Privatheit vs. Öffentlichkeit - Intimität des Mannes im Wandel der Zeit


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

37 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

1. Begriffsbestimmung
1.1. Öffentlichkeit
1.2. Privatheit
1.3. Intimität und Sexualität
1.4. Sennett über den Zusammenbruch der Intimität

2. Geschichtlicher Abriss
2.1. Intimität unter Staatskontrolle
2.2. Die Entstehung der Öffentlichkeit
2.3. Der industrielle Zivilisationsprozess

3. Das Männlichkeitsideal
3.1. Die Entwicklung des maskulinen Stereotypen
3.2. Psychosoziale Aspekte männlicher Sexualität
3.3. Die neue Männlichkeit

4. Schlussbetrachtungen
4.1. Die Situation in den Medien
4.2. Die Situation in der Gesellschaft
4.3. Gute Aussichten, schlechte Aussichten

Literaturverzeichnis

EINLEITUNG

Mit zunehmenden Darstellungen von Privatheit und Intimität in Talkshows, Doku-Soaps, Sendungen wie Big Brother oder Intim-Reportagen dringt vor allem das Fernsehen in die diskreten Bereiche der Lebenswelt ein. Aber auch zeitgenössische Kunst, die klassischen Printmedien sowie die neuen Öffentlichkeiten des Internet zeigen diese Tendenzen auf. Man kann von einem kulturellen Wandel sprechen, in dem die mit der bürgerlichen Gesellschaft entstandenen Abgrenzungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit verwischen. Medien bringen diesen kulturellen Wandel nicht nur zum Ausdruck, sondern erzeugen und beschleunigen ihn teils auch selber.

Die ´Modernisierung` der Privatheit wirft - unter anderem - die Fragen auf, wie Männer die Trennung von Öffentlichem und Privatem im Laufe der Zeit bewältigt haben. Des weiteren ist es interessant zu hinterfragen, wie sich die Trennung von Öffentlichem und Privatem insbesondere auf die Rolle des Mannes ausgewirkt hat.

Daran anschließend können Rückschlüsse vor allem auf den Wandel der Lebensstile, das Konzept der Identität des Mannes und deren Beeinflussung durch die Medien gemacht werden.

Nehmen wir beispielsweise die medial inszenierten Erwartungen, welche die Gesellschaft, vor allem Frauen, an die Männer stellen: In den täglichen Talkshows steigt die Anzahl der Frauen, die in solch einer Sendung ihrem Partner ein Ultimatum stellen. Entweder soll er sich öffentlich entschuldigen, weil er ein Lügner und Betrüger ist (wieso und wie oft er gelogen hat wird lang und breit erzählt, und meist noch Dritte Personen aus dem privaten Umfeld zur Bestätigung hinzugezogen). Oder er wird vor die vollendete Tatsache gestellt, das Kind sei doch nicht von ihm, oder aber - wie kürzlich in der Talkshow „Britt“ zu sehen war - die Ehefrau eröffnet, sie wolle ihren Mann verlassen, wenn er nicht aufhöre seine Klamotten in der Gegend herumliegen zu lassen. Obwohl er einen Zehn-Stunden-Tag habe, erwarte sie - Mutter eines Kindes und Hausfrau - ihm nicht ständig hinterher räumen zu müssen. Reaktion des Mannes: „Dann geh` doch! Hab` ich wenigstens meine Ruhe.“

Ist das der richtige Weg zu mehr Konsens in unserer Gesellschaft und zu einer Langlebigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen?

Wie soll der moderne Mann den Konflikt zwischen den beruflichen Anforderungen nach Flexibilität als ein Kernelement der Globalisierung einerseits, und den privaten Anforderungen einer - aus psychologischer Sicht - so bedeutsamen Konstanz und Stabilität in intimen Beziehung bewältigen?

Die Anzahl der Single-Haushalte zeigt jetzt schon, dass die Frage zwischen Flexibilität und Konstanz zu einer Kosten-Nutzen-Entscheidung geworden ist. Wie werden Männer zukünftig diese Gratwanderung zwischen den Anforderungen im Beruf und dem Wunsch nach einer harmonischen, stabilen Beziehung bewältigen?

Wird der Mann sich zurückziehen, was zur Folge haben könnte, dass er aus Selbstschutz die Partnerin auf Distanz hält, gar keine Gefühle mehr offenbart und nur zum Zweck der Fortpflanzung - oder was wahrscheinlicher ist, zum Zwecke der Lustbefreiung - eine Beziehung eingeht?

Des weiteren sind die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien zu nennen, die die Menschen näher zusammenrücken und die Welt ´kleiner` werden lassen. Diese ´Überwindung von Raum und Zeit` hat in den letzten Jahren dieses Jahrhunderts auch die zwischenmenschlichen Beziehungen in den westlichen Industrienationen stark verändert.

So entstanden beispielsweise das weltweite Informationsnetz (Internet), sekundenschnelle elektronische Nachrichtenübertragungen (e-mails), und künstliche Räume (cyberspace). Besonders die so erzeugten künstlichen Wirklichkeiten und Beziehungen (´virtuel realities`, ´virtuel relations`) verändern die persönlichen Beziehungen der Menschen. Partnerschaften im und durch das Internet, die ständige Erreichbarkeit und Verfügbarkeit durch das ´Handy`, die Möglichkeit zu organisierten Treffen im ´chat-room` des Internet oder eine sexuelle Beziehung mit einem virtuellen Partner geben nicht selten Grund zur Eifersucht in traditionellen Partnerschaften oder gar zu ihrer Auflösung.

Verführt diese mediale Vielfalt an ´Lebensführungs-Angeboten` den Mann dazu, die heute in allen Lebensbereichen geforderte Flexibilität auch im Beziehungsleben an den Tag zu legen, und ständig neue Liebschaften ohne jegliche Verantwortung einzugehen?

Oder animiert ihn die neue Offenheit dazu, ebenso offen mit seinen Gefühlen und Wünschen umgehen zu lernen, sich der einen Partnerin zu offenbaren (anstatt von ständig wechselnden Partnerinnen zu erwarten, sie mögen ihm die Wünsche von den Augen ablesen), mit der einen gemeinsam an ihren und seinen Bedürfnissen zu arbeiten und dadurch eine tiefere Bindung zu erzeugen, die nicht so schnell austauschbar ist?

Das sind nur zwei von unzähligen hinterfragbaren Auswirkungen, die der kulturelle Wandel und die Verschmelzung der Grenzen von Öffentlichem und Privatem in unserer Gesellschaft haben könnte.

Ob und wie wir die Richtung dieser Entwicklung beeinflussen, ändern oder gar stoppen können, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht beantwortet werden.

Hier soll lediglich ein Einblick in die wahrnehmbaren Folgen der neuen Grenzen des Privaten gegeben werden, die sich für den Mann im Besonderen ergeben und daraus folgend für die Gesellschaft im Allgemeinen von Bedeutung sein könnten.

Im ersten Teil der Arbeit wird eine Definition der zentralen Begriffe aufgestellt und die These Senetts vorgestellt, in der der Autor aufgrund einer extremen Subjektivierung bereits Ende der 80er Jahre eine “Tyrannei der Intimität“ in unserer Gesellschaft diagnostiziert hat.

Im zweiten Teil wird ein kurzer Abriss über den Wandel der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit gegeben, wobei anzumerken ist, dass sich die Übergänge wesentlich fließender ereignet haben, als beschrieben. Es kann auch kein hinreichender historischer Überblick verschafft werden, denn ein solcher würde den Rahmen sprengen. Vielmehr soll es um Aspekte gehen, die in Bezug auf unsere heutige Zeit von Interesse sind. Um den Einblick in die Geschichte von Öffentlichkeit und Privatheit zu gewinnen, werden Modelle von Sozial- und Kommunikationswissenschaftlern erwähnt, die seit einigen Jahrzehnten versuchen, Motive und Bedürfnisfigurationen in Theorien zusammenzufassen, welche die Ursachen für die aktuellen Entgrenzungen sein könnten.

Im dritten Teil wird die Entwicklung des traditionellen Männlichkeitsideals skizziert. Dabei wird aufgezeigt, wie sich das Bild des Mannes in verschiedenen Epochen von unterschiedlichen Medienformen hat beeinflussen lassen.

In den Schlussbetrachtungen der Arbeit werden - unter Berücksichtigung der heute erkennbaren gesellschaftlichen Zustände - Überlegungen zur These Sennetts angestellt, und diskutiert, ob und inwieweit sich seine Diagnose von damals verstärkt hat.

Es wird im wesentlichen um die Situation in Mitteleuropa und Ländern mit etwa den gleichen geschichtlichen und religiösen Voraussetzungen gehen. Charakter-, Alters- oder Bildungsunterschiede werden für die Beiträge zur gegenwärtigen Situation keine Rolle spielen, da zum Einen die Strukturierung unserer heutigen Gesellschaft zu komplex ist und die Betrachtung etwa einzelner Bildungs- oder Einkommensschichten den Rahmen sprengen würde. Zum Anderen müssen sich so gut wie alle Männer in gewisser Weise mit den Gegebenheiten und Möglichkeiten unserer modernen Gesellschaft und mit der Beeinflussung ihres Lebens durch die Medien auseinandersetzen, weil theoretisch auch alle Zugang zu ihnen haben.

1. BEGRIFFSBESTIMMUNG

1.1. Öffentlichkeit

Der Begriff ´Öffentlichkeit` bezeichnet im weitesten Sinne die Verhältnisse, in denen sich der gesellschaftliche Austausch und die Bildung öffentlicher Meinung abspielen. Darunter fallen Orte, zu denen ein allgemeiner Zugang besteht. Öffentlichkeit ist auch die Gesamtheit der zum öffentlichen Diskurs versammelten Menschen, dem Publikum.

Öffentlichkeit fungiert als politisches Strukturprinzip der modernen Demokratie und dient damit auch einer Kontrolle von Herrschaft.

Obwohl Öffentlichkeit eine in ihrer Ausprägung und wissenschaftlichen Interpretation uneinheitliche gesellschaftspolitische Kategorie ist, versuchen Soziologen und Wissenschaftler das Phänomen ´Öffentlichkeit` zu definieren.

Sennett definiert Öffentlichkeit wie folgt:

„Eine res publica umfaßt allgemein die Beziehung und das Geflecht wechselseitiger Verpflichtungen zwischen Leuten, die nicht durch Familienbande oder andere persönliche Beziehungen miteinander verknüpft sind; sie bezeichnet das was eine Masse, ein »Volk«, ein Gemeinwesen verbindet.“[1]

Ein öffentlicher Raum ist, so Sennett, ein allgemein zugänglicher Artikulationsraum für Rechte und Identität, ein Raum der Begegnung, der Kommunikation, der Selbstdarstellung, der Mischung, der Vielfalt, des Vergnügens und der Administration.

Niemand kann aus der Öffentlichkeit ausgeschlossenen werden und eine Präsenz als Eigenperson ist dort nicht definierbar. Es existieren gleiche Rechte und Pflichten für alle.

1.2. Privatheit

Privatheit ist der Gegenbegriff zu Öffentlichkeit. In der modernen Industriegesellschaft besteht normalerweise eine Trennung beider Bereiche. Privatheit in der Familie wird zum Schonraum, in den aber Spannungen der Arbeitswelt hineinwirken können.

Der Privatsphäre kommt, so Sennet, besondere Bedeutung zu.

Sie fungiert als ein Ort, in dem die Individualinteressen von Personen auf besondere Weise ausgelebt werden können. Teile der Gesellschaft, in denen Privatsphäre ´stattfindet`, sind die intimen Systeme (Familie, Partnerschaft).

1.3. Intimität und Sexualität

Intimität gehört normalerweise zur Privatheit. ´Intimität` ist ein soziales Interaktionssystem, an dem eine beschränkte Anzahl von Personen beteiligt sind. Der Begriff bezeichnet persönliche, vertrauliche Angelegenheiten, worunter insbesondere die geschlechtliche Beziehung zwischen zwei Menschen zu verstehen ist.

Intimität bedeutet das Offenlegen von Gefühlen und Handlungen, die das Individuum nicht gewillt ist, einer größeren Öffentlichkeit preiszugeben. Diese Exklusivität über das, was vor anderen Verborgen wird, ist eine der wichtigsten psychologischen Gesten, die im Partner Vertrauen erwecken und nach denen er umgekehrt auch sucht.

Sennett sieht die Gefährdung intimer Systeme durch die Ausbildung der ´Aufrichtigkeitsinflation`, die aus der Bereitschaft der Menschen entstanden ist, Privates und Intimes mit Fremden zu teilen. Diese Aufrichtigkeitsinflation führt, vor allem in Zweierbeziehungen zum Vertrauensschwund und zur verstärkten gegenseitigen Kontrolle.

Intimität umfasst auch den Bereich der Sexualität. Sexualität bezeichnet das menschliche Geschlechtsverhalten, worunter das Zusammenwirken genetischer, hormoneller und sozialer Einflüsse zu verstehen ist.

Sexualität beinhaltet, neben dem Zweck der Fortpflanzung, in unserer modernen Gesellschaft im wesentlichen die Erzeugung und Befreiung von Lust.

In jeder Gesellschaft regeln Institutionen und Normen das sexuelle Verhalten; zum einen in der jeweils gültigen Form der Ehe und zum anderen im Bestehen und Nichtbestehen von Verboten. Sexualität ist nicht nur ein von sozialen Kräften zu beherrschender Trieb, sondern ein Brennpunkt in dem Machtbeziehungen aufeinandertreffen.

Macht kann Mittel zur Produktion von Lust sein, und nicht selten liest oder hört man den Satz „Erfolg macht sexy“. Sind Männer beruflich sehr erfolgreich, spricht man ihnen häufig auch eine starke sexuelle Anziehungskraft zu, und damit in Folge auch eine gewisse Macht über die Menschen - in der Regel Frauen - die sich angezogen fühlen. Wer Erfolg hat, besitzt eine gewisse Macht. Wer mächtig ist, kann seinen Erfolg steuern.

Sexualität und Macht haben sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert auf verschiedene Weise miteinander verbunden: Sexualität wurde - hauptsächlich von Männern - als Geheimnis konstituiert, dem man unaufhörlich auf der Spur bleiben musste und sich gleichzeitig davor schützen musste.

Die Wissenschaft der Sexualität ist durch die Verbindung von Geständnis und einer bestimmten Akkumulation des Wissens über den Sex entstanden. Sowohl das Geständnis im Rahmen der Beichte als auch das Wissen über die Sexualität - vor allem über die weibliche - wurde Jahrhunderte lang ausschließlich von Männern kontrolliert. Die Überzahl der männlichen Gynäkologen im 18. und 19. Jahrhundert war mit ein Ausdruck der zunehmenden gesellschaftlichen Entmündigung der Frauen. Männer entwickelten verschiedene Bereiche des Macht-Wissens, wie etwa über die weibliche Sexualität, die man als pathologischen Ursprung der Hysterie behandelte (Siegmund Freud), oder der Einstellung, dass Sex in der Ehe der Kinderzeugung dienen sollte, man deswegen keine Verhütungsmittel zu benutzen hatte, weil die Regelung der Familiengröße nichts anderes als das spontane Ergebnis eines disziplinierten Umgangs mit der Lust sein sollte.

Giddens sagt über die moderne Sexualität, sie sei nicht das Gegenteil einer Zivilisation, die sich dem wirtschaftlichen Wachstum und der technischen Kontrolle verschrieben hat, sondern die „Verkörperung ihres Scheiterns“[2].

Vermutlich hätte Giddens recht, wenn heute die Definition von Sexualität das wäre, womit wir täglich in den Medien konfrontiert werden. Das Unglaubliche an dem Gezeigten, sind mittlerweile weniger die Inhalte, als die Tatsache, dass es Menschen gibt, die sich nicht schämen, ihre sexuellen Vorlieben vor laufender Kamera zu offenbaren.

Nicht nur die diversen perversen Praktiken selber halten viele Menschen für den Untergang der Zivilisation, sondern vor allem die Bereitschaft eines Teils der Gesellschaft diese Praktiken einem Millionenpublikum vorzuführen.

„Der Verdacht, all die Fernseh- und Illustriertengeschichten über Rudelbums in Itzehoe oder Seitensprung auf Ibiza seien nichts als Finte und Erfindung, ist unbegründet. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass eine der großen Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters freiwillig aufgegeben wird: die rechtlich geschützte Privatsphäre, die Intimität.“[3]

1.4. Sennett über den Zusammenbruch der Intimität

Ein aus dem Gleichgewicht geratenes Privatleben und ein leeres öffentliches Leben sind das Ergebnis eines Wandels, der mit dem Niedergang des Ancien régime (18.Jht.) begann und mit der Herausbildung einer neuen kapitalistischen, säkularen, städtischen Kultur einsetzte.

In der Epoche der Nachkriegsgeneration sei es zur Zerstörung der öffentlichen Sphäre gekommen, so Sennett, weil sie sich zwar von sexuellen Zwängen befreite, dabei aber gleichzeitig nach innen kehrte.

Die Grenzlinie zwischen Öffentlichem und Privatem im Ancien régime war dadurch gekennzeichnet, dass mit ihrer Hilfe das Gleichgewicht zwischen den Ansprüchen der Zivilisation (verkörpert im kosmopolitischen, öffentlichen Verhalten), und den Ansprüchen der Natur (verkörpert in der Familie) hergestellt wurde. Die Kontinuität von Privatbeziehungen wurde über den Druck der Gesellschaft geregelt.

Freundschaften knüpfen und Eltern zu sein galt als natürliche Anlage und nicht als Ergebnis menschlicher Tätigkeit, während mit Fremden auf eine emotional zufriedenstellende Weise umgehen zu können und doch Distanz zu wahren ein Zeichen dafür war, aus dem Menschen ein gesellschaftliches Wesen zu machen. In der Öffentlichkeit schuf sich der Mensch, im Privaten verwirklichte er sich.

Sennet macht drei Faktoren für den Wandel vom einstigen Gleichgewicht zwischen Öffentlichkeit und Privatheit hin zum Verfall des Öffentlichen verantwortlich:

1. Den Industriekapitalismus, der sich in zweifacher Weise aus wirkte:

a) Der Kapitalismus erzeugte in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts einen Privatisierungsdruck.

Das Private und die Familie wurden idealisiert und als sittliches Vorbild angesehen, an dem das öffentliche Leben der Hauptstadt gemessen wurde. Öffentliches Leben war nicht mehr - wie in der Aufklärung - ein eigentümliches Netz sozialer Beziehungen, sondern galt nun als moralisch fragwürdig. Angesichts der idealen Ordnung in der Familie wurde die Legitimität der öffentlichen Ordnung in Frage gestellt. Die Familie galt als Schutzwall gegenüber der öffentlichen Sphäre, die nicht mehr kontrolliert und systematisiert werden konnte.

b) Materielle Verhältnisse konnten innerhalb einer Familie in der Öffentlichkeit verschleiert werden. Durch die Massenproduktion von Kleidung trat ein uniformes äußeres Erscheinungsbild in den Hauptstädten auf.

Die sozialen Unterschiede wurden verdeckt, und es entstand eine Mystifikation von Massenartikeln, neuartigen, lebenserleichternden Erfindungen, denen man in der Werbung menschliche Eigenschaften verlieh. Massenproduktion, Einförmigkeit des Erscheinungsbildes und Überlagerung der materiellen Dinge trafen mit intimen Persönlichkeitsattributen zusammen. Dennoch konnte auf diese Weise die Gesellschaft keineswegs vereinheitlicht werden.

2. Die im 19. Jahrhundert einsetzende Neubestimmung von Weltlichkeit wirkte sich auf das Interpretieren von Fremdem und Unbekannten aus. Das weltliche Leben wurde anders angenommen. Die Anschauungen waren diesseitsorientiert, säkular.

Im 18. Jahrhundert waren Dinge und Menschen verstehbar, wenn man ihnen einen Platz in der Ordnung der Natur zuweisen konnte. Naturordnung war aber weder greifbar, noch war sie in weltlichen Dingen enthalten. Im 19. Jahrhundert dagegen mussten unmittelbare Empfindungen, Tatsachen und Gefühle nicht in eine Ordnung eingefügt werden um verstehbar zu sein. Das Immanente, der Augenblick und das Faktum bildeten an sich und aus sich eine Realität. Durch die Psychologie und die Erforschung physikalischer Objekte bildeten sich neue Maßstäbe für das, was als Material für Überzeugungen und Ansichten dienen konnte.

3. Die Öffentlichkeit im Ancien régime war die Sphäre der Unmoral und stand der durch Idealisierung der Familie geschaffenen Schutzzone gegenüber. Wollte man der Last dieses Ideals entfliehen, begab man sich in die Öffentlichkeit, wo Fremde einander fremd blieben. Indem der Mann in die Öffentlichkeit hinausging und sich in ihr verlor, konnte er sich den repressiven autoritären Zügen der Ehrbarkeit entziehen, die er zu Hause als Vater und Ehemann verkörpern musste. Affären wurden deshalb in aller Öffentlichkeit ausgetragen, weil sie sich damit in einem anderen sozialen Raum abspielten, der von der Familie weit weg war.

Die Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit stand damals im Zusammenhang mit der Ausbildung einer sozialen Ordnung, während sie im letzten Jahrhundert in Zusammenhang mit der Ausbildung der Persönlichkeit gesehen wurde.

Eine gewisse Welterfahrung wird als notwendiger Bestandteil der Selbstentwicklung angesehen. Jede Erfahrung, die man machen kann ist wichtig, weil sie potenziell die Ausprägung der Identität und die Entfaltung des Selbst prägen kann.[4] Die Grenze zwischen dem, was persönliche Bedürfnisse berührt und dem, was unpersönlich und ohne Beziehung zum eigenen unmittelbaren Erleben ist, war undefinierbar geworden.

Sennett beschreibt den Verfall der Öffentlichkeit als einen Verlust von reglementierten Formen der Geselligkeit.

Daraus folgt eine Steigerung der gesellschaftlichen Risiken in dreierlei Hinsicht:

1) Die öffentliche Sphäre löst sich fortschreitend auf, der Mensch scheint immer mehr sozial entwurzelt. Er flieht aus der sozialen Isolation in die Privatsphäre.

In der modernen Gesellschaften steigt der Drang zu Individualisierung und Selbstreflexion, was den Abbau von Normen und Wertvorstellungen zur Folge hat. Diese Modernisierung bewirkt die steigende Tendenz zur Auflösung stabiler gesellschaftlicher Strukturen, Normvorgaben und kultureller Wertvorstellungen.

Da Intimbeziehungen oder intime Systeme (Beziehungen zu Familienmitgliedern oder Partnern) dynamische Gebilde sind, die durch eine hohe Konfliktträchtigkeit gekennzeichnet sind, geraten sie in der modernen Gesellschaft zunehmend unter den Druck des Gelingens. In solchen Beziehungen werden bestimmte Aspekte hyperakzentuiert, bis die Beziehungen unter dem entstandenen Druck zerbrechen.

Intime Systeme müssen sich an das gewandelte gesellschaftliche Umfeld anpassen.

Die Moderne stellt intime Systeme vor die Wahl, entweder an den für sich gewonnenen Modellen (z.B., dem Modell der romantischen Liebe) haften zu bleiben (was meist zur Auflösung der Gemeinschaft führt), oder einen systemindividuellen Weg zu finden. Letzteres führt zur Absagung an das Ideal romantischer Zweisamkeit und zur tendenziellen Rückläufigkeit von Paarbildungen.

2. GESCHICHTLICHER ABRISS

2.1. Intimität unter Staatskontrolle

Im europäischem Mittelalter verschwindet erstmals der Gegensatz von öffentlich und privat. Die religiös begründeten Vorstellungen des Hochmittelalters 1100-1300 hatten zur Folge, dass die Intimität der Menschen völlig kontrolliert wurde. Die Etablierung des Christentums zur Staatskirche und zum Kirchenstaat hatte die Konsequenz, dass bei den Menschen eine ungeheure Angst vor dem Jenseits geschürt wurde. Für die im Diesseits begangenen Sünden wurden ungeheure Strafen vorgesehen, die den Sünder im Jenseits erwarteten. Um diese zu mildern musste er Buße tun, was durch die Beichte möglich war. Durch das Ritual der Beichte hatte man Zugriff auf die Intimität des Einzelnen.

Die Bereiche Arbeit und Liebe waren derart reglementiert, dass es nicht schwer war, in einem der beiden Lebensbereiche eine Sünde zu begehen. Im Bereich der Intimität ging es soweit, dass die sexuelle Betätigung nur in der Ehe und zum Zwecke der Fortpflanzung toleriert wurde. Die Regulierung der von Gott gegebenen Institution Ehe gab der Kirche das Recht zur Regulierung aller Intimität.

Der Aberglaube blühte zu dieser Zeit. Seine Verbreitung und Festigung in den Köpfen der Menschen wurde sowohl von kirchlichen als auch von weltlichen Denkern unterstützt. Unter dem Deckmantel der Heiligung des Menschen und der Ausbildung seines Leibes zum Tempel Gottes, wurde ein komplexer Katalog strafbarer Taten aufgestellt, welche die grausamsten Bestrafungsmethoden zur Folge haben sollten, die zur Einschüchterung der Menschen teilweise öffentlich auf Marktplätzen durchgeführt wurden.

Öffentlichkeit generierende Strukturen bildeten sich im 15. Jahrhundert aus, darunter die Post, der Buchdruck und das noch sehr eingeschränkte Pressewesen. Lesen und schreiben konnten immer noch die Wenigsten - darunter hauptsächlich männliche Geistliche und Gelehrte.

Die Post begann zunächst als Medium zur Weitergabe von herrschaftlichen Befehlen, Verordnungen und Nachrichten und etablierte sich zu einer Einrichtung, die private Kommunikation, also Briefe, transportierte. Der Brief galt als Abdruck der Seele.

Beim Briefe schreiben entfaltete das Individuum seine Subjektivität. Er war das Medium, mit dem man intimste Gefühle und Gedanken in die Ferne transportieren konnte. Der Brief war Teil des Privaten, der durch den verschlossenen bzw. versiegelten Umschlag der Öffentlichkeit unzugänglich gemacht wurde, und dessen Inhalt nur dem Absender und Empfänger vorbehalten blieb. Dennoch wurden, vor allem in politisch unruhigen Zeiten, Briefe auf dem Postweg von Staatsdienern geöffnet und auf ihren Inhalt geprüft. Ein Gesetz zur Wahrung des Briefgeheimnisses gibt es seit 1870.

Ende des 17. Jahrhundert existierten Post und Presse wie im heutigen Sinn. Durch die ausgereifte Druck-Technik und die Möglichkeit, Nachrichten auf bedrucktem Papier in großer Auflage verbreiten zu können, schwand das ´Informationsprivileg` der Gelehrten.

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zeichnete sich ein Wandel auf institutioneller Ebene ab. Die Kirche und das Fürstentum, zum Beispiel, polarisierten sich und zerfielen in öffentliche und private Elemente.

[...]


[1] Sennett, Richard: Die Tyrannei der Intimität. Verfall und Ende der öffentlichen Sphäre. 12. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer, 2001 (1.Aufl.1986). S.16.

[2] Giddens, Anthony: Der Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften. Frankfurt a. M.: Fischer, 1993 (1.Aufl.1977). S. 219.

[3] Ulrich Greiner: Versuch über die Intimität. Von Ballermann bis zu "Big Brother", vom Internet bis zur Talkshow: Der neue Exhibitionismus grassiert. In: Die Zeit, Ausgabe 8/2000. In: http//www.die-zeit/archiv.de.

[4] Sennett, S.42

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Privatheit vs. Öffentlichkeit - Intimität des Mannes im Wandel der Zeit
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Medien- und Gesellschaftsforschung)
Veranstaltung
Privatheit-Öffentlichkeit -Medien
Note
1,7
Autor
Jahr
2002
Seiten
37
Katalognummer
V4331
ISBN (eBook)
9783638126854
ISBN (Buch)
9783638638593
Dateigröße
747 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Sehr dicht - einzeiliger Zeilenabstand.
Schlagworte
Privatheit, Intimität, Mannes, Wandel, Zeit, Privatheit-Öffentlichkeit
Arbeit zitieren
M.A. Tamara Olschewski (Autor:in), 2002, Privatheit vs. Öffentlichkeit - Intimität des Mannes im Wandel der Zeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/4331

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