Der göttliche Nous als unbewegte Substanz in Aristoteles' Metaphysik Lambda


Bachelorarbeit, 2015

34 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhalt

Einleitung
1. Themenstellung und methodisches Vorgehen
2. Historische Hinführung mit Hilfe der Nous-Fragmente des Anaxagoras

I. Was ist die Substanz?
1. MetaphysikΛ als Grundlage der Untersuchung
2. Der Begriff der Materie

II. Notwendigkeit eines ersten unbewegten Bewegers
1. Wesensbestimmungen des Göttlichen
2. Wie bewegt das Göttliche alles Übrige?
a. Pros-Hen-Relation
b. Die teleologische Seinsordnung

III. Tätigkeit des Göttlichen
1. Vergleich zur Tätigkeit des menschlichen Nous
2. Was ist der menschliche Nous?

IV. Resümee

V. Literaturverzeichnis
1. Aristoteles - Textausgaben
2. Andere Quellentexte
3. Sekundärliteratur

Einleitung

1. Themenstellung und methodisches Vorgehen

„Ob mir durch Geistes Kraft und Mund

Nicht manch Geheimnis würde kund; Daß ich nicht mehr mit saurem Schweiß Zu sagen brauche, was ich nicht weiß; Daß ich erkenne, was die Welt Im Innersten zusammenhält, Schau alle Wirkenskraft und Samen, Und tu nicht mehr in Worten kramen.“[1]

Gleichsam Goethes Faust stellt sich jedes Philosophie betreibende Wesen unweigerlich einmal die Frage, was eigentlich ist, was der Wirklichkeit nach ist, was jenseits des natürlich Seienden ist; also die Frage nach der Metaphysik.

Neben den umfangreichen Schriften die praktische Philosophie betreffend, welche im Corpus Aristotelicum vorzufinden sind, beantwortet Aristoteles eben jene theoretischen Fragen - unter anderem - in seiner Metaphysik, indem er insbesondere den Begriff der Substanz alias den des Wesentlichen (οὐσία) thematisiert, um mit Hilfe dessen zu erklären, was den Kosmos letztlich antreibt und in Bewegung hält; nämlich der göttliche Nous (νοῦς).

Anzumerken ist hierbei, dass Aristoteles keinesfalls in jedem seiner Werke[2] eine eigene, abgeschlossene Thematik abhandelt, sondern im Gegenteil in seinen verschiedenen Schriften gleiche Fragen, vor allem jene nach der Ousia (οὐσία), auf unterschiedliche Weise zu beantworten scheint.

So findet sich eine frühe Ontologie-Konzeption in Aristoteles’ Kategorienschrift (Cat. 5) wieder, die wenigstens zunächst derjenigen, welche in der Metaphysik (Met. Λ) dargelegt wird, widerspricht. Ergo müssen bei der Auseinandersetzung mit Aristoteles’ metaphysischen Gedanken neben derMetaphysikselbst auch immer weitere seiner Werke hinzugezogen werden.

Inwiefern sich schließlich die diversen Ansätze, die den göttlichen Nous betreffen, vereinen lassen oder ob letzten Endes nur die Flucht in die Aporie möglich ist, soll unter anderem in dieser Arbeit zu klären versucht werden, indem nach einer einleitenden historischen Hinführung, in welcher die Überlegungen zum Nous - Begriff des Vorsokratikers Anaxagoras betrachtet werden, auf Grundlage der Metaphysik(Met. Λ) und unter Heranziehung derKategorienschrift(Cat. 5) die beiden Ontologie - Konzeptionen erarbeitet werden, um auf diese Weise Antworten auf die Frage nach dem göttlichen Nous (νοῦς) und Hinweise auf dessen Notwendigkeit zu erhalten.

Um zudem den göttlichen vom menschlichen Nous abgrenzen zu können, soll letzterer mit Hilfe von De anima (An. III) und De generatione animalium (GA II) charakterisiert werden.

Abschließend soll das Erarbeitete in einem abrundenden Resümee zusammengetragen und zusammengefasst werden.

2. Historische Hinführung mit Hilfe der Nous-Fragmente des Anaxagoras

Nicht nur der pyrrhonische Skeptiker Sextus Empiricus beschrieb den aus Klazomenai stammenden Vorsokratiker Anaxagoras rückblickend als „ὁ φυσικώτατος“[3] und somit als den naturwissenschaftlichsten Denker, sondern auch zu Lebzeiten war Anaxagoras’ positiver Ruf vor allem dank seiner Nous - Lehre in seiner langjährigen Heimat Athen weit verbreitet. Im vierten vorchristlichen Jahrhundert jedoch, also zu Lebzeiten des Aristoteles, erhielten seine Schriften fortwährend weniger Aufmerksamkeit, weswegen auch nur Fragmente seines Werks in die heutige Zeit überliefert worden sind.[4]

Im Fokus der folgenden Betrachtung soll nun vor allem das Fragment B12 stehen, da Anaxagoras primär in selbigem seine Überlegungen zum Nous äußert. Um jenes jedoch hinreichend nachvollziehen zu können, muss zudem Augenmerk auf Anaxagoras’ ontologische Ausgangsbasis, welche in den vorausgehenden B - Fragmenten erläutert wird, gerichtet werden.

Erstmals erwähnt Anaxagoras den Nous schon im Fragment B 11: „In jedem ist ein Teil von jedem enthalten, mit Ausnahme des Geistes (νοῦς). In einigen ist aber auch Geist (νοῦς) enthalten“[5]. Folglich differenziert Anaxagoras den Nous unverzüglich stark von allen anderen Dingen (χρήματα), indem er ihm eine Sonderstellung zuspricht.

Dies führt er im bereits genannten Fragment B 12 weiter aus, indem er den Nous als selbst herrschend und mit keinem Dinge vermischt (αὐτοκρατὲς καὶ μέμεικται οὐδενὶ χρήματι) (vgl. Hermann Diels, B 12) bezeichnet. Weiter argumentiert Anaxagoras, dass der Nous aufgrund der Tatsache, dass er als einziges selbst unvermischt trotzdem in einigem Gemisch enthalten sei, eine absolute Stellung habe und alles, „was nur eine Seele (ψυχή)“ (Hermann Diels, B 12) habe, kontrollieren könne.

Was er aber eigentlich unter „allen Dingen“ (πάντα χρήματα) versteht, macht Anaxagoras bereits mit seinen ersten Worten in den B - Fragmenten deutlich; nämlich bilde alles gemeinsam ein plastisches Kontinuum, wobei sowohl die Anzahl des jeweilig Seienden als auch dessen Größe unbegrenzt sei: „Alle Dinge waren zusammen, unendlich der Menge wie der Kleinheit nach“ (ὁμοῦ πάντα χρήματα ἦν, ἄπειρα καὶ πλῆθος καὶ σμικρότητα) (Hermann Diels, B 1).

Jenes Kontinuum wird außerdem als etwas definiert, dessen „Gesamtheit sich weder vermindern noch vermehren kann“ (ὅτι πάντα οὐδὲν ἐλάσσω ἐστὶν οὐδὲ πλείω) (Hermann Diels, B 5), was Anaxagoras damit untermauert, dass niemals etwas Seiendes zu etwas Nicht - Seiendem werden könne, da sich die Gesamtheit der Dinge sonst vermindere, bzw. aus etwas Nicht - Seiendem ein Seiendes entstehen könne, was eine Vermehrung des Ganzen zur Folge hätte (vgl. Hermann Diels, B 10). Anaxagoras sieht die Ganzheit also als eine vollkommene und unveränderliche Größe an.

Woraus sich jenes Gemisch nun allerdings zusammensetze, klärt Anaxagoras im Fragment B 4, in dem er erläutert, dass die Gesamtheit der Dinge aus „Viele(m) und Mannigfache(m)“ (πολλά τε καὶ παντοῖα) (Hermann Diels, B 4) bestehe, aus dem sich wiederum alle beseelten Dinge, also auch die Menschen, zusammenfügen lassen (καὶ ἀνθρώπους τε συμπαγῆναι καὶ τὰ ἄλλα ζῷα, ὅσα ψυχὴν ἔχει) (vgl. Hermann Diels, B 4) [6].

Wie bereits erwähnt, sei es nun der Nous, der als Selbstherrschender diese Gesamtheit ordne und kontrolliere. Doch aus welcher Position er diese Aufgabe gemäß Anaxagoras ausführt, ist gewissermaßen problematisch.

Auf der einen Seite bezeichnet Anaxagoras den Nous als abgegrenzt von der Gesamtheit, unendlich, selbst herrschend, mit keinem Ding vermischt, und selbst für sich (τὰ μὲν ἄλλα παντὸς μοῖραν μετέχει, νοῦς δέ ἐστιν ἄπειρον καὶ αὐτοκρατὲς καὶ μέμεικται οὐδενὶ χρήματι, ἀλλὰ μόνος αὐτὸς ἐπ' ἐωυτοῦ ἐστιν) (vgl. Hermann Diels, B 12), was darauf schließen lässt, dass es sich bei dem Nous um etwas Immaterielles handle, der Nous selbst also kein Ding (χρήμα) sei.

Doch auf der anderen Seite nennt Anaxagoras den Nous „das dünnste aller Dinge und das reinste“ (ἔστι γὰρ λεπτότατόν τε πάντων ξρημάτων καὶ καθαρώτατον) (Hermann Diels, B 12), spricht ihm also einen - wenn auch den höchsten - materiellen Charakter zu. Außerdem könne der Nous, wenn auch selbst ungemischt, in anderen Dingen enthalten sein (ἔστιν οἶσι δὲ καὶ νοῦς ἔνι) (vgl. Hermann Diels, B 11). Dies könnte so ausgelegt werden, dass aufgrund der Tatsache, dass der Nous an anderen Dingen teilhabe, er ebenso Part der Gesamtheit und somit ein Ding (χρήμα) sei. Weiterhin macht Anaxagoras eine explizite Aussage über die Größe des Nous: „Jeder Geist ist aber von gleicher Art, der größere wie der kleinere“[7] (Hermann Diels, B 12), was abermals vermuten lässt, dass der Nous aus Materie bestehe, da er sonst gar keine Größe habe.

Gleichgültig seiner Stellung in bzw. gegenüber der Gesamtheit besitze der Nous jedenfalls „jegliche Einsicht über jegliches Ding und die größte Kraft“ (καὶ γνώμην γε περὶ παντὸς πᾶσαν ἴσχει καὶ ἰσχύει μέγιστον) (Hermann Diels, B 12), was wiederum rechtfertige, dass er über alles Beseelte - unabhängig dessen Größe - herrsche (vgl. Hermann Diels, B 12).

Abgesehen vom Nous spricht Anaxagoras auch der „Wirbelbewegung“ (περιχωρεῖν) (Hermann Diels, B 12) eine besondere Bedeutung zu, da sie es sei, die die Dinge mische und absondere und dies auch zukünftig tue (vgl. Hermann Diels, B 12). Für den Anstoß dieser Bewegung sei allerdings wieder der Nous verantwortlich, der ebenso wie über alle anderen Dinge auch die Herrschaft über den Wirbel besitze und somit auch alles kenne, was der Wirbel bewege (vgl. Hermann Diels, B 12). Der Nous sei also der immerwährende Entwerfer der Gesamtheit: „Und alles ordnete der Geist an, wie es in Zukunft werden soll und wie es vordem war (was jetzt nicht mehr vorhanden ist) und wie es gegenwärtig ist“ (καὶ ὁποῖα ἔμελλεν

ἔσεσθαι καὶ ὁποῖα ἦν, ἅσσα νῦν μὴ ἔστι, καὶ ὅσα νῦν ἐστι καὶ ὁποῖα ἔσται, πάντα διεκόσμησε νοῦς) (Hermann Diels, B 12).

Jene Zusammensetzung des Bewegten sei allerdings niemals total beziehungsweise final: „Vollständig aber scheidet sich nichts vom anderen ab oder auseinander abgesehen vom Geiste“ (παντάπασι δὲ οὐδὲν ἀποκρίνεται οὐδὲ διακρίνεται ἕτερον ἀπὸ τοῦ ἑτέρου πλὴν νοῦ) (Hermann Diels, B 12), was erneut die Sonderstellung des Nous betont.

Trotzdem bleibt in gewissem Maße offen, ob nun der noetischen Tätigkeit des Bewegens ewiges Fortwähren zugesprochen werden kann oder ob der Nous des Anaxagoras schlussendlich doch nur für den ersten Bewegungsimpuls und somit für den Beginn der Wirbelbewegung verantwortlich ist: „Und als der Geist die Bewegung eingeleitet hatte, begann die Ausscheidung von allem, was da in Bewegung gesetzt wurde; (...) Während der Bewegung und Scheidung aber bewegte der Wirbel eine noch viel stärkere Scheidung der Dinge von einander“ (καὶ ἐπεὶ ἢρξατο ὁ νοῦς κινεῖν, ἀπὸ τοῦ κινουμένου παντὸς ἀπεκρίνετο; (...) κινουμένων δὲ καὶ διακρινομένων ἡ περιχώρησις πολλῷ μᾶλλον ἐποίει διακρίνεσθαι) (Hermann Diels, B 13). Folglich wird dem Nous explizit die Tätigkeit des vorausschauenden und bedingenden Ordners des Kosmos zugewiesen, jedoch nicht unbedingt, dass er außerdem an der persistenten Umsetzung desselbigen beteiligt ist.

Die Ewigkeit des Nous selbst stellt Anaxagoras jedoch keinesfalls in Frage: „Der Geist, der ewig ist, ist doch fürwahr auch jetzt da, wo alles andere ist, in der umgebenden(nochungeschiedenen)Masse und in dem, was sich daran ansetze, und in dembereitsAusgeschiedenen“ (ὁ δὲ νοῦς, ὅς ἀεί ἐστι, τὸ κάρτα καὶ νῦν ἐστιν ἵνα καὶ τὰ ἄλλα πάντα, ἐν τῷ πολλῷ περιέχοντι καὶ ἐν τοῖς προσκριθεῖσι καὶ ἐν τοῖς ἀποκεκριμένοις ) (Hermann Diels, B 14), was annehmen lässt, dass seine Tätigkeit ebenfalls ewig sei.

Ob Anaxagoras hingegen letztlich auf ein teleologisches Prinzip abgezielt hat, dieses jedoch nicht vervollkommnen konnte, oder ob er gleichsam ihm vorausgehender ionischer Naturphilosophen darauf bedacht war, physische Prozesse gänzlich aus sich selbst begreiflich zu machen, bleibt ungeklärt[8].

Unzweifelhaft lässt sich jedoch festhalten, dass die Nous - Fragmente des Anaxagoras enormen Einfluss auf Aristoteles’ Lehre hatten, weswegen dieser Anaxagoras auch „Nüchterner gegen Irreredende“[9] (Met. A 3, 984b15-18) nennt.

I. Was ist die Substanz?

1. Metaphysik XII als Grundlage der Untersuchung

Bereits mit den die Metaphysik XII einleitenden Worten „Über die Substanz geht die Untersuchung; denn der Substanzen Prinzipien und Ursachen werden gesucht“ (Περὶ τῆς οὐσίας ἡ θεωρία· τῶν γὰρ οὐσιῶν αἱ ἀρχαὶ καὶ τὰ αἴτια ζητοῦνται) (Met. Λ 1, 1069a18) gibt Aristoteles eindeutig das Themengebiet, welches er in in diesem Buch betrachten möchte, an und macht auf diese Weise die Relevanz der Ousia (οὐσία) in Bezug auf das Beantworten metaphysischer Fragen deutlich.

Worum es sich jedoch bei der Ousia eigentlich handle, gibt er nicht in derMetaphysik, sondern in derKategorienschriftan, weswegen nun ein kurzer Exkurs, in dem die Konzeption dieser chronologisch ersten Ousia - Lehre des Aristoteles betrachtet werden soll, folgt.

In Cat. 5 differenziert Aristoteles zunächst einmal bezüglich erster und zweiter Ousia, um anschließend die Ousia „im sehr strengen und ersten und eigentlichsten Sinn“[10] auf negative Weise als dasjenige, „was weder über ein Zugrundeliegendes (καθ’ ὑποκειμένου) ausgesagt wird noch in einem Zugrundeliegenden (ἐν ὑποκειμένῳ) ist“ (Cat. 5, 2a10ff.) zu definieren. Als Beispiel für jene erste Ousia (πρώτη οὐσία) nennt Aristoteles diesen bestimmten Menschen (ὁ τὶς ἄνθρωπος) und dieses bestimmte Pferd (ὁ τὶς ἵππος) (vgl. Cat. 5, 2a12f.), also bestimmte Einzelwesen (τόδε τι).

Hingegen unter den zweiten Ousiai (δεύτεραι οὐσίαι), welche als Wesensbestimmungen für die ersten Ousiai fungieren könnten, seien die Arten (εἴδη) und die Gattungen (γένη) zu verstehen (vgl. Cat. 5, 2a13ff.). So bezeichne beispielsweise der Mensch die Art (εἴδος) des bestimmten Menschen und das Lebewesen dessen Gattung (γένος) (vgl. Cat. 5, 2b15ff.).

Ergo sei die erste Ousia (πρώτη οὐσία) das Zugrundeliegende (ὑποκείμενον) selbst, welches entweder aus der Position des Subjekts - sofern das Ausgesagte zweite Ousia (δεύτερα οὐσία) sei - oder in (ἐν) sich - sofern etwas Akzidentielles bestimmt werde - das Übrige ausdrücke und somit logisch - grammatisch betrachtet eine Aussage bedinge und auf diese Weise niemals Prädikat (κατηγορούμενον) sein könne[11]. „Gibt es also nicht die Wesen im ersten

Sinn, gibt es unmöglich etwas anderes“ (Cat.5, 2b5f.). Daher sei die erste nach Aristoteles auch am ehesten (μάλιστα) Ousia.

Die zweite Ousia diene entsprechend als Prädikat für die erste und bestimme dadurch deren ‚Washeit’ (vgl. Cat. 5, 2b29ff.). Demgemäß befinde sich die zweite Ousia in der Hierarchie zwar unter der ersten, jedoch über allem Übrigen, den Akzidentien (vgl. Cat. 5, 3a1ff.).

Innerhalb der zweiten Ousia wiederum liege „die Form (εἶδος) (..) der Gattung (γένος) zugrunde“ (Cat. 5, 2b18), weswegen die Eide auch eher (μᾶλλον) Ousiai seien als die Gene[12]. Diese Differenzierungen deuten auf eine Abstufung hinsichtlich der Dignität hin, obwohl Aristoteles ebenso festlegt, dass es bei der Ousia „keineswegs aber ein Mehr oder ein Weniger (μᾶλλον καὶ ἧττον)“ (Cat. 5, 3b35ff.) geben könne und dass „ebenso (..) auch kein Wesen im ersten Sinn mehr Wesen als ein anderes“ (Cat. 5, 2b23ff.) sei. Folglich könne die Ousia nicht auf geringere oder stärkere Weise sein, was sie ist, wie es das Akzidentielle vermöge[13], sondern sei das eine Einzelwesen (τόδε τι) dies immer in gleicher Weise wie jedes übrige.

Die erste Ousia hingegen, welche stets ein bestimmtes Einzelwesen (τόδε τι) bezeichne, sei „unteilbar (ἄτομον) und der Zahl nach eins (ἓν ἀριθμῷ)“ (Cat. 5, 3b11f.). Teilte man entsprechend ein Einzelwesen, verlöre dieses seinen substantiellen Charakter, wäre ergo keine Ousia mehr. Auch wenn es den Anschein macht, als gelte dies ebenso für die zweiten Ousiai, da beispielsweise die Gattung das Lebewesen und die Art den Menschen beschreibe, handle es sich bei jenen um Universalien (vgl. Met. Z 13), die folglich stets vielerlei Dinge betreffen und somit kein Einzelweisen (τόδε τι) - also ebenso wenig numerisch eins und unteilbar - sein könnten.

Trotz dieser scheinbar geringeren Wertschätzung der zweiten Ousia werde die erste hinsichtlich ihrer ‚Washeit’, die ihre ontologische Position erst rechtfertige, durch die zweite bestimmt. Auf diese Weise unterscheide sich die zweite Ousia von allem Übrigen, da die Akzidens „nichts anderes als ein Beschaffen - Sein (ποιόν)“ (Cat. 5, 3b18f.) bezeichne, die zweiten Ousiai hingegen „grenzen innerhalb des Wesens das Beschaffen - Sein ab“ (Cat. 5, 3b19f.). Form und Gattung dienen demzufolge anders als das Akzidentielle, welches lediglich unwesentliche und zufällige Eigenschaften (vgl. Cat. 5, 3a15), die zudem ebenso in ihr Gegenteil umschlagen oder gar vollkommen fehlen könnten, beschreibe, als

Wesensprädikate[14]. Daher machen die zweiten Ousiai die ersten auch erst zu dem, was sie sind; das Eidos gar mehr (μᾶλλον) als das Genos. Dies zeigt sich ebenso darin, dass das Eidos trotz des Entstehens und Vergehens der Individuen über viele Generationen hinweg andauere, es in gewisser Hinsicht also ewig sei[15]. Trotzdem sei das Eidos keinesfalls selbstständig, benötige daher stets etwas Zugrundeliegendes.

Nachdem nun die Differenzierung bezüglich der Ousia im ersten und im zweiten Sinn abgeschlossen ist, stellt sich nun die Frage, worin sich derKategorienschriftzufolge die Eigentümlichkeit (ἴδιον) der Ousiai zeige.

Aristoteles hält diesbezüglich fest, dass „für die Wesen (οὐσίαι) (...) auch (gelte), daß ihnen nichts entgegengesetzt ist“ (Cat.5, 3b23f.), dass sie also kein Gegenteil besitzten. Dies sei jedoch keine Eigentümlichkeit (ἴδιον) der Ousia, da es auf anderes in gleicher Weise zutreffe, beispielsweise auf die Quantität (πόσος). Obwohl nämlich das Gegenteil von dem Vielen das Wenige sei, gebe es kein Widerspiel einzelner Zahlen (vgl.Cat.5, 3b26ff.).

Was die Ousia jedoch ausmache, sei ihre Fähigkeit, ihren ontologischen Status beizubehalten, auch wenn sie akzidentieller Veränderung (μεταβολὴν δεχόμενον) unterliege (vgl. Cat. 5, 4a30ff.), was wiederum bei keiner übrigen Kategorie der Fall sei. So könne das Einzelwesen (τόδε τι) beispielsweise sowohl krank als auch gesund sein, ohne dabei seine wesentliche Wasbestimmtheit zu verlieren (vgl. Cat. 5, 4b14f.). Anhand dessen zeigt sich allerdings auch, dass sich Aristoteles, wenn er schreibt, dass es die Eigentümlichkeit des Wesens (οὐσία) sei, „dass es als etwas, das dasselbe und der Zahl nach eines ist, das Entgegengesetze annehmen kann“ (Cat. 5, 4b17f.), lediglich auf die erste Ousia (πρώτη οὐσία) bezieht, weil nur sie ein Einzelwesen (τόδε τι), ein Unteilbares (ἄτομον) und numerisch eins (ἓν ἀριθμῷ) sei.

Diese ontologische Charakterisierung derKategorienschriftsoll nun im Folgenden dabei behilflich sein, die Prinzipien (ἀρχαὶ) und Ursachen (αἴτια) der Ousiai, nach denen dieMetaphysikΛ fragt, zu analysieren und nachzuvollziehen.

Doch auch inMet.Λ spricht Aristoteles den Ousiai vorab einige Charakteristika zu, die teils bereits in derKategorienschriftvorzufinden teils bislang unerwähnt geblieben sind.

[...]


[1] Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, Stuttgart 2000, S. 3.

[2] Aristoteles selbst hat zudem weder eine Schrift mit dem Titel Metaphysik veröffentlicht noch die diversen Texte, die in ihr vorzufinden sind, zusammengestellt. Stattdessen ist nach heutigem Forschungsstand wohl Andronikos von Rhodos für die Betitelung τὰ μετὰ τὰ φυσικά, welche wörtlich übersetzt dasjenige, welches nach dem Physikalischen (Natürlichen) kommt, bedeutet, verantwortlich (vgl. Aristoteles, Metaphysik, übersetzt von H. Bonitz (hrsg. von E. Wellmann), auf Grundlage der Bearbeitung von H. Carvallo und E. Grassi neu hrsg.
von U. Wolf, Reinbek 2014).

[3] Sextus Empiricus:Gegen die Dogmatiker. Adversus mathematicos libri 7-11. Übersetzt von Hansueli Flückiger. Academia, Sankt Augustin 1998.7,90.

[4] Vgl. Georg Rechenauer, § 18. Anaxagoras, in: Hellmut Flashar (Hg.), Dieter Bremer (Hg.), Georg Rechenauer (Hg.),Die Philosophie der Antike. Band 1, Frühgriechische Philosophie,Basel 2013, S.740-741.

[5] Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Berlin 1903, S. 330, B 11. Diese Übersetzung dient der Untersuchung der Nous - Fragmente des Anaxagoras - sofern nicht anders vermerkt - als Textgrundlage.

[6] An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass für Anaxagoras generell kein Entstehen und Vergehen im Sinne des Entstehens aus etwas Nicht - Seiendem bzw. des Vergehens etwas Seienden existiert, sondern dass er selbiges schlicht als eine Veränderung der Zusammensetzung der Gesamtheit betrachtet: „Denn kein Ding entsteht oder vergeht, sondern es mischt sich oder scheidet sich von bereits vorhandenen Dingen“ (Hermann Diels, B 17).

[7] Ebenfalls gilt es zu betonen, dass Anaxagoras ausdrücklich von verschiedenen Größen des Nous spricht, was darauf hinweist, dass der Nous nicht notwendigerweise einzig ist, sondern dass gar mehrere Noes (νόες) existieren können.

[8] Vgl. Georg Rechenauer, § 18. Anaxagoras, in: Hellmut Flashar (Hg.), Dieter Bremer (Hg.), Georg Rechenauer (Hg.),Die Philosophie der Antike. Band 1, Frühgriechische Philosophie,Basel 2013, S.776.

[9] Aristoteles,Metaphysik. Übersetzt von H. Bonitz (hrsg. von E. Wellmann), auf Grundlage der Bearbeitung von H. Carvallo und E. Grassi neu hrsg. von U. Wolf, Reinbek 2014. Diese Übersetzung dient der folgenden Untersuchung - sofern nicht anders vermerkt - als Textgrundlage.

[10] Aristoteles,Die Kategorien.Übersetzt und herausgegeben von Ingo W. Rath, Stuttgart 2009. Sofern dieKategorienschrift zitiert wird, dient diese Übersetzung als Textgrundlage.

[11] Vgl. Dirk Fonfara,Die Ousia-Lehren des Aristoteles.Berlin/New York 2003, S.19f.

[12] Dies lässt sich mit Hilfe eines Beispiels erläutern, da der bestimmte Mensch namens Sokrates eher durch seine Art als durch seine Gattung bezüglich seines Wesens bestimmt werde, weil das Genos lediglich aussage, dass Sokrates ein Lebewesen sei, das Eidos hingegen, dass Sokrates ein Mensch sei. Insofern sei das Genos allgemeiner und gleichzeitig weniger bestimmend, grenzt den Bereich des ‚Wassein’ also weniger ein und sei somit nicht so spezifisch wie das Eidos (vgl.Cat.5, 2b10ff.).

[13] So könne bekanntlich durchaus das eine weißer bzw. schöner sein als das andere, der Ousia - Charakter bleibe hingegen stets der gleiche (vgl. Dirk Fonfara, Die Ousia-Lehren des Aristoteles. Berlin/New York 2003, S.24).

[14] Beispielsweise könne sich eine qualitative Eigenschaft wie etwa das Weißsein problemlos in ihr Gegenteil wandeln ohne dabei die Wasbestimmtheit des ihr Zugrundeliegenden zu tangieren. Dementgegen sei das Eidos des Sokrates unveränderlich der Mensch. Sokrates könne ergo keinesfalls das Gegenteil eines Menschen werden oder gar ohne Eidos sein (vgl.Cat.5, 3b17ff.).

[15] Vgl. Aristoteles,Über die Seele. Griechisch/Deutsch,übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Stuttgart 2011, 415a30.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Der göttliche Nous als unbewegte Substanz in Aristoteles' Metaphysik Lambda
Hochschule
Universität zu Köln  (Philosophisches Seminar)
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
34
Katalognummer
V433550
ISBN (eBook)
9783668753440
ISBN (Buch)
9783668753457
Dateigröße
726 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Aristoteles, Ethik, Teleologie, Erster unbewegter Beweger, Theoretische Philosophie, Antike, Ontologie
Arbeit zitieren
Christine Haupt (Autor:in), 2015, Der göttliche Nous als unbewegte Substanz in Aristoteles' Metaphysik Lambda, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/433550

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