Muslimischer Antisemitismus unter Kindern und Jugendlichen in Deutschland

Aktuelle Lage und Prävention


Masterarbeit, 2018

61 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Antisemitismus in Deutschland
2.1 Definition Antisemitismus
2.2 Forschungsstand muslimischer Antisemitismus

3. Muslimischer Antisemitismus bei Kindern und Jugendlichen
3.1 Einfluss sozialer Medien
3.1.1 Nahostkonflikt und Israel-Bashing im Netz und in nahöstlichen Medien
3.1.2 Verbreitung von Verschwörungstheorien
3.2 Antisemitische Vorbildfunktionen
3.2.1 Soziales Umfeld
3.2.2 Jugendkultur und Rap

4. Prävention von Antisemitismus bei Kindern und Jugendlichen
4.1 Grundsätzliches
4.1.1 „Fall Oskar“ an der Friedenauer Gemeinschaftsschule
4.1.2 Paul-Simmel-Grundschule
4.2 Außerschulische Lernorte und Antisemitismus
4.2.1 Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus e.V
4.2.2 Anne Frank Zentrum

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Folgender Textausschnitt ist einem im Jahre 1962 gehaltenen Vortrag von Theodor W. Adorno entnommen und beschreibt den Antisemitismus als ein „Medium“, das vom Menschen als Mittel genutzt wird, um sich möglicherweise selbst zu entlasten.

„Antisemitismus ist ein Massen medium, in dem Sinn, daß er anknüpft an unbewußte Triebregungen, Konflikte, Neigungen, Tendenzen, die er verstärkt und manipuliert, anstatt sie zum Bewußtsein zu erheben und aufzuklären. Er ist eine durch und durch antiaufklärerische Macht ...“1

Dieses Zitat zeigt, dass das eigene Versagen, Unvermögen oder Missge- schick eines Menschen mithilfe des Antisemitismus eine Urheberschaft bekommt. Menschliche Urängste und niederste Instinkte werden demnach durch antisemitische Einstellungen bedient. Diese These zu Adornos Zitat betont vor allem die psychologischen Faktoren, die Menschen zu Antise- miten werden lassen. Jedoch ist bei der Untersuchung von Antisemitismus weiteren Einflussfaktoren Beachtung zu schenken, da Antisemitismus aus verschiedenen Ideologien heraus entstehen und existieren kann. Der So- ziologe und Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber betont hierzu:

„Antisemitismus ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedli- che ideologische Begründungen für die pauschale Feindschaft gegen und Herabwürdigung von Juden. Im Laufe der Jahrhun- derte bildeten sich religiöse, soziale, politische, rassistische, sekundäre und antizionistische Ideologieformen heraus.“2

In der vorliegenden Arbeit wird insbesondere der muslimische Antisemi- tismus bei arabisch- und türkischstämmigen Kindern und Jugendlichen in Deutschland auf seine Ursachen und Präventionsmöglichkeiten hin unter- sucht. Dazu werden diese Form des Antisemitismus und seine spezifi- schen Charakteristika dahingehend analysiert, auf welcher Grundlage ein muslimischer Antisemitismus besteht und wie seine Existenz zu begrün- den ist. Bei der Untersuchung des Begriffs muslimischer Antisemitismus sollen die von Armin Pfahl-Traughber aufgeführten Ideologieformen des Antisemitismus sowie das eingangs angeführte Zitat von Adorno die zent- ralen Grundlagen der Analyse bilden.

Beim muslimischen Antisemitismus ist aktuell insbesondere in Deutsch- land und vorrangig in Berlin besonders auffällig, dass arabisch- und tür- kischstämmige Kinder muslimischen Glaubens bereits im Grundschulalter antisemitische Einstellungen verinnerlicht haben. Die vorliegende Arbeit zielt im Kern darauf, darüber aufzuklären, welche Faktoren beim Antisemi- tismus unter Kindern und Jugendlichen aus muslimischen Familien eine Rolle spielen und welche Aufgaben die deutsche Gesellschaft und die Schule als Institution im Kampf gegen einen solchen Antisemitismus hat - ganz besonders in migrationsgeprägten Städten wie Berlin.

Aktuell erhält der muslimische Antisemitismus in den deutschen Medien besondere Aufmerksamkeit. Dies liegt vorrangig an den jüngsten Ereig- nissen in Berlin, bei denen es zu antisemitischen Vorfällen mit zum Teil körperlichen Angriffen kam, wie beispielsweise am Abend des 17. April 2018: Drei männliche Personen im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg atta- ckierten zwei Männer, die eine Kippa trugen. Einer der Angreifer wurde dabei handgreiflich. Bei seiner Attacke nutzte er einen Gürtel und eine Glasflasche, und während er auf eines der Opfer einschlug, rief er mehr- mals „Yahudi“, was auf Arabisch Jude bedeutet. Ein vom „Jüdischen Fo- rum für Demokratie und gegen Antisemitismus“ veröffentlichter Videoaus- schnitt verdeutlicht, dass das Verhalten des Angreifers außerordentlich aggressiv und hasserfüllt war, während er mit den oben genannten Gegenständen auf einen der beiden Männer einschlug.3

An der Ernst-Reuter-Oberschule im Berliner Stadtteil Wedding wurde ein jugendlicher Schüler im Dezember 2017 von einer Mitschülerin mit arabi- schem Migrationshintergrund wegen seiner jüdischen Identität be- schimpft. Dabei soll diese Schülerin unter anderem auch folgende Aussa- ge getätigt haben: „Hitler war ein guter Mann, denn er hat die Juden getö- tet.“4

Auch wenn antisemitische Gewalt in verbaler Form oder durch körperliche Angriffe kein neues Phänomen in Deutschland ist, kann bei solchen aktu- ellen Ereignissen, wie sie oben beispielhaft beschrieben wurden, festge- stellt werden, dass diese Vorfälle gegenwärtig eine neue Dimension hin- sichtlich der Häufigkeit bei der Typologie der Täter*innen vorweisen. Die erste der beiden oben aufgeführten Taten ist nach aktuellen Angaben von einem 19-jährigen Syrer begangen worden,5 die zweite Tat ist - wie oben bereits schon erwähnt - von einer Schülerin arabischer Herkunft ausge- gangen.

Anhand von zwei weiteren Beispielen an Berliner Schulen soll in vorlie- gender Abhandlung die These gestützt werden, dass offener Antisemitis- mus an deutschen Schulen - und besonders in stark migrationsgeprägten Städten wie Berlin - einer bestimmten Gruppe zuzuordnen ist, nämlich Kindern und Jugendlichen aus arabischen und türkischen Familien, die islamisch sozialisiert sind. Diese Annahme beruht auch auf der hohen An- zahl von arabisch und türkisch sozialisierten Kindern und Jugendlichen in Berliner Klassenzimmern, die überwiegend muslimisch sind.6 Darüber, wie stark die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Familien ihre Religion ausle- ben, ist nichts Genaues zu sagen, jedoch sind die Herkunft sowie die offi- zielle Religion der Täter*innen, nämlich der Islam, bei den Berliner Vor- kommnissen klar und deutlich erkennbar. Hinzu kommt, dass sich bei die- ser neuen Dimension der Vorfälle die Institution Schule als Tatort hervor- hebt.

Aufgrund der Komplexität des Themas und eines Mangels an repräsenta- tiven Studien zum muslimischen Antisemitismus wird die vorliegende Mas- terarbeit als eine gewisse Herausforderung gesehen. Vorzugsweise be- steht diese Herausforderung deshalb, weil die Wissenschaft und die Politik das Thema des muslimischen Antisemitismus seit Jahren eher als ein Randphänomen behandelt haben.7 Mit vorliegender Arbeit soll der Ver- such unternommen werden, einen spürbaren Impuls zu setzen, dass die- ser Problematik künftig mehr Beachtung geschenkt wird.

Der Aufbau und die Vorgehensweise vorliegender Arbeit gestalten sich wie folgt. Nach einigen einführenden Worten zur Geschichte des Antisemi- tismus und seiner Entwicklung wird im Rahmen einer Bestandsaufnahme aufgezeigt, welche aktuellen Probleme es in Deutschland mit muslimi- schen Antisemitismus gibt und welche Auswirkungen diese Form des An- tisemitismus auf die deutsche Gesellschaft und insbesondere auf den Schulalltag jüdischer Kinder und Jugendlicher hat. Nachdem mögliche Ur- sachen für den muslimischen Antisemitismus anhand von aktuellen Bei- spielen antisemitischer Vorfälle an deutschen Schulen aufgezeigt wurden, werden Lösungsvorschläge für Präventionsmaßnahmen erörtert, die in der Schule und außerhalb des schulischen Raumes, insbesondere aber im Rahmen der schulischen Bildung für die Schüler*innen angeboten werden können. In einem abschließenden Fazit werden erkenntnisorientierte Aus- sagen zusammengefasst und es wird ein Ausblick hinsichtlich der weite- ren Entwicklung von muslimischen Antisemitismus bei Kindern und Ju- gendlichen in Deutschland und der daraus resultierenden Aufgaben der Schule gegeben.

2. Antisemitismus in Deutschland

Judenfeindlichkeit hat eine lange Tradition, die bis in die Antike zurück- reicht. Seit sich Judenfeindschaft mit der christlichen Theologie verband, verbreitete sich im gesamten christlich-abendländischen Raum der soge- nannte Antijudaismus. Für Jüdinnen und Juden, die in der christlich- abendländischen Gesellschaft eine Minderheit darstellten, hatte dies ver- heerende Auswirkungen, die sich in Form von Zwangstaufen, Inquisition und Verfolgungen zeigten.8 Die Historikerin Cornelia Hecht betont diesbe- züglich:

„Jüdisches Leben war in der langen Geschichte jüdischer Exis- tenz in Deutschland stets begleitet von latenten oder manifes- ten antijüdischen Ressentiments. Verfolgungswellen, Vertrei- bungen, Gewaltexzesse und christlicher Antijudaismus - von der Antike über das Mittelmeer bis in die frühe Neuzeit war das Verhältnis zwischen Juden und der sie umgebenden Umwelt spannungsgeladen.“9

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff Antisemitis- mus von einem Antisemiten namens Friedrich Wilhelm Adolph Marr erfun- den und bekannt gemacht. Das Ziel bestand dabei darin, den negativ und religiös besetzten Begriff Judenhass abzulösen bzw. wissenschaftlich zu umschreiben. Entsprechend sollte der Begriff Antisemitismus den An- schein einer wissenschaftlichen Fundierung erwecken, sodass es für Anti- semiten seriöser anmuten konnte, Jüdinnen und Juden als Feinde der Gesellschaft zu „entlarven“.10

Der Begriff Antisemitismus erweckt im heutigen Deutschland mehrheitlich eine Assoziation mit dem Holocaust.11 Bohleber sieht den Holocaust als unmittelbaren Grund für das Fortleben des Antisemitismus in Deutschland. So wünschten sich Nationalisten gern ein „Verzeihen“ der deutschen Ge- schichte und forderten dies auch regelmäßig ein. Entsprechend seien die Juden in den Augen von Deutschen immer „Störenfriede“, weil ihre Exis- tenz dem Wunsch nach einem Vergessen entgegenstehe. Ohne diesen „Schulderlass“ müssten sich deutsch-nationalistische Antisemiten immer schuldig fühlen und könnten so keine auf einer soliden Grundlage existie- rende deutsche Identität aufbauen. Das führe neben einem fortlebenden Antisemitismus zur Entwicklung des bekannten Stereotyps eines „nicht vergebungsbereiten“ und „rachsüchtigen“ Juden und somit zu einer Täter- Opfer-Umkehr. Diese Schuldumkehr sieht Bohleber als zentralen Faktor für die große Dynamik des antijüdischen Denkens in Deutschland.12

Bis heute werden Jüdinnen und Juden in vielen Gesellschaften gern zu „Sündenböcken“ für alle Probleme gemacht. Dieser Schuldzuspruch geht einher mit den verschiedensten Verschwörungstheorien über das Juden- tum, die Teil des Antisemitismus sind. Die Frage nach dem Warum ist da- bei keinesfalls einfach zu beantworten. Dazu folgender Ansatz des Histo- rikers Christoph Nonn:

„Eine denkbare Erklärung dafür, dass Juden besonders gerne für alle möglichen Missstände verantwortlich gemacht werden, ist der Eindruck einer jüdischen Allgegenwärtigkeit. Anders als andere Minderheiten scheint es Juden in fast der ganzen Welt zu geben. Und im Unterschied zu den ,Zigeunern’, den Sinti und Roma, gehören sie nicht nur den Unterschichten an, son- dern sind in allen sozialen Schichten vertreten. Das würde frei- lich letzten Endes nur die Legende von einer jüdischen Welt- verschwörung erklären. Diese spielt aber in konkreten Situatio- nen meist keine Rolle. [...] Die Kernfrage, die sich letztlich dem Historiker des Antisemitismus bei jeder Analyse konkreter Si- tuationen stellt, in der auch andere potentielle Sündenböcke zur Verfügung stehen, bleibt damit bestehen: Warum die Juden?“13

Mehr als 70 Jahre nach dem Holocaust veröffentlichte das Bundeskrimi- nalamt einen Bericht zu politisch motivierter Kriminalität und gab darin un- ter anderem 1468 antisemitische Straftaten für das Jahr 2016 in Deutsch- land an. Davon wurden von der Polizei 1381 Delikte Tätern mit politisch rechter Motivation zugeordnet, was 94 Prozent entspricht. Aus einer Stu- die namens „Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland“, die am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni- versität Bielefeld erstellt wurde, geht jedoch eine andere Zahl hervor. 81 Prozent derjenigen, die Opfer von antisemitischen Gewaltdelikten gewor- den waren, gaben dort an, dass die mutmaßlichen Täter muslimischen Hintergrund gehabt hätten. Gründe für diese beiden unterschiedlichen An- gaben könnten folgende sein:14

„[...] Die Probleme der Statistik ,Politische Motivierte Kriminalität’ (PMK), die ein Sonderbericht zur Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) ist, sind be- kannt: Der vom Bundestag eingesetzte ,Unabhängige Expertenkreis Anti- semitismus’, der auch die Bielefelder Studie beauftragt hatte, urteilt über die Probleme bei der polizeilichen Erfassung antisemitischer Straftaten folgendermaßen: „ Man darf […] die Zahlen der PMK-Statistik nicht als Ab- bild der Realität missverstehen, vielmehr ist aufgrund des Aufbaus des PMK-Erfassungssystems und der Routinen der polizeilichen Erhebungs- praxis mit einer systematischen Unterschätzung antisemitischer Vorfälle zu rechnen.“ 15

Einer der wichtigsten Gründe dafür sei,16

„dass die Polizei nur über Taten berichten kann, die ihr bekannt werden. Es wird aber nicht jede antisemitische Beleidigung o- der andere Straftat angezeigt oder von der Polizei selbst beo- bachtet und zur Anzeige gebracht. Wie bei jeder anderen Kri- minalitätsform gibt es ein ,Dunkelfeld’, das nie Gegenstand po- lizeilicher Ermittlungen wird, weil diese nichts davon erfährt.“17

Ein weiterer interessanter Punkt, der bei der Zuordnung von Tätergruppen für antisemitische Straftaten eine Rolle spielt, ist beispielsweise, dass antisemitische Schmierereien automatisch der rechten Szene zugeordnet werden, sofern keine anderen Hinweise bestehen. Autoren eines Expertenberichtes formulieren folgende Behauptung:18

„[...] fremdenfeindliche und antisemitische Straftaten würden grundsätzlich immer dann dem Phänomenbereich ,Politisch motivierte Kriminalität Rechts’ zugeordnet, ,wenn keine weite- ren Spezifika erkennbar’ und ,keine Tatverdächtigen bekannt geworden sind’. So tauche der Schriftzug ,Juden raus’ generell als ,rechtsextrem motiviert’ in Statistiken auf, obwohl eine sol- che Parole auch in islamistischen Kreisen populär ist.[...]“19

2.1 Definition Antisemitismus

Wie bereits zu Beginn des zweiten Kapitels angeführt, wurde der Begriff Antisemitismus von Wilhelm Marr, einem seinerzeit namenhaften Antisemiten, im Jahre 1879 geprägt. Damit wurde der vorher in Deutschland gängigere Begriff „Judenhass“ abgelöst, der eher christlich-religiös geprägt und motiviert war. Mit dem Begriff Antisemitismus, der den „modernen Judenhass“ seitdem beschrieb,20 wurde „ein Begriff gefunden, der neutral und wissenschaftlich klang und in Anlehnung an einen philologischen Begriff die Theorie der Entwicklung der semitischen Sprachen, wie z.B. arabisch, aramäisch, hebräisch, amharisch, rezipierte. Verwendet aller- dings wurde der neue Terminus nur im Zusammenhang mit Ju- den.“21

Neben vielen wissenschaftlichen Definitionsansätzen des Begriffes Antisemitismus hat sich im vergangenen Jahr auch in Deutschland auf Bundesebene eine einheitliche Definition durchsetzen können. Dabei handelt es sich um eine Definition, die besonders für die pädagogische Arbeit relevant ist und nicht nur von der Europäischen Union, sondern nun auch von der Bundesregierung anerkannt wurde: die sogenannte „Arbeitsdefinition Antisemitismus“. Sie wurde von der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA) wie folgt formuliert:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Anti- semitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrich- tungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“22

Die „International Holocaust Remembrance Alliance“ ist eine im Jahre 1998 gegründete zwischenstaatliche Organisation, die sich für die Stär- kung und Förderung von Forschung, Lehre und Lerninhalten zum Holo- caust engagiert, um ein nachhaltiges Gedenken zu ermöglichen. Die Or- ganisation wurde auf Initiative des schwedischen Ministerpräsidenten Goran Persson gegründet.23

Die deutsche Bundesregierung hat am 20. September 2017 die „Arbeits- definition Antisemitismus“ im Bundestag angenommen, um damit eine einheitliche und klare Grundlage im Kampf gegen Antisemitismus zu schaffen. So kann nun bundesweit in Schulen sowie bei Justiz- und Poli- zeibehörden mit dieser einheitlichen Definition gearbeitet werden. Juden- feindliche Ansichten, Äußerungen und Straftaten sollen mithilfe dieser Be- schreibung besser erkannt werden, um entsprechend schnell und sicher darauf reagieren zu können:24

„[...] Der Deutsche Bundestag begrüßt den Beschluss der Bun- desregierung vom 20. September 2017, die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der Internationalen Allianz für Holocaust- Gedenken in erweiterter Form politisch in Umlauf zu bringen. Mit Hilfe dieser Definition werden die verschiedenen Ausp- rägungen von Antisemitismus verdeutlicht, um so frühzeitig Fehlentwicklungen erkennen und bekämpfen zu können. Er empfiehlt, in der Schul- und Erwachsenenbildung sowie bei der Ausbildung in den Bereichen Justiz und Exekutive die erweiter- te Arbeitsdefinition zu berücksichtigen, [...].25

Der seinerzeitige Bundesinnenminister Thomas de Maizière betonte hierzu:

„Wir Deutschen sind besonders wachsam, wenn in unserem Land Antisemitismus um sich zu greifen droht - das gebietet uns unsere Geschichte, die uns für immer auf die schrecklichs- te Art bewusst gemacht hat, zu welchen Grausamkeiten der An- tisemitismus führen kann. Auch wenn dies nicht alle in unserem politischen Spektrum so zu sehen scheinen: Der entschlossene und konsequente Kampf gegen jede Form von Antisemitismus gehört unumstößlich und dauerhaft zu unserer Staatsräson. Dies haben wir heute im Kabinett deutlich unterstrichen.“26

Die Besonderheit an der „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ lässt sich mit folgenden Worten beschreiben. Sie ist kompakt, klar formuliert und nachvollziehbar, auch wenn sie wie jede andere Definition umstritten ist. Mit ihr gibt es nun eine offizielle Definition von Antisemitismus, die als wichtiger Maßstab für Urteile gelten kann, die hinsichtlich einer an- tisemitischen Äußerung oder Handlung formuliert werden müssen. An- hand der darin enthaltenen Kriterien, mithilfe derer sich Antisemitismus kennzeichnen lässt, können bestimmte Aussagen und Taten besser auf antisemitische Inhalte geprüft werden. So lassen sie sich auf einer ein- heitlichen Grundlage als antisemitisch oder nicht antisemitisch einstu- fen. Besonders hervorzuheben ist an dieser Definition auch, dass unter dem Begriff „Israelkritik“ eine Kritik am „jüdischen Kollektiv“ verstanden wird. Somit können auch verschiedene Formen des Antisemitismus, die sich hinter einer sogenannten „Israelkritik“ verstecken, offengelegt werden.

2.2 Forschungsstand muslimischer Antisemitismus

Der Antisemitismus unter Muslimen ist ein sehr emotional diskutiertes und komplexes Phänomen. Seit Beginn der Zweiten Intifada im Herbst 2000 sowie seit dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 und den darauf folgenden Attentaten in Europa wurde der muslimi- sche Antisemitismus von unterschiedlichen Seiten instrumentalisiert. Die Debatte um muslimischen Antisemitismus war von Beginn an eng in die Debatten um Islamfeindlichkeit verwoben. Das trifft insbesondere auch auf viele rechte Parteien zu:27 „[...] Geert Wilders ,Parij voor de Vrijheid’ (Par- tei für die Freiheit), der belgische ,Vlaams Belang’ (Flämische Interessen) [...] oder die FPÖ“28. Solche Parteien positionieren sich meist aus politisch strategischen Gründen für Jüdinnen und Juden und gegen den Islamis- mus. Aber beispielsweise auch gegen den Islam und gegen den Nahost- konflikt,29

„sehr verkürzt als Konflikt zwischen dem Westen (repräsentiert von Israel) und einer barbarischen, islamistischen Ideologie gedeutet, weshalb Israel jedes Recht auf Selbstverteidigung gegenüber dem islamistischen Terrorismus als neue totalitäre Bedrohung zugestanden werden müsse.“30

Ein deutsches Beispiel für vorstehend benanntes Phänomen in rechten Parteien ist die „Alternative für Deutschland“ (AfD). Bei ihr finden sich ebenso sowohl proisraelische als auch und anti-antisemitische Positionen. Während des letzten Gazakriegs beispielsweise war die AfD auf einer Pro- Israel-Demonstration mit Schildern präsent, auf denen stand: „Der neue Judenhass ist importiert“. Dennoch dürften die antisemitischen Kräfte in der Partei überwiegen. Den Linken und den Liberalen fällt es im Gegen- satz dazu teilweise schwer, den muslimischen Antisemitismus als solchen zu benennen, da sie sich damit schwertun, zu akzeptieren, dass Muslime rassistisch oder antisemitisch sein können. Stattdessen wird argumentiert, dass Muslime selbst Opfer von Rassismus wären. Diese Opferrolle neh- men die Muslime auch gerne ein. Schnell weisen sie Antisemitismusvor- würfe zurück, oft mit dem Verweis auf eine bestehende Islamophobie. „Muslime brauchen keine Lehrstunden“31, so der Vorsitzende des Islam- rats Ali Kizilkaya auf die Aufforderung von Dieter Graumann, ehemaliger Präsident des Zentralrats der Juden, mehr Engagement im Kampf gegen Antisemitismus unter Muslimen zu zeigen. Kizilkaya betonte außerdem, dass eine Verbindung des Islam mit Antisemitismus nicht bestehe, und er verwies auf die ebenso existierende Islamfeindlichkeit, die es zu bekämp- fen gelte:32 „Antisemitismus sei, so Kizilkaya, nicht mit dem Islam verbun- den, und wenn man über Antisemitismus reden wolle, müsse man dies gleichermaßen über Islamfeindlichkeit.“33

Auch wenn es in Deutschland viele Diskussionen über einen muslimi- schen Antisemitismus gibt, fehlen repräsentative, wissenschaftlich fundier- te Arbeiten, die über das wirkliche Ausmaß, den Charakter und die Ursa- chen des muslimischen Antisemitismus aufklären könnten - und dies nicht nur in Deutschland. Einigkeit besteht allerdings bereits darüber, dass beim muslimischen Antisemitismus der Nahostkonflikt zwar nicht ausschließlich als Transfer auftritt, dennoch aber eine zentrale Projektionsfläche liefert.

In Bezug auf die Ursachen des muslimischen Antisemitismus finden sich verschiedene Erklärungsansätze. Zum einen wird die religiöse Komponen- te, also die Auslegung des Koran betont. Zum anderen wird der arabische Nationalismus als zentrale Ursache gesehen. Dieser würde sich an „Ver- satzstücke[n] des modernen europäischen Antisemitismus bedienen“34. 35 Demnach sei durch die europäischen Mächte der Antisemitismus in die muslimische Welt eingeführt worden. Beide Erklärungsansätze könnten allerdings dazu führen,36 „dass Antisemitismus auf einen durch Migration und Konsum von Medien aus den Herkunftsländern bedingten ,Import’ reduziert und aus der jeweiligen Gesellschaft ausgelagert wird. Teilweise sind damit auch eine Ablehnung des Multikulturalismus oder eine Abwehrhaltung gegenüber muslimischen Einwanderern an sich verbunden.“37

Am Beispiel der Pro-Gaza-Demonstrationen, die während des Gazakriegs im Jahr 2014 in Deutschland stattfanden, war oft die Rede von einem „importierten Antisemitismus“. Diese Wahrnehmung wurde durch die Dominanz von jungen Männern ausgelöst, die überwiegend entweder arabischoder türkischstämmig waren und die antisemitische Parolen skandierten. Mit der undifferenzierten Fokussierung auf einen „importierten Antisemitismus“ geht eine unbewusste oder bewusste Entlastung der Mehrheitsgesellschaft einher. Auch wird dabei ignoriert,38 „dass es sich bei vielen Akteuren bereits um die zweite und dritte Einwanderungsgeneration handelt und auch im jeweiligen Land vorhandene, historisch gewachsene antisemitische Stereotype aufgenommen werden, entweder unbewusst, oder um zu provozieren und Aufmerksamkeit zu erhalten.“39

[...]


1 Entnommen aus Claussen, Detlev: Die antisemitische Alltagsreligion. Hinweise für eine

2 Pfahl-Traughber, Armin (24.07.2007): Ideologische Erscheinungsformen des Antisemi- tismus. In: Bundeszentrale für politische Bildung, https://www.bpb.de/apuz/30327/ideologische-erscheinungsformen-des- antisemitismus?p=all, abgerufen am 20.05.2018.

3 Vgl. Ohne Autor*in (aktualisiert am 18.04.2018): Angriff in Berlin. Merkel ruft zum „Kampf gegen antisemitische Ausschreitungen“ auf. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/angriff-in-berlin-opfer-ist-nicht- juedischen-glaubens-15547969.html, abgerufen am 07.05.2018.

4 Vgl. Ringelstein, Ronja / Jansen, Frank (27.03.2018): Politik sucht Mittel gegen Antise- mitismus. In: Potsdamer Neueste Nachrichten, http://www.pnn.de/brandenburg- berlin/1270209/, abgerufen am 25.05.2018.

5 Vgl. Ohne Autor*in (19.04.2018): Verdächtiger im Fall des antisemitischen Angriffs stellt sich. In: Zeit, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-04/berlin-angriff- juden-festnahme-syrer-antisemitismus, abgerufen am 20.05.2018.

6 Vgl. Ohne Autor*in (ohne Datum): Pressemitteilung. In: Amt für Statistik Berlin - Brandenburg, https://www.statistik-berlin-brandenburg.de/pms/2017/17-05-24b.pdf, ab- gerufen am 20.05.2018; Ohne Autor*in (30.03.2011): Neue Daten zur Bevölkerungs- entwicklung in Berlin. In: Der Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migra- tion, https://www.berlin.de/lb/intmig/service/pressemitteilungen/2011/pressemitteilung.38691 0.php, abgerufen am 20.05.2018.

7 Vgl. Wagner, Joachim (01.04.2018): Muslimischer Judenhass - ein gefährliches Dunkelfeld. In: Welt, https://www.welt.de/politik/deutschland/plus175051219/Antisemitismus-Der- muslimische-Judenhass-muss-erforscht-werden.html, abgerufen am 19.05.2018.

8 König, Julia (23.11.2006): Judenfeindschaft von der Antike bis zur Neuzeit. In: Bundes- zentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37951/von-der-antike-bis-zur- neuzeit, abgerufen am 12.05.2018.

9 Hecht, Cornelia: Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Bonn 2003, S. 30.

10 Ohne Autor*in (ohne Datum): Antisemitismus und Antijudaismus. In: Planet Wissen, https://www.planet- wis- sen.de/kultur/voelker/geschichte_des_juedischen_volkes/pwieantisemitismusundantijud aismus100.html, abgerufen am 12.05.2018.

11 Vgl. Nonn, Christoph: Antisemitismus. In: Arnd Bauerkämper / Peter Steinbach / Edgar Wolfrum (Hrsg.): Kontroversen um die Geschichte, Darmstadt 2008, S. 1.

12 Vgl. Bohleber, Werner: Antisemitismus als Gegenstand interdisziplinärer Erforschung. Einführung in das Konferenzthema, in: Werner Bohleber / John S. Kafka (Hrsg.): Antisemitismus, Band 2, Bielefeld 1992, S. 12-13.

13 Nonn, Christoph, S. 25-26.

14 Vgl. Reisin, Andrej: Antisemitische Straftaten. Sind die Statistiken irreführend? In: Fak- tenfinder Tagesschau, https://faktenfinder.tagesschau.de/hintergrund/antisemitismus- 147.html, abgerufen am 01.05.2018.

15 Ebd.

16 Vgl. ebd.

17 Ebd.

18 Vgl. Graw, Ansgar (08.09.2017): Zahl der antisemitischen Delikte in Deutschland steigt. In: Welt, https://www.welt.de/politik/deutschland/article168436745/Zahl-der-

antisemitischen-Delikte-in-Deutschland-steigt.html, abgerufen am 03.06.2018.

19 Ebd.

20 Vgl. Bauer, Jehuda: Vom christlichen Judenhaß zum modernen Antisemitismus - Ein Erklärungsversuch. In: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung (1), New York 1992, S. 77.

21 Ebd., S. 77.

22 Ohne Autor*in (22.09.2017): Bundesregierung unterstützt internationale Arbeitsdefiniti- on Antisemitismus. In: Auswärtiges Amt, https://www.auswaertiges- amt.de/de/aussenpolitik/themen/kulturdialog/06-interkulturellerdialog/-/216610, abgerufen am 17.04.18.

23 Vgl. Ohne Autor*in (ohne Datum): International Holocaust Remembrance Alliance (IH- RA). In: Archiv Bundeskanzleramt, http://archiv.bundeskanzleramt.at/DocView.axd?CobId=66771, abgerufen am 17.04.18.

24 Vgl. Ohne Autor*in (20.09.2017): Bundesregierung nimmt Definition an. Antisemitismus in zwei Sätzen, https://www.tagesschau.de/inland/antisemitismus-definition-101.html, abgerufen am 17.04.18.

25 Ohne Autor*in (17.01.2018): Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN . Antisemitismus entschlossen bekämpfen. In: Dipbt Bundestag, http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/004/1900444.pdf, abgerufen am 17.04.18.

26 Ohne Autor*in (20.09.2017): Kampf gegen Antisemitismus gehört zu unserer Staatsrä- son. In: BMI Bund, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2017/09/definition- antisemitismus.html, abgerufen am 17.04.2018.

27 Vgl. Embacher, Helga: Antisemitismus unter Muslimen und jüdische Perspektiven auf Antisemitismus. Themenfelder im Bericht des Zweiten Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. In: Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.): Jahrbuch für Antisemitismus- forschung (26), Berlin 2017, S. 368-369.

28 Ebd., S. 369.

29 Vgl. ebd.

30 Ebd.

31 Ebd., S. 371.

32 Vgl. ebd.

33 Ebd.

34 Ebd., S. 372.

35 Vgl. ebd.

36 Vgl. ebd., S. 373.

37 Ebd., S. 373.

38 Vgl. ebd.

39 Ebd.

Ende der Leseprobe aus 61 Seiten

Details

Titel
Muslimischer Antisemitismus unter Kindern und Jugendlichen in Deutschland
Untertitel
Aktuelle Lage und Prävention
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Otto Suhr Institut)
Note
2,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
61
Katalognummer
V432750
ISBN (eBook)
9783668756731
ISBN (Buch)
9783668756748
Dateigröße
534 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Antisemitismus, Antisemitismusprävention, Muslimischer Antisemitismus
Arbeit zitieren
Hatice Samast (Autor:in), 2018, Muslimischer Antisemitismus unter Kindern und Jugendlichen in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/432750

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