritik an den motometrischen Tests zu den individuellen Entwicklungsplänen in der qualitativen Motodiagnostik. In: motorik, Schorndorf 18, Heft 4, 1995

[26] vgl. Kiphard, E.J.: Der Trampolin-Körperkoordinationstest. In: motorik, Schorndorf, Heft 3, 1980a, S. 78-83

[27] vgl. Kiphard, E.J. & Schilling, F.: Körperkoordinationstest für Kinder (KTK). Manual von F. Schilling. Weinheim 1974

[28] vgl. Rennen-Allhoff & Allhoff 1987

[29] Hünnekens, H./Kiphard, E.J. & Kesselmann, G.: Untersuchungen zur Motodiagnostik im Kindesalter. Acta Paedopsychiatrica 1967

[30] Kiphard, E.J. & Schilling, F.: Der Hamm-Marburger Körperkoordinationstest für Kinder (HMKTK). Monatsschrift Kinderheilkunde 1970

[31] vgl. Rennen-Allhoff & Allhoff 1987

[32] Pawlik, K.: Diagnose der Diagnostik. Stuttgart 1976

[33] vgl. Eggert, D.: Von den Stärken ausgehen... Individuelle Entwicklungspläne (IEP) in der Lernförderdiagnostik. 4. Auflage, Dortmund 2000a

[34] vgl. Eggert 2000a

[35] Eggert 1994

[36] vgl. Eggert 1994

[37] vgl. Zimmer 1999

[38] vgl. Schönrade, S. & Pütz, G.: Die Abenteuer der kleinen Hexe. 2. erw. Auflage, Dortmund 2001

Ende der Leseprobe aus 89 Seiten

Details

Titel
Psychomotorische Diagnostik im Spannungsfeld zwischen Medizin und Pädagogik
Hochschule
Hochschule Darmstadt
Note
1
Autor
Jahr
2005
Seiten
89
Katalognummer
V43267
ISBN (eBook)
9783638411080
Dateigröße
648 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Psychomotorische, Diagnostik, Spannungsfeld, Medizin, Pädagogik
Arbeit zitieren
Claudia Lindenberger (Autor:in), 2005, Psychomotorische Diagnostik im Spannungsfeld zwischen Medizin und Pädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43267

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