Etappen der Theologiegeschichte. Akteure und Diskurse vom 10. Jahrhundert bis zur Gegenwart


Ausarbeitung, 2018

69 Seiten, Note: 1,0 (sehr gut)


Leseprobe


Inhalt

Einleitung: Die Theologie und ihr geschichtlicher Entwicklungsprozess

Teil I DAS MITTELALTER
1.1. Das Zeitalter der Scholastik
1.1.1 Zur Problematik des Begriffs
1.1.2 Die Scholastik als einheitliches Lehrsystem
1.2. Anselm von Canterbury
1.2.1 Intellektuelle Mobilität im Frankenreich
1.2.2 Die Begegnung verschiedener Wissensformen zur Zeit Anselms
1.2.3 Die Metapherntheorie als intellektuelles Instrument der Gottesrede
1.2.4 Die Ebenen von Denken und Denknotwendigkeit im ontologischen Gottesbeweis
1.2.5 Die Veranschaulichung durch Künstler und Bild
1.3. Petrus Abaelard
1.3.1 Rationalisierungsschübe durch das Aufkommen verschiedener Autoritäten
1.3.2 Die offenen Grenzen der Vernunfterkenntnis auf die Deutung der Welt hin
1.4. Johannes Scottus Eriugena
1.4.1 Ein irischer Gelehrter zieht ins Westfrankenreich
1.4.2 Der neuplatonische Einfluss bei Eriugena in der Frage nach der Prädestination
1.4.3 Eriugenas Bemühen um die Einheit von Gottesgelehrsamkeit und Weltweisheit
1.4.4 Das Vermächtnis Eriugenas in seinem Hauptwerk „Periphyseon“
1.5. Mechthild von Magdeburg
1.5.1 Armutsbewegungen im Mittelalter
1.5.2 Die Armut als förmlicher Ort von Offenbarung
1.5.3 Das sprachtheologische Konzept der performativen Gottesrede
1.6. Johannes Duns Scotus
1.6.1 Die Aristoteles-Rezeption und ihre Folge für ein neues Theologieverständnis
1.6.2 Duns Scotus als wichtige Schaltstelle für den theologischen Diskurs
1.6.3 Der scotistische Ausweis der Theologie als Wissenschaft
1.7. Wilhelm von Ockham
1.7.1 Ockham als ein Vorläufer der Moderne im Mittelalter
1.7.2 Die Aufwertung der Laien zu relativierenden Größen in der Kirche
1.7.3 Der erkenntnistheoretische Primat des Individuums vor dem Allgemeinen
1.7.4 Die Erkenntnis als realistischer Konzeptualismus
1.8. Via moderna und Mystik
1.8.1 Die Via moderna als neues Gegenüber zur Via antiqua
1.8.2 Konzeptualismus und Nominalismus
1.8.3 Auswirkungen auf die Gottesbestimmung: potentia absoluta und potentia ordinata
1.8.4 Die Deutsche Mystik

Teil II DIE NEUZEIT
2.1. Das Zeitalter der Reformation
2.1.1 Reformation als Epochenbegriff
2.1.2 Theologische Ursprünge der Reformation
2.1.3 Reformation als Emergenzphänomen
2.2. Martin Luther
2.2.1 Die intensive Kirchlichkeit und Religiosität am Beginn des 16. Jahrhunderts
2.2.2 Luthers Prägung durch eine rigorose Religiosität und ihre Folgen
2.2.3 Der Bann Luther auf dem Reichstag zu Worms und die Spaltung der Kirche
2.2.4 Die Rechtfertigung allein aus dem Glauben als Inhalt reformatorischer Theologie
2.3. Johannes Calvin
2.3.1 Humanistische Studien in Paris und Hinwendung zur Reformation
2.3.2 Die festgelegte Kirchenstruktur als Charakteristikum calvinistischer Theologie
2.3.3 Der Vollzug der richtigen Gotteserkenntnis durch den Heiligen Geist
2.4. Gegenreformation und Konfessionalisierung
2.4.1 Die Gegenreformation als Kampfbegriff und Modernisierungsprozess
2.4.2 Umsetzung und Anwendung der katholischen Reform im Konzil von Trient
2.5. Melchior Cano
2.5.1 Spanien zur Zeit Canos
2.5.2 Kirchliche Reform und theologische Ausdifferenzierung an den Universitäten
2.5.3 Die Lehre der loci-theologici
2.6. Das Zeitalter der Aufklärung
2.6.1 Die Endkonfessionalisierung des Religionsbegriffes
2.6.2 Die anthropologische Unterfassung der Religion durch den Vernunftdiskurs
2.7. Die Neuscholastik
2.7.1 Der Rückbezug auf die mittelalterliche Scholastik
2.7.2 Das neuscholastische Theologiekonzept
2.8. Friedrich Schleiermacher
2.8.1 Romantik und Aufklärung als neue Paradigmen
2.8.2 Schleiermachers Religionsverständnis als Anschauung und Gefühl
2.8.3 Das Gefühl der „schlechthinnigen Abhängigkeit“ von der Erlösung
2.8.4 Schleiermachers Erfahrungsgedanke
2.8.5 Religion als Einswerden mit der Schöpfung
2.9. Karl Barth
2.9.1 Das ausgesprochene Wort Gottes als Aufgabe der Theologie
2.9.2 Der Perspektivenwechsel: Gottes Bewegung zum Menschen
2.9.3 Die Begründung der dialektischen Theologie
2.10. Rudolf Bultmann
2.10.1 Der Weg von der liberalen zur dialektischen Theologie
2.10.2 Die Einheit von Exegese und Systematik
2.10.3 Entmythologisierung und Kerygma als zentrale Begriffe
2.10.4 Die hermeneutischen Folgen für den österlichen Glauben an die Auferstehung

Teil III DIE GEGENWART
3.1. Der Begriff der Ökumene und ihr Ziel
3.1.1 Vorüberlegung
3.1.2 Historische Hintergründe der Ökumene
3.1.3 Die Wurzel der Ökumene: die gemeinsamen Märtyrer in den Zeiten der Diktatur
3.1.4 Ähnlichkeiten und Differenzen mit der Orthodoxie
3.1.5 Die systematische Einordnung der Ökumene
3.2. Die Historisierung der Tradition und deren Kontinuität
3.2.1 Unitatis redintegratio: Die Kirche muss einen neuen Weg der Ökumene finden
3.2.2 Bruch von Traditionen und Kontinuität im Heiligen Geist
3.2.3 Christus Her der Kirche und der Geschichte als einendes Element
3.3. Der Herr der Geschichte und die Einheit der Christen
3.3.1 Das Lesen kirchlicher Dokumente in seiner Performativität
3.3.2 Das Vorwort von „Unitatis redintegratio“ – eine Betrachtung
3.3.3 Die Gewichtung der katholischen Dogmen
3.4. Eine neue Grundlegung des Ökumenismus durch die römische Kirche
3.4.1 Der Heilige Geist als Prinzip der Einheit
3.4.2 Ein „Türöffner“ zur vollen kirchlichen Gemeinschaft mit den getrennten Christen
3.5. Die Aporie ökumenischer Handlungsmuster
3.5.1 Papst Franziskus setzt neue Zeichen der Ökumene
3.5.2 Das Zusammenfinden der getrennten Christen als „Imperativ des Handelns“
3.5.3 Das pilgernde Volk Gottes in einer Theologie des Mysteriums
3.6. Differenzen und Lehrverurteilungen
3.6.1 Die Lehrverwerfungsstudie als primärer Kontext
3.6.2 Traditionsdynamik
3.7. Ein gemeinsames Verständnis der Rechtfertigungsfrage
3.7.1 Die Herausforderung der Rechtfertigungsfrage für die Kontroverstheologie
3.7.2 Die Kontroverse der Rechtfertigungslehre im Rahmen von Werk und Gnade
3.7.3 Eine neuekklesiologische Basis der Ökumene
3.8. Das Verhältnis von Sünde und Rechtfertigung
3.8.1 Sündenvergebung und Freiheit – das Wesen der Rechtfertigung
3.8.2 Heilsgewissheit angesichts der Konkupiszenz als gemeinsamer Konsens

Litraturverzeichnis

Einleitung: Die Theologie und ihr geschichtlicher Entwicklungsprozess

Die Theologie, so wie sie uns heute als Wissenschaft vorliegt, ist wie jede andere wissen-schaftliche Disziplin nicht zu verstehen, als ob sie in einem Guss als die „sacrs scientia“ sozusagen vom Himmel gefallen sei. Sie ist das Ergebnis eines langen Entstehungsprozesses, der sich entlang der Menschheitsgeschichte mitentwickelt hat und auch immer weiter mitent-wickelt. Entscheidende Faktoren dabei sind philosophische Strömungen, die Gesellschaft und Politik einer Epoche mit ihren jeweiligen Herausforderungen und damit Anfragen an das christliche Gottesbild. Somit ist Theologie keine in sich geschlossene Wissenschaft, sondern sie hat ihre eigene Geschichte durch die Zeiten hindurch. Sie kann sich demnach dem zeitlichen Kontext nicht verschließen, sondern ist vielmehr aufgerufen, sich dem jeweiligen Zeitgeist zu öffnen, die Perspektive seiner Fragestellung zu erkennen und den Versuch einer adäquaten Antwort zu unternehmen. Der Entwicklungsprozess der Theologiegeschichte ereignet sich im Zusammenspiel von Philosophie, Politik und Gesellschaft. Jede Epoche bringt durch ihren zeitlichen Kontext neue Diskurse hervor, die von den jeweiligen Akteuren aufgegriffen, vertreten und weiterentwickelt werden. Dadurch entstehen neue Formen des Wissens. Der Diskurs über eine bestimmte Problemstellung bezieht sich nicht auf diese allein, sondern er verbindet über sie hinaus Räume und Zeiten, d.h. er versucht an vorangegangene Diskurse anzuschließen, sie miteinzubeziehen, zu analysieren und gegebenenfalls auch weiter zu entwickeln. Somit ergibt sich wieder ein universales Ganzes, das durch einen solchen Fortschritt weiter entwickelt werden kann. Auf die theologische Fragestellung zugespitzt, sind Wissensformen als Konzeptualisierungsfiguren zu verstehen, wie man Erlösung und Heil denken und deuten kann. Erheblichen Einfluss auf die Theologie haben Machtmomente und Autoritäten, welche von außen kommend das Denken durch die geschichtlichen Epochen hindurch immer mitkonstituieren. Die Theologiegeschichte lässt sich aber auch grob durch einzelne Zäsuren unterteilen, welche das Denken einer Epoche markieren und über einen weiten Zeitraum hindurch entscheidend durchdringen und prägen. Die vorliegende Schrift versucht, einige wichtige Schaltstellen der Theologiegeschichte anhand bedeutender Vertreter und Akteure einer Epoche zu skizzieren. Der Schwerpunkt dieser kleinen Abhandlung liegt dabei in der fortentwickelten Geschichte der Theologie, beginnend mit dem zehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart und ist in drei Teilen aufgebaut. Der erste Teil bezieht sich auf die Wissensformen der Scholastik des Mittelalters und der Mystik, der zweite Teil auf die Diskurse der Neuzeit, beginnend mit der Reformation und der Gegenreformation als weitere Zäsuren der Theologiegeschichte. Der dritte Teil behandelt ökumenische Diskurse der Gegenwart. Als Ganzes will dieser kurze Streifzug durch die Theologiegeschichte die Differenzen unter den Diskursen vor dem Hintergrund einer umgreifenden Einheit der Theologie als universitäre Wissenschaft herausarbeiten und im Zueinander darstellen.

Teil I DAS MITTELALTER

1.1. Das Zeitalter der Scholastik

1.1.1 Zur Problematik des Begriffs

Als eine erste Zäsur in der Theologiegeschichte des Mittelalters kann das Zeitalter der Scholastik bezeichnet werden. Mit ihr prägt sich nun ein Lehrsystem in die Geschichte der Theologie ein, das allgemin verbindlich das Denken vom 9. bis zum 15. Jahrhundert grund-legend bestimt. Der Begriff „Scholastik“ hat sich für die Bezeichnung dieser Epoche und damit seiner Denker, die man auch „Scholastiker“ nennt, durchgesetzt. Er ist jedoch nicht ganz unproblematisch. Abgeleitet von scola (Schule) verweist er zunächst auf die Entstehung der Universität mit den ersten Fakultäten. Scholastiker sind so verstanden Personen, welche an Universitäten oder zumindest an Schulen lehren. Damit ist aber nicht berücksichtigt, dass bedeutende Vertreter dieser Tradition wie z.B. Anselm von Canterbury ihre Schriften nicht an Universitäten verfassten, sondern in der Zurückgezogenheit ihres Klosters. Ihr Umfeld ist ein monastisches. Dem eigentlich mittelalterlichen Schulbetrieb gingen also die Kloster- und Kathedralschulen voraus. Der monastische Moment ist dabei also ebenso miteinzubeziehen, wie der universitäre. Allgemein hat sich der Begriff jedoch zur Bezeichnung einer christlich geprägten Wissenschaft im Mittelalter, welche sich durch ein einheitliches System von den antiken Wissenschaften entschieden absetzt, durchgesetzt.

1.1.2 Die Scholastik als einheitliches Lehrsystem

Die Scholastik bezeichnet auf wissenschaftlicher Ebene eine Methode, die bisher überlieferten Lehren und Tradotionen des christlichen Glaubens miteinander in einem einheitlichen Lehr-system zu verbinden und sorgfältig weiterzuvermitteln. Mit dem Aufkommen der einzelnen Wissenschaften an den Universitäten (Jurisprudenz, Medizin, Philosophie) wurde auch das Studium der Theologie strukturiert. Dazu zählten eine Zusammenschau der Schriften von bis dahin bedeutenden Theologen wie Augustinus und Origenes, sowie ausgewählte Texte aus der Heiligen Schrift. Im 12. Jahrhundert stellte Petrus Lombardus mit seinen Sentenzen ein Kompendium der bis dahin geltenden theologischen Lehre zusammen, welche bis zum Konzil von Trient (1545-1563) Grundlage des Theologiestudiums bleiben sollte.

Mit der Scholastik als wegweisendem Epochenbegriff in der Theologiegeschichte wurde der Versuch unternommen, die christliche Theologie mit der von außen an sie herantretenden aristotelischen Philosophie zu verbinden, und so als Wissenschaft auszuweisen. Aristoteles selbst galt als einer der bedeutendsten Philosophen, da er einen systematischen Wissenschaftsbegriff entworfen hat, der zum wissenschaftstheoretischen Maßstab wurde. Als Wissenschaft bezeichnet Aristoteles in seiner Metaphysik demnach die methodische Erforschung eines definierten Gegenstandsbereiches und die argumentative Sicherstellung von diesbezüglichen Erkenntnissen in Form von Wissen. Da Aristoteles (384-322 v. Chr.) ein antiker Denker und daher selbst kein Christ war, seine Lehren aber weiterhin Gültigkeit und Lehrautorität besaßen, musste es darum gehen, das aristotelische Denksystem in die christliche Theologie hinein zu integrieren. Entscheidende Fragen und Problemstellungen werden durch ein streng systematisch angewendetes Prinzip der Logik in Frage und Antwort diskutiert. So entstehen die Lehrmethoden einer kommentierten Vorlesung (lectio) mit der Behandlung von vorliegenden Fragen (questio), welche in den gesammelten Werken, den „Summen“ geordnet und zur Diskussion (disputatio) freigegeben wurden.

Zu Beginn des 13. Jahrhunderts bringen die Dominikaner und die Franziskaner einen enormen Wissenschaftsschub in die Theologiegeschichte mit ein. Sie erhalten Lehrstühle und bringen aus ihrer jeweiligen Perspektive neue Problemstellungen wie etwa die Erfahrung der Armutsbewegungen in den wissenschaftlichen und spirituellen Diskurs mit ein. Darunter zu nennen ist Thomas von Aquin für die Dominikaner und Bonaventura für die Franziskaner. Thomas von Aquin war versucht, durch seine Aristotelesrezeption Anschluss an die intellektuelle Herausforderung seiner Zeit zu finden. Dabei entwickelte sich mit dem „Thomismus“ eine Tradition, die sich auf ihn zurückführen lässt und später in der sogenannten Neuscholastik mit dem Neuthomismus wieder aufgegriffen wird um mit dieser Methode Anschluss an die Herausforderungen des modernen Wissensdiskurses zu finden.

1.2. Anselm von Canterbury

1.2.1 Intellektuelle Mobilität im Frankenreich

Die Zeit um die Jahrtausendwende war gekennzeichnet durch die Raubzüge der Normannen, welche die bis dahin bestehende feudal strukturierte, ökonomische und kulturelle Ordnung im Frankenreich bedrohten. Mit der Neuordnung des Staat und Kirche umfassenden Gemein-wesens durch den Ostfrankenkönig Konrad I. wurden die Normannen, die sich im nord-westlichen Teil des Frankenreiches niedergelassen hatten zu Lehnsherren des Königs. So gestalteten sie den Aufbau eines neuen christlichen Herzogtums mit, woraus sich ein friedliches Zusammenleben ergab. Aus den kriegerischen Raubzügen der Fremdvölker entwickelte sich bald eine auf Frieden und Sicherheit basierende Mobilität sowohl auf den Seewegen als auch auf den Handelsstraßen quer durch das ganze Reich. Diese Dynamik wirkte sich auch auf das damalige Bildungswesen aus. Wissenschaft wurde fortan nicht mehr allein von der weltlichen und geistlichen Obrigkeit geprägt und bestimmt, sondern sie floss in den florierenden Handel mit ein und wurde so wie eine Ware aufgefasst. Der Ort des Wissensaustausches waren wichtige Handelsumschlagplätze. Man kam in den Städten auf den Marktplätzen zusammen und tauschte sich aus. Auf diese Weise gewannen die Kathedral-schulen in den Städten eine immer größere Bedeutung, mit der sie bald die bis dahin vorherrschenden Klosterschulen übertrafen. Diese so entstandene „intellektuelle Mobilität“ im Austausch von verschiedenen Gelehrten während der Durchreise in den Bibliotheken der Kathedralschulen führte bald zu einem regen Austausch von Angebot und Nachfrage von Lehrenden und Lernenden auf der Suche nach neuen Kenntnissen. Die Kathedralschulen waren die Vorform der später entstandenen Universitäten.

1.2.2 Die Begegnung verschiedener Wissensformen zur Zeit Anselms

Der im Jahr 1033 in Aosta geborene Anselm war geprägt von der Begegnung theologischer und philosophischer Wissensformen. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren verließ er seine heimat und zog als Scholar durch Frankreich, wo er schließlich beeindruckt von der Person des Magisters Lafranc 1059 im Kloster Bec ankam, in das er ein Jahr später eingetreten ist. Mit der Annahme des benediktinischen Mönchsideals der stabilitas loci beendete Anselm sein Eremitendasein und lebte fortan als Mönch der Abtei Bec. Sein Talent in den Disziplinen der Logik und analytischen Sprachphilosophie blieb Lafranc nicht verborgen. Bereits drei Jahre später wurde Anselm Prior des Klosters und nach fünfzehn Jahren schließlich Abt. In dieser Zeit entstanden seine berühmtesten Wrke: Das Monologion und das Proslogion.

Anselms intellektuelles Umfeld war bestimmt durch ein Konkurrenzverhältnis philosophi-scher und theologischer Denkmuster. So zum Beispiel in Bezug auf die Schöpfungslehre. Die Philosophie der Antike bietet hierzu weitaus ältere Konzepte über die Entstehung der Welt als die durch das Christusereignis entstandene christliche Glaubensanschauung zur Schöpfung. Die Philosophie ist als eigenständige Wissensform unabhängig von der christlichen Lehre. Es kommt zur Konfrontation. Die Folge ist ein Reformieren, bzw. Erweitern des Gottesglaubens mit philosophischen Begriffen. Das bedeutet zunächst eine Auseinandersetzung der christlichen Glaubenslehre mit einem anderen Typ von Rationalität. Damit fließen philosophische Elemente in die Gotteslehre ein, die sich dadurch intellektuell weiterent-wickelt und entfaltet.

1.2.3 Die Metapherntheorie als intellektuelles Instrument der Gottesrede

Ein wichtiger Kernpunkt der Theologie Anselms war die Trinität. Diese musste sich in der Konfrontation etwa in der islamisch geprägten Kultur und Philosophie in ihrer Rationalität neu verantworten und ihr Verhältnis zu Tritheismus und Montheismus entsprechend darlegen. Aus islamischer Sicht wurde die christliche Trinität als eine Lehre von drei Göttern wahrge-nommen, was im Gegensatz zum wahren Ein-Gott-Glauben aufgefasst wurde. Bei diesem Problem findet ein Austausch auf einer intellektuellen Ebene statt, der die Mehrdeutigkeit von Begriffen aufweist. So ist in dieser Hinsicht nun der „Vater“-Begriff in seiner Hermeneutik zu differenzieren. Dabei sind nun die vielen unterschiedlichen Konnotationen der verschiedenen Völker und ihren kulturellen Traditionen miteinbezogen. Patriarchale Strukturen einer Kultur wirken sich auf ihr Denken und ihr Gottesbild aus. Die Bezeichnung des „Vaters“ kann also sowohl mit alleinherrschender macht, als auch mit liebend für-sorglicher Zuwendung verbunden werden. Es bilden sich im Denken also auch patriarchale Machtverhältnisse einer Kultur ab.

Anselm führt daher die verschiedenen Zugänge im Gottesverständnis auf die jeweiligen Metaphern einer Kultur zurück, die sich voneinander unterscheiden können. Die Metapher ist dabei für ihn ein Weg zur logischen Einsicht und Erkenntnis in metaphysischen Fragen. Auf diese Weise erklärt er die Vereinbarkeit von Geschenk des Glaubens und seiner rationalen Verantwortung. Im Monologion erklärt er so den Zusammenhang von Einheit und Vielheit im innergöttlichen Verhältnis von Vater und Sohn. Der Sohn kann demnach aus sich selbst bestehen, obwohl er sein Sein vom Vater hat, so wie die Weisheit eines Schülers sich elementar von der Weisheit seines Lehrers her verdankt, selbst jedoch eine eigene Existenz hat.[1] Das Erklärungsmuster für dieses transzendente Verhältnis ist das Bild von Schüler und Lehrer in der Weise wie sich ihr jeweiliges Wissen einander verdankt.

Unser ganzes Denken ist nach Anselm also metaphorisch gerahmt. Wir haben für alle möglichen Sachverhalte ein bestimmtes Bild, über das wir diese erschließen und letztlich für uns erklären können. Dies lässt sich auch auf das Verhältnis der Realpräsenz Gottes in der Eucharistie anwenden. Über das Bild von Brot und Wein, als Nahrungsmittel, kann ich im Glauben erfassen dass und vor allem in welchem Verhältnis Gott darin greifbar wird. Es wird also hier versucht, die transzendentale Wirklichkeit in für den einzelnen alltäglichen Bildern zu deuten und zu erklären. Dabei wird vor allem auch die Sprache eingesetzt um die letzte Wirklichkeit abzubilden, sie für uns einsichtig zu performieren. Das Bild der Hostie ist während der Wandlung zunächst bildhaftes Zeichen für die Realpräsenz Gottes, deutet aber zugleich auf deren greifbare Wirklichkeit hin. Das Erfassen dieser Wirklichkeit vollzieht sich im Glauben, der aus Gnade geschenkt ist. Er ist kein Eigenprodukt, daher auch nicht etwa die eigene Projektion. Dennoch bedarf es aber der eigenen Zustimmung, da es ja gerade auch mein ganz persönlicher Glaube ist, den ich da erfasse. Die Erkenntnis dieser Wirklichkeit vollzieht sich also im eigenen Bewusstsein und Verstand.

1.2.4 Die Ebenen von Denken und Denknotwendigkeit im ontologischen Gottesbeweis

Der bekannte ontologische Gottesbeweis von Anselm in seinem Proslogion ist über die Differenz dieser beiden Ebenen von Wirklichkeit und Bild zu verstehen. So ist Gott das höchste Wesen oder „das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“ (id quo maius cogitari non potest; iqm). Der Mensch hat demnach die Fähigkeit, durch die Fähigkeit der ständigen transzendentalen Erweiterung seiner Gedanken, ins Unendliche zu denken. Das Potential des menschlichen Geistes ist unendlich. Gott selbst als iqm kommt aber in dieser unendlichen Bewegung des Menschen nicht vor. Er ist nicht etwa das Ziel oder das Ende dieser unendlichen Gedankenbewegung. Gott lässt sich hier nicht in menschliche Denkstrukturen unterordnen, sondern er fällt subjektiv in das Denken ein. So beginnt Anselms ontologischer Gottesbeweis mit einem Gebet mit der Bitte um Einsicht und mündet davon ausgehend in eine rationale Argumentation.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Begriff des iqm existiert im Geist, also in der Vorstellungskraft des Menschen (in virtu). Die Existenz des Geistes aber wiederum kann mit Gewissheit als Wirklichkeit angenommen werden (in re). Das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, umgreift jedoch die Tatsache und die Vorstellungskraft von vornherein. Es findet sich nicht als Ergebnis der unendlichen Gedankenbewegung, sondern als deren Voraussetzung. Somit ist das iqm als die Differenz zwischen dem was ist und dem was denknotwendig ist zu begreifen und muss daher existieren. Da das iqm im realen Verstand („in intellectu“) existiert, der zu diesem Gedanken fähig ist, muss es konsequenterweise auch in der Wirklichkeit „in re“ existieren. Diese Folgerung ist denknotwendig, denn wenn es in Wirklichkeit etwas gäbe, was das iqm übersteige, würde das wiederum die Existenz des menschlichen Geistes widerlegen.

Anselm versucht hier die Existenz Gottes als Konsequenz logischen Denkens aufzuzeigen. Die Richtung ist hier umgekehrt. Er beobachtet das Vorhandensein jener höchsten Idee im denkerischen Bewusstsein und Verstand des Menschen und fragt von seiner Beobachtung ausgehend nach der Bedingung der Möglichkeit dieser Erscheinung. Die darin gewonnene Erkenntnis beschließt Anselm dann mit einem Gebet, indem er Gott dafür dankt, dass er ihm diese Erkenntnis ermöglicht hat.

1.2.5 Die Veranschaulichung durch Künstler und Bild

Man kann diesen Schluss Anselms auf die Existenz Gottes auch mit einem Bild eines Künstlers nachvollziehen. Ein Künstler, der sich etwas als etwas vorstellt, entwirft ein Bild. Für das Zustandekommen dieses Bildes bedarf es einer Anschauungsform, die in der Vorstellung des Künstlers schon existieren muss, bevor sie im Werk umgesetzt wird. Kunst ist daher nicht die Abbildung der Wirklichkeit, sondern die Abbildung der Wirklichkeit als etwas. Der Prozess der Entstehung hat etwas dialogisches und ist ein Weg von Entfremdung bis zur Vollendung. Weil nun aber die Vollendung im Bild existiert, muss auch der dazu führende Entstehungsprozess real sein.

1.3. Petrus Abaelard

1.3.1 Rationalisierungsschübe durch das Aufkommen verschiedener Autoritäten

Das elfte und zwölfte Jahrhundert war bestimmt durch die Ausprägung der scholastischen Denkformen. Dabei gingen griechische Philosophie und christliche Theologie zumeist eine fruchtbare Symbiose ein, woraus sich dann die scholastische Lehre der lateinischen Kirchen-väter herausbildete. Bis dahin vollzog sich aber ein Prozess. Ausgangspunkt dafür waren massive Pluralisierungseffekte im Rahmen einer ständig voranschreitenden Urbanisierung. So traten mit dem Aufkommen der Lehren der griechischen Philosophen Autoritäten auf, welche eine Wahrheit vertraten, die unbestreitbar war, aber ihrer Herkunft nach nicht christlich. Es musste nun also darum gehen, diese von außen kommenden Autoritäten in die christliche Lehre, die sich selbst als die letzte Wahrheit verstand, zu integrieren. Das ging einher mit einer bestimmten Ausdifferenzierung von Sphären. Die Bereiche der bis dahin geltenden empirisch nachprüfbaren Ebenen und der mystisch-spirituellen Sphäre verlagerten sich dadurch. Dies ging in etwa auch aus dem Streit zwischen Bernhard von Clairvaux und Petrus Abaelard auf der Synode von Sens (Pfingsten 1141) hervor. Wilhelm von St. Thierry beschuldigt in seiner Disputatio adversum Petrum Abaelardum im Jahr 1140 Abaelard, den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens in Frage zu stellen und auf eine bloße Meinung zu reduzieren. Der Glaube würde dadurch zu einem bloßen Für-wahr-Halten, das keiner weiteren Begründung bedarf. Es beginnt der Diskurs über die „Verwissenschaftlichung“ des Glaubens. Das elfte Jahrhundert wird in diesem Bezug zu einer Schaltstelle. Es geht um Verhältnisbestimmungen. Wegweisend ist dabei auch das Aufkommen des Universalien-streites, aus dem der Nominalismus hervorgeht. Damit verbunden war die Frage, wie kann ich die Welt verstehen? Das bedeutet für den bloßen religiösen Glauben zunächst einen massiven Relativierungs- und Rationalisierungsschub. Die von außen kommenden philosophischen Gedankengänge enthalten eine Wahrheit, die man anerkennen muss und werden dadurch zu richtungsweisenden Autoritäten für den weiteren Verlauf der Theologiegeschichte, aus denen sich neue Wissensformen ergeben.

1.3.2 Die offenen Grenzen der Vernunfterkenntnis auf die Deutung der Welt hin

Mit den Rationalisierungsschüben der christlichen Glaubenslehre, welche sich durch das Einfließen antiker philosophischer Denkmodelle ereignen, ordnen sich die Deutungsebenen neu. Die Frage der Trinität etwa, welche sich bisher nur auf den Bereich des Glaubens bezog, musste nun auch rational zugänglich gemacht werden, um sie weiterhin verantworten zu können. Sie ist demnach nicht nur mehr ein dogmatisches Faktum des Glaubens, an das man sich aus Ehrfurcht vor dem innergöttlichen Geheimnis nicht heranwagt, sondern ein Inhalt des Glaubens, dem eine ganz bestimmte Bedeutung zugesprochen wird. Neben die Frage nach der Existenz Gottes, welche nur mit der Zustimmung des Glaubens hinreichend beantwortet werden kann, tritt nun die Frage nach der Bedeutung Gottes für den Menschen. Die Seinsfrage wird zur Deutungsfrage. Damit einher geht auch ein existenzielleres Erfassen der Wirklichkeit Gottes. Abaelard greift dabei auf die lex naturalis – das natürliche Gesetzt – zurück, welches jedem Menschen eingeprägt ist. Das bedeutet, dass jeder Mensch von Natir aus die Fähigkeit zum Vernunftgebrauch besitzt. Das bedeutet, dass jeder Mensch von Natur aus die Fähigkeit zum Vernunftgebrauch besitzt. Mit dem Naturgesetz fließt ein antiker Begriff aus der Tradition des Platon und Aristoteles in die christliche Theologie ein, welcher diesen in ein Verhältnis zur Vernunft des Menschen stellt und die Glaubensinhalte deutet. Die Fähigkeit dieses Naturgesetz zu erkennen ist in jeden Menschen, durch die Tatsache, dass er ein geistbegabtes Wesen ist, elementar vorhanden. Das wiederum wirkt sich auf seine Verantwortung in der Sündenlehre aus. Auch im Römerbrief-Kommentar wird das natürliche Sittengesetz zugeordnet und dem Inhalt nach mit dem Kerngebot der Gottes- und Nächstenliebe im Sinne der „Goldenen Regel“ identifiziert. Die Erkenntnis, andere so zu behandeln, wie man auch selbst von ihnen behandelt werden möchte, ist also ein natürliches Sittengesetz, das jedem menschlichen Wesen einsichtig ist. In Bezug auf die Gottesfrage aber muss erkannt werden, dass dem menschlichen Verstand Grenzen gesetzt sind, da es Dinge gibt, welche diesen übersteigen. Aus dieser Perspektive wird nun Offenbarung gedeutet.

Seinsfrage Deutungsfrage

Ist Gott? Was bedeutet Gott?

Wirklichkeit Gottes? Differenz von „signum“ und „res“

Inkarnation Gottes? Was bedeutet es an diesen Gott zu glauben?

Der Weg hin zu einem rational angemessenen Verhältnis von Offenbarung und Eschatologie (also die Inhalte des Glaubens) geht einher mit der Erfahrung, dass die Welt in ihrem innersten auf Liebe hin ausgelegt ist. Diese ist ihre innere Disposition. Wo aber wird diese erfahrene Liebe, welche die natürlichen Strukturen der Welt durchzieht, konkret, wo ist sie angelegt und wo zeigt sie sich? Diese Frage lässt sich nun nur aus der Offenbarung heraus beantworten, aus der hervorgeht, dass Jesus Christus die historisch fassbare Konkretisierung dieser universal erfahrbaren Liebe in der Welt ist. Da die Fähigkeit des Menschen, Gott zu erkennen, begrenzt sind, braucht es zu seiner Vollendung den Glauben, durch den das eschatologische Heil erfahrbar gemacht und seine Bestimmung gedeutet werden kann.

Abaelard sieht darin nun etwa den Vorrang des christlichen Glaubens gegenüber der rein philosophischen Lehre, vielleicht auch ein wenig aus lebenspragmatischer Hinsicht. Demnach ist die philosophische Lehre über das Naturgesetzt, das in jedem Menschen angelegt ist, nur auf das irdische Leben anwendbar und bleibt dadurch unvollendet. Es ist letztendlich nur ein rein theoretisches Konstrukt, da erfahrungsgemäß menschliches Leben immer wieder misslin-gen kann. Die Vollendung menschlichen Lebens durch die Offenbarungsinhalte, welche jede Erkenntnis übersteigen, deuten alles neu und geben jeder Existenz Sinn. Der Glaube ist in gewisser Hinsicht also (heils-)notwendig.

Umgekehrt sieht Abaelard in seiner oft skeptisch betrachteten Verwissenachaftlichung des Glaubens durch die Mittel der Dialektik gerade nicht eine empirische Vergegenständlichung der Offenbarungsinhalte, sondern die Wahrung ihrere Geheimnishaftigkeit. Dadurch, dass sie das Leben deuten kann nur aus dem Geheimnis des Glaubens heraus die richtige Einstellung einer Haltung in ständiger Ehrfurcht und Demut auf Gott hin gewonnen werden, ohne dies philosophisch und ethisch hinreichend begründen zu müssen.

1.4. Johannes Scottus Eriugena

1.4.1 Ein irischer Gelehrter zieht ins Westfrankenreich

Ein bedeutender Vordenker und Wegbereiter der Scholastik war der aus Irland stammende Gelehrte Johannes Scottus Eriugena (vor 820 – nach 877). Er wanderte ins Westfrankenreich aus und war dort am Hof Karls des Kahlen Hofdichter und Lehrer der artes liberales, der sieben freien Künste. Darunter zählte man zur Zeit des frühen Mittelalters die Disziplinen eines aus der Antike entnommenen Kanon bestehend aus Rhetori, Grammatik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Im mittelalterlichen Lehrwesen galten diese Disziplinen als Vorbereitung auf die Fakultäten Theologie, Jurisprudenz und Medizin. Nach den Wirren der Völkerwanderungen und der Merowingerzeit auf dem europäischen Festland zielte man am karolingischen Hof darauf ab, im Bildungswesen wieder Anschluss an die überlieferte Traditionen der Antike zu finden. Durch seine ausgeprägten Griechischkenntnisse wurde Johannes Scottus Eriugena in weiten Kreisen der Bildungsschicht bekannt, indem er vor allem als Kommentator und Übersetzer einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung des griechischen Gedankenguts im lateinischsprachigen Bildungswesen des Westens leistete. Eriugena stärkte damit den Einfluss des Neuplatonismus in der abendländischen Geistesge-schichte. Er war einer der ersten Denker, welche den Versuch unternahmen, die Heilige Schrift allegorisch und nicht historisch auszulegen. Seine Thesen wurden daher von der kirchlichen Autorität mehrfach verurteilt.

1.4.2 Der neuplatonische Einfluss bei Eriugena in der Frage nach der Prädestination

Eriugenas neuplatonisches Denken wird in seinem Gutachten De divina praedestinatione – über die göttliche Prädestination deutlich. Anlass dafür waren die Thesen des Theologen Gottschalk von Orbais über die doppelte Prädestination (gemina praedestinatio). Gottschalk war der Auffassung, dass Gott jeden einzelnen Menschen von Anfang an entweder für den Himmel oder für die Hölle vorherbestimmt hat. Somit könne man dem bereits festgelegten Schicksal ohnehin nicht entgehen. Diese radikal deterministische Ansicht lässt sich jedoch nicht vereinbaren mit der kirchlichen Lehre über den freien Willen. Ihr zur Folge sei das Schicksal des einzelnen Individuums Gott durch sein Vorauswissen zwar schon bekannt, es ist aber nicht Ergebnis einer „Vorentscheidung“ Gottes, sondern des freien Willens eines jeden Einzelnen. Gottschalks Rede von einer göttlichen Vorherbestimmung einer jeden mensch-lichen Existenz widersprach der allgemein kirchlichen Lehre und machte ihn zum Häretiker. Gottschalk wurde nach seinem öffentlichen Auftreten in Lehre und Predigt seiner Thesen auf Veranlassung des zuständigen Erzbischofs Hinkmar von Reims wegen Häresie verhaftet. Hinkmar wollte diese seine Maßnahme theologisch legitimiert wissen und wandte sich darauf an den König mit dessen Einvernehmen er den als Fachmann für Logik und Dialektik bekannten Hofgelehrten und Theologen Eriugena beauftragte, ein Gutachten zu erstellen.

Wie vom Auftraggeber Hinkmar gewünscht, kam Eriugena in seinem Gutachten zu dem Ergebnis. Dass Gottschalks Standpunkt unlogisch und daher auch häretisch sei. Mit der Art und Weise aber, wie er zu diesem Schluss kommt, provozierte er seinen kirchlichen Auftraggeber Hinkmar, da seine Argumentation neuplatonisch war. Eriugena beließ es nicht allein bei den Argumenten zur Widerlegung der Position Gottschalks, sondern erstellte darüber hinaus seine eigene neuplatonische Argumentationslinie, ohne dass das Gutachten dies erfordert hätte. So deutete er den Sündenfall, das Jünste Gericht und die Bestrafung der Verdammten in der Hölle nicht etwa als äußerliche objektive Vorgänge in der Heilsge-schichte, sondern sah darin rein subjektive Erlebnisse, die sich im Bewusstsein der be-troffenen Individuen ereignen. Das Höllenfeuer etwa versteht Eriugena nicht als ein physisches Leiden, das Gott den verlorenen Seelen in der Hölle zufügt – so wie es damals allgemeiner Glaubenskonsens war – sondern eher als eine psychische Qual, die der Betroffene sich selber ständig zufügt, indem er einerseits weiterhin sein wahres Glück anstrebt, andererseits aber nicht von seinen böswilligen Gewohnheiten loskommt, die ihn daran hindern, dieses Ziel zu erreichen. Es ist eine Qual des ewigen Widerspruchs und einer ständigen inneren Zerrissenheit. Das von Gott trennende und unvollkommene Moment bleibt bestehen. Gegen das Argument einer Vorherbestimmung zur Verdammnis durch Gott wendet Eriugena ein, dass diese mit dem Gedanken der Einfachheit Gottes unvereinbar sei. Weil Gottes Wesen eines und einfach sei, kann es keine doppelte Vorherbestimmung geben. Für Eriugena hat das Böse an sich keine Existenz, sondern ergibt sich aus der Differenz der Unvollkommenheit auf Gott hin. Gott selber könne daher nicht ein Übel wollen oder herbeiführen. Aufgrund seiner Nichtexistenz könne er das Über nicht einmal kennen! Da Gott Existenz ist, das Übel aber nicht, kann das Übel in Bezug auf Gott gar nicht in Frage kommen. Daher kann Gott selbst niemanden bestrafen und eine Bestrafung auch nicht vorherbestimmen. Eriugena widerlegt das Prädestinationsargument auch zeitdimensional, indem er von Gott als einer Größe spricht, die in ihrer Einheit und Einfachheit Raum und Zeit transzendiert. Eine so raum-zeitlich verstandene Vorher bestimmung ist daher ausgeschlossen.

1.4.3 Eriugenas Bemühen um die Einheit von Gottesgelehrsamkeit und Weltweisheit

Das Hauptanliegen Eriugenas war es die Einheit von Gottes Gelehrsamkeit und Weltweisheit, von Theologie und Philosophie herauszustellen. So wie er Gott als Einfachheit begriff, dachte er auch in Bezug auf die Vereinbarkeit von Glaube und Welt. Mit diesem modernen Ansatz war er seiner Zeit weit voraus. Eriugena entwickelte in seiner Methodik ein Beweisverfahren, in dem er in der Schritten vorgeht:

1. Nachweis einer zu überprüfenden Behauptung auf ihre Rückführbarkeit auf die Heilige Schrift, als die Quelle aller Wahrheit überhaupt.
2. Anwendung der Logik um die Aussage einer diesbezüglichen Bibelstelle in einem allgemeinen Sinn widerspruchsfrei und konsequenter Deduktion zu dieser zu erfassen; Allgemeingültigkeit und logische Darlegungsform als Wahrheitskriterien.
3. Feststellung der Übereinstimmung der für wahr befundenen Aussagen mit den Lehren der Kirchenväter und Ableitung der theologischen Unbedenklichkeit.

Mit diesen drei Schrittenzur Überprüfung von Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt hin, entwirft Eriugena eine erste allgemeine, eigenständige und unabhängige Methodik im Beweis-verfahren. Im frühen Mittelalter war es bisher üblich, verschiedene Behauptungen und Thesen mit einem einfachen Beweis gemessen an der Vereinbarkeit mit den entsprechenden Autoritäten zu rechtfertigen oder zu verwerfen. Ausschlaggebend war bei der Beurteilung, ob die jeweiligen Aussagen den autoritären Größen der Bibel, Kirchenväter und Konzilien entsprachen oder nicht. Eriugena jedoch hält diese Art der Beweisführung allein am Maßstab der Autorität für unzureichend. Eriugena war es wichtig, zunächst die Absicht einer Aussage herauszustellen und dann erst nach ihrem Sinn zu fragen. Er ordnet die Autoritäten einer allgemeinen Wahrheitsinstanz unter. Dies wurde zu seiner Zeit als revolutionär und anstößig empfunden. Eriugena hält zwar am Autoritätsbeweis fest, jedoch nur als letzten Schritt, der ein von ihm vorausgehendes Urteil, das bereits durch eine andere (allgemeine) Instanz der Wahrheitsfindung getroffen wurde, nur noch abrunden und abschließen soll. Mit dieser Vorgehensweise liegt das Hauptwerk der Wahrheitsfindung nun auf dem inhaltlichen Argumentationsverfahren nach logischen Prinzipien. Die zentrale Bedeutung der Berufung auf Autoritäten ist damit erheblich eingeschränkt.

1.4.4 Das Vermächtnis Eriugenas in seinem Hauptwerk „Periphyseon“

Als Kompendium von Eriugenas Denken kann man sein Hauptwerk Periphyseon bezeichnen. Das Werk ist wahrscheinlich zwischen 864 und 866 entstanden und trägt den kennzeichnen-den griechischen Titel Περι φύσεων („über die Naturen“). Unter dem Begriff „Natur“ versteht Eriugena nicht nur die Schöpfung, sondern die gesamte Wirklichkeit und damit auch Gott. Das Werk gliedert sich in fünf Bücher und handelt über die im Kosmos bestehende Weltordnung und das verhältnis von Schöpfung und Schöpfer. Die Bücher präsentieren sich in Dialogform als Gespräch zwischen Lehrer (nutritor) und Schüler (alimnus). Eriugena geht im Periphyseon, ähnlich wie in seinem Prädestinationsgutachten, mit seinem exegetischen Dreischrittverfahren vor. Nachdem er in den ersten beiden Schritten von dem Wortlaut einer biblischen Schriftstelle ausgehend auf deren allgemeingültigen Gehalt schließt, führt er die Lehren der Kirchenväter an, um seine getroffenen Aussagen im Konsens der kirchlichen Autorität legitimieren zu können.

In den ersten drei Kapiteln des Buches Genesis diagnostiziert Eriugena vier Befindlich-keiten des Menschen. Die erste Befindlichkeit ist das Dasein des glückseligen Menschen im Paradies, der Gott liebt. Darauf folgt der Sündenfall, da der freie Mensch auf die ihm angebotene Gotteserkenntnis verzichtet. Das führt zur Vertreibung aus dem Paradies als dritter Befindlichkeit, die Eriugena als Beschränkung auf die rein weltlichen Wissensformen interpretiert. Die vierte und letzte Befindlichkeit des Menschen sieht Eriugena in der Ankündigung der Erlösung und endgültigen Widerversöhnung mit Gott, die er aus dem Genesistest bereits herausliest. Diese ist die Wiedergewinnung der allein glücklich machenden Gotteskenntnis, die als definitiver und letzter Heilszustand zu verstehen ist. Die Deutungen seiner in vier Etappen eingeteilten Menschheitsgeschichte ist biblischen Ursprungs und gleichsam auch Ausdruck seiner Kosmologie und Anthropologie. Der neuplatonische Hintergrund diese Gedankens lässt sich dabei sehr gut nachvollziehen. Es ist eine dynamische Ontologie , die sich in einem Hervorgang (processio) und einer Rückkehr (reditus) ereignet. Die Wirklichkeit lässt sich einstufen in Seinszustände, die sich gemessen an ihrer Nähe zu einer obersten absolut vollkommensten Seinstufe jeweils unterschiedlich bewerten lassen. Eriugena geht von einer einfachen Gottheit aus, aus der die mannigfaltige Welt stufenweise hervorgeht und gleichsam in einer Gegenbewegung wieder zu ihrem Ursprung in der Einfachheit Gottes zurück strebt Sein Hauptwerk Periphyseon fasst die Gedankengänge Eriugenas in ihrer Aussage wie sein Vermächtnis einprägsam zusammen.

1.5. Mechthild von Magdeburg

1.5.1 Armutsbewegungen im Mittelalter

Mit Mechthild von Magdeburg (um 1207 – 1282/84) setzte eine neue Form des theologischen Diskurses ein. Diese steht in engem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Strukturen des 13. Jahrhunderts. Mechthild wird um 1207 geboren und stammt aus einer der zahlreichen Burgen im Umland Magdeburgs. Als junges Mädchen genießt sie die Privilegien des Adels in Form von Finanziellem Reichtum, Kleidung, Nahrung aber auch profaner und religiöser Bildung. Sie steht damit ganz oben an der Spitze des mittelalterlichen Ständedenkens. Da ihr in ihrem Stand die Bildung nicht verwehrt blieb, kam Mechthild mit der Literatur, der Sprach-kunst und Rhetorik in Berührung. Eine wichtige Rollespielte dabei auch der Minnegesang, den Mechthild später in ihrer poetischen Gottesrede nutze.

Die Schattenseite dieses ihres Lebens auf der Burg war die Abstufung der Ständegesell-schaft in niedere Stände in einem Verhältnis von Abhängigkeit und Leibeigenschaft. Die Lebensbedingung der niederen Stände waren geprägt von Arbeitszwang, Ausbeutung und Elend. Dies wurde aber im Ständedenken dieser Zeit als selbstverständlich und legitim angesehen. Gegen diese Zustände entwickelte sich schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts die Armutsbewegung heraus. Mechthild war von ihr berührt. Sie sah ihr Vorbild in der Heiligen Elisabeth von Thüringen, die ebenfalls adeliger Abstammung war und sich entgegen dem Ständedenken der damaligen Zeit für die Armen einsetzte. In ihr sah Mechthild eine Botin Gottes, die zu den reichen Frauen gesendet wurde, um die ungerechten Verhältnisse zu durchbrechen. Der Überfluss an Reichtum, die Eitelkeit und Unkeuschheit an den Burgen der damaligen Zeit wurden zu Kampfbegriffen der Armutsbewegung. Das Anliegen dieser Bewegung war eine Rückbesinnung auf das Evangelium. Diese orientierte sich gegen die damals vorherrschende ökonomische Ordnung. Die Reichtümer, die durch den landwirtschaftlichen Wachstum und den Fernhandel nur einigen privilegierten Ständen zur Verfügung standen, provozierten ein Gefühl der Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Das führte dazu, dass immer wieder Menschen verschiedenster kultureller Herkunft aus den vorgegebenen Lebensbahnen ausbrechen um die Ungerechtigkeit der Ständegesellschaft zu durchbrechen, um mitten unter den Armen die Armut des Evangeliums zu leben. Ähnlich wie Franziskus von Assisi und Elisabeth von Thüringen verlässt auch Mechthild ihre elterliche Burg, die damals für Macht und Herrschaft stand, und suchte einen Ort auf, an dem sie die Armut des Evangeliums in einer authentischen Weise leben kann. Entgegen dem vorherrschenden Diskurs der Ökonomie, demzufolge Freiheit und Glück und die wahre Freiheit im Verzicht auf Reichtum liegt. Die wichtigste Ressource aus der die Armutsbewegung lebt ist nicht das Geld, sondern die Liebe zu Gott und dem Nächsten als Kern des Evangeliums. Das damals allzu mächtige Monopol des Geldes als glücklich machendes Kriterium sollte durch die Bewegung so durchbrochen werden. Damit ist auch ein Weg beschritten hin zu einem mündigen Bürgertum.

1.5.2 Die Armut als förmlicher Ort von Offenbarung

Mit der Armutsbewegung entstand eine neue Form der Theologie. Dabei handelt es sich um eine Theologie, die sich aus der Gesellschaft heraus entwickelt hat. Sie hat ihren Ursprung nicht etwa bei den Gelehrten in den Domschulen und Universitäten, sondern gründet in der Erfahrung der breiten in Armut und Elend lebenden Gesellschaftsschicht. Sie ist nicht allein Sache der Scholastiker, also von Männern, die des Lateinischen mächtig sind, sondern wird auch vertreten von Frauen, die in ihrer Volkssprache über Gott reden. Ein wesentliches Medium dafür ist etwa der mittelalterliche Minnegesang. So findet sich eine Theologie der Armut vor. Es ist eine Theologie aus der Mitte der Gesellschaft.

Die Armut hat hier eine entscheidende Funktion. Sie ist zunächst das Medium, wodurch die Theologie arbeitet. Das bedeutet nicht, dass sie eigentlicher Gegenstand, bzw. Thema einer solchen Theologie ist, sondern der Raum, in dem sich diese Theologie vollzieht. Die Armut hat sich hier also nicht zum Selbstzweck (das wäre hier Götzendienst), sondern sie wird zum förmlichen Ort der Offenbarung. Als solcher ist sie ein locus theologicus, von dem heraus das Evangelium verkündet wird.

1.5.3 Das sprachtheologische Konzept der performativen Gottesrede

Mechthild ist durch ihre Bildung bewandert in Kenntnissen der Heilugen Schrift. Diese wendet sie mehrfach in ihren Werken an und bezieht sie auf die Situation der Gegenwart. Dabei wird ein sprachtheologisches Konzept angewendet: performatives Sprechen. Die biblischen Erzählungen werden in einem Bibliodrama, in das die Zuhörer direkt mithinein-genommen werden, vergegenwärtigt. Analog zum Evangelium, indem Jesus in Gleichnissen spricht und Metaphern aus dem Alltagsleben der Menschen wie etwa das vom Senfkorn und dem Sauerteig (vgl. Mk 4, 30 – 32; Lk 13, 18 – 21) verwendet, um dadurch das Reich Gottes zu veranschaulichen und zu vergegenwärtigen, wird in und durch die Verhältnisse der gegenwärtigen Armut das Kommen des Reiches Gottes veranschaulicht. Die bildhafte Sprache ist dabei ein eigener Zugang, die Wirklichkeit Gottes für uns erfahrbar zu machen. Die Primäradressaten werden dadurch direkt in ihrer Situation der Armut angesprochen.

Mechthilds Hauptwerk mit dem Titel „Das fließende Licht der Gottheit“ ist geprägt von einer umgänglichen deutschen Sprache. In ihrer Gottesrede wendet sie die Methodik der Minne an. Dabei stehen sich immer wieder Seele und die Liebe der Gottheit in einem dialogischen Austausch gegenüber. Die Art der Rede ist eine zutiefst sinnliche, nahezu erotische Metaphorik. Das Gebet wird beschrieben als ein wechselseitiger, hingebungsvoller Austausch von menschlicher Seele und göttlicher Liebe. Diese vereinen sich einander in einer unio mystica.

Dieser übersinnliche, transzendentale Vorgang wird veranschaulicht auf einer persönlichen, zwischenmenschlichen Beziehungsebene. Dies wird deutlich in Mechthilds Hauptwerk, wenn sie von der Liebe als „Frau Minne“ schreibt, die den Menschen („Königin Seele“) vieles, wenn nicht sogar alles raubt und arm macht – dafür aber Reichtümer ganz anderer Art schenkt. Das Bild von der Liebe als „Räuberin“ ist wohl die radikalste Form der Darstellung. Die Macht der Liebe – worunter sie Gott, bzw. Christus versteht, ist so groß , dass sie ihrem Objekt, der „Königin Seele“, den eigenen Gegenstand entzieht und so in der unio mystica vereinnahmt. Die Seele kann sich nur noch aus dieser Liebe heraus begreifen. Das ist ein entscheidendes Moment der Mystik des Mittelalters. Das grundwort der Mystiker kann man daher kurz so ausdrücken: „Nicht ohne Dich – nicht ohne.“

1.6. Johannes Duns Scotus

1.6.1 Die Aristoteles-Rezeption und ihre Folge für ein neues Theologieverständnis

In der Mitte des zwölften Jahrhunderts erfährt die Aristoteles-Rezeption eine Renaissance, insbesondere bei den jüdischen und islamischen Denkern. Die auf Heil und Offenbarung gründende christliche Weltsicht wird konfrontiert mit einer allein auf Erfahrung, Vernunft, Begriff und Argument basierenden wissenschaftlichen Weltsicht. Diese greift zurück auf die nikomachische Ethik des Aristoteles und ist daher als eine Weltsicht zu verstehen, die sich aus allgemeinverbindlichen Werten zusammensetzt und dabei ohne die Termini von Glaube und Gnade auskommt. Das „Heil“ wird nicht in einer transzendenten Dimension gesucht, sondern besteht im rechten ethischen Verhalten. Die Frage nach der Offenbarung und einer christlichen Eschatologie wurde daher in ihrer Autorität stark beschnitten. Der Diskurs war daher nun philosophisch zu führen. Wie Aristoteles in seiner Wissenschaftstheorie betonte, ist dem Menschen ein Zugriff auf das Gesamte der Wirklichkeit nicht möglich. Dieses kann nur durch das Zueinander mehrerer verschiedener wissenschaftlicher Perspektiven erfasst werden. Das bedeutet für die Theologie, dass sie fortan nicht mehr wie bisher als das Wissen aufgefasst werden kann, das die anderen profanen Wissenschaften, so wie sie aus den sieben freien Künsten hervorgehen, in sich integriert und gleichsam übertrifft, sondern als ein Zusammenschluss verschiedener (Glaubens-)Sätze, die sich aufeinander beziehen. Es werden dabei allgemein verbindliche methodologische Vorgänge der Wissenschaft angewendet, anhand derer die Theologie als Wissenschaft mit den anderen Wissenschaften kommunizieren und sich in den allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs einbringen kann. Eine Theorie, die zu dieser Zeit vorherrschend war, ist die der Universalität des Seins. Für den weiteren Verlauf der Geistesgeschichte wird ein Grundkonzept von „Sein“ beansprucht. Die Tatsache ob etwas ist oder nicht, wird zum Referenzpunkt für die Theologie. Die Unverfügbarkeit der Gottesfrage führt zum Gedanken der Freiheit Gottes. Gott ist somit an keine menschlichen Vorstellungen und Kategorien gebunden. Das birgt die Möglichkeit eines Willkürgottes in sich. Die Zuordnung eines auf Offenbarung gestützten Glaubens zu empirisch erfassten Vernunfterkenntnissen kann nur durch das gegenseitige Verhältnis von Theologie und Philosophie abgebildet werden. Eine so verstandene scientia transcendens ist damit immer gekoppelt an eine transzendentale Philosophie.

1.6.2 Duns Scotus als wichtige Schaltstelle für den theologischen Diskurs

Nachdem sich schon die Aquinaten mit der aristotelischen Lehre auseinandergesetzt haben und an einer Synthese in einer Weiterentwicklung der Wissensformen gearbeitet hatten, waren vor allem die Theologen der folgenden Generation damit konfrontiert, das Problem neu aufzugreifen und ein neues theologisches Profil herauszuarbeiten. Der bedeutendste unter ihnen ist der Franziskaner Johannes Duns Scotus (1266-1308). Scotus war ein aus Schottland abstammender Franziskaner, der in Camebridge, Oxford, Paris und Köln studierte und lehrte. Als einer der bedeutendsten franziskanischen Theologen begründete er in der scholastischen Richtung den nach ihm benannten Scotismus.

Als Franziskaner ist er durchgehend von der Spiritualität des Heiligen Franz von Assisi, der in besonderer Weise immer den heilsgeschichtlichen Aspekt der christlichen Offenbarung betont hat, geprägt. Gleichzeitig ist er aber auch mit den neuaufkommenden aristotelisch geprägten Wissensformen an den Universitäten vertraut. In der Gegenüberstellung von griechisch-arabischen Wissenschaften und christlichem Evangelium stellt sich der Unter-schied im Wahrheitsanspruch heraus, indem das Evangelium über rein intellektuell erschließ-bare Denkmuster hinaus vor allem auf Geschichte, Individualität und Heil hin ausgerichtet ist. Als Intellektueller ergreift Scotus die Initiative, eine religiöse, auf Geschichte und der freien Zustimmung basierende transzendente Offenbarung mit einer auf universalen, gesetzmäßigen und logischen Strukturen beruhenden Weltsicht zu verbinden. Dieser Weg kann nun allein über eine bestimmte Grundlagentheorie führen, die beiden Weltsichten als Voraussetzung dient. Diese Theorie muss so beschaffen sein, dass sie einerseits einen Teil von Wirklichkeits-auffassung, der in seiner Semantik und Ontologie einen Raum eröffnet in dem er die Ergebnisse der nach den Prinzipien von Logik und Rationalität arbeitenden Wissenschaften aufnehmen kann, und andererseits einen subjektiven Teil der Theorie des handelnden Ichs, in welchem die eher praxisorientierten, lebensweltlichen Vollzüge eines Subjekts wie Wollen, Freiheit, Selbstverständnis, Gefühle und Liebe aufgegriffen werden, enthält. Dadurch ergeben sich Anhaltspunkte für den christlichen Glauben, der sich insbesondere an der Subjekt-haftigkeit des erkennenden Ichs ausrichtet, die für das Menschsein im Allgemeinen kennzeichnend sind. Scotus löst dieses Kompatibilitätsproblem, indem er diese beiden Theorien zunächst getrennt voneinander betrachtet und in einem theologischen Kontext auf die philosophischen Grundvoraussetzungen eingeht, die für eine wissenschaftliche Explikation einzelner christlicher Glaubenssätze notwendig sind. Auf diese Weise sollen die zunächst als unverträglich erscheinenden Weltansichten so aufeinander bezogen werden, dass die philosophischen Aussagen elementar in beiden Teilen der Kompatibilitätstheorie vorkommen. Im Rahmen dieser gegenseitigen Kontextualisierung versucht Scotus wichtige Ansätze des Aristoteles von ihrer (teilweise zeitbedingten) Weltbezogenheit herauszulösen und in ihrer Aussagengrammatik auf ihre Leistungsfähigkeit in Bezug auf die Auslegung der christlich-religiösen Glaubensinhalte hin zu prüfen. So konstruiert Scotus theologische Neuansätze, indem er aristotelische Aussagen inhaltlich überarbeitet und in einen theologischen Zusammenhang stellt. Die für das Denken von Scotus in Philosophie und Theologie charakteristischen Merkmale lasen sich in drei Punkten zusammenfassen:

- Univokation transzendentaler Begriffe: Die Widerspruchslosigkeit und Eindeutig-keit von Begriffen, die sich in einen Syllogismus einfügen lassen, als Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit Theologie und Glaube.
- Lehre von der Formal- und Modaldistinktion: Erst durch die Unterscheidung der einzelnen Wesensmerkmale in ihrer Form und Modalität kann ein Begriff entstehen.
- Einheit von Freiheit, Wille und Kontingenz: Die drei Begriffe müssen zusammen-gedacht werden, um die Aussage von Schöpfungs- und Erlösungslehre in rechter Weise und im wissenschaftlichen Kontext zu verstehen.

1.6.3 Der scotistische Ausweis der Theologie als Wissenschaft

Das Problem, das sich für Scotus ergab und das er zu lösen suchte war die Frage, inwiefern sich die Theologie neben dem wiederaufkommenden aristotelischen Wissenschaftsbegriff selbst noch als Wissenschaft ausweisen kann. Wenn unser Verstand nur über jene Begriffe verfügt, die er über die Sinneserfahrung erfassen kann und Wissenschaft generell nur einen Gegenstand zum Objekt haben kann, der sich empirisch überprüfen lässt und sich in ein System der formalen Logik einfügen lassen muss, wie kann dann Theologie, welche „Gott“ als ihren Gegenstand hat weiterhin als Wissenschaft gelten? Der Gegenstand der Theologie ist metaphysisch und geht über das innerweltliche empirische Wissen hinaus. Die Glaubenssätze über die Erlösung und die Trinität können empirisch mit den Mitteln aristotelischer Logik nicht eingeholt werden. Diese können nur im Glauben an eine übernatürliche Offenbarung angenommen werden. Das liegt aber nun eindeutig außerhalb der aristotelischen Definition von Wissenschaft. Wie soll Theologie also unter diesen Bedingungen den Charakter einer ernstzunehmenden Wissenschaft behalten, wenn sie nur Begriffe zu generieren vermag, die mittels „göttlicher Erleuchtung“ allein metaphysisch erschlossen werden können?

Scotus löst dieses Problem, indem er eine eigene Begriffstheorie anwendet. Der „Begriff“ ist für Scotus eine intentionale Leistung des Zusammenwirkend von Gegenstand und Ver-stand. Diese wirken als unabhängige Teilursachen zusammen. Durch sie wird der entspre-chende Gegenstand im Zusammenhang mit der sinnlichen Erfahrung als ein mentales Bild erkannt. Dieses erzeugte Bild steht für den Begriff. Das Bild ist weder Abbild noch Repräsentation des Gegenstandes, sondern das Medium durch das der Gegenstand erkannt wird. Auf diese Weise ereignet sich eine kognitive Leistung, die es uns erlaubt sowohl konkrete wie abstrakte Terme zu bilden. Dieser abstrakte Term ist nun nicht mehr an einem konkreten Gegenstand festgemacht, sondern lässt sich auf eine durch diesen festgelegte strukturelle Bestimmung beziehen. Als Beispiel kann man für den konkreten Term „Pferd“ den abstrakten Term der „Pferdheit“ nun auf die allgemeine Struktur der Gattung ausweiten, womit eine Wesenheit bezeichnet wird. Scotus nennt diese allgemeinen Bestimmungen, die sich mit diesen abstrakten Termen bezeichnen lassen formalitas oder auch realitas.

Diese Einsicht von Scotus ist für den Ausweis der Theologie als Wissenschaft vor dem Forum aristotelischer Logik von entscheidender Bedeutung. Im Erkennen eines konkreten Gegenstandes wie Pferd, Baum oder Vogel, wird dieser auch immer gleichzeitig als ein „seiendes“ miterkannt. Die empirische Erkenntnis enthält somit immer schon auch eine abstrakte Dimension. Dieses Seiende kann aber nun nicht nochmals als ein etwas erkannt werden, da ihm eine allgemeine, universale Eigenschaft zukommt. Diese wohnt dem konkreten Gegenstand von vornherein inne, da es mit ihm miterkannt wird. Es ist dem kon-kreten Gegenstand so wesentlich, dass es diesem als seine ursprüngliche Größe vorausgeht. Auf die Gottesfrage bezogen bedeutet das: Gott geht jeder konkreten Erkenntnis voraus. Die Erkenntnis Gottes findet sich noch vor den aristotelischen Kategorien. Gott ist so gesehen der in allen Gegenständen enthaltene allgemeinste Begriff. Mit diesem Konzept sollte sich die Theologie weiterhin als eine Größe im Diskurs der Wissenschaften bewähren.

1.7. Wilhelm von Ockham

1.7.1 Ockham als ein Vorläufer der Moderne im Mittelalter

Mit dem Franziskaner Wilhelm von Ockham (1280/1285-1347/1348) bricht eine neue Form des Denkens an, die wie keine andere die Theologie des späten Mittelalters prägen soll und sie auch über die Neuzeit bis zur Gegenwart prägen und mitbestimmen wird. Ockhams Lehren und Wirken war der Nährboden, auf dem sich später die Reformation und die Spaltung der Kirche in verschiedene Konfessionen zurückberufen kann. Ockham steht wie kein anderer exemplarisch für das Auseinanderbrechen der mittelalterlichen Einheit von Philosophie und Theologie. Ein Hauptgrund, welcher Ockham zu diesem erfolgreichen Durchbruch sowohl in der Kirchen-, und Theologie- als auch in der Philosophiegeschichte brachte, war seine konsequente Art Theologie zu treiben auf der philosophischen Basis einer strengen Erkenntnistheorie und Logik. Ockhams Denkweg entsprang wohl auch seiner eigenen Persönlichkeit und Spiritualität. Er war Franziskaner. Als solcher ging er von der von der Gutheit der Schöpfung und der Welt als Ganzer aus. Daraus ergibt sich eine Hochwertung der einzelnen Individuen. Auf ihnen liegt ein starker Akzent als Träger des Wissens. Ockham stellt das individuelle Wissen des Einzelnen der äußeren Realität vor. Damit ist die Akzentverschiebung von der Verbindlichkeit universaler Wissenstheorien zu Wissenstheorien als Ergebnis einzelner, individueller Wissensträger vollzogen. Nicht allgemeine Universalien sind Ausgangspunkt der Wissenschaft, sondern das je eigene Individuum.

Ockhams theologischer Ansatz war auch bestimmt von seiner Zeit an der Universität von Oxford, das sich zu einem eigenen theologischen Zentrum entwickelte, vor allem weil es die Wirkungsstätte von Duns Scotus war, dessen Position sich stark auf das Denken und Lehren von Ockham auswirkten. Ockham prägte dabei besonders der Gedanke der Freiheit Gottes. Was ihn hierbei weiter beschäftigte, war die Frage, wie man das Individuelle gegenüber dem Allgemeinen nun genau definieren könne. Mit dem Interesse für das Individuelle als neuer Ausgangspunkt theologischer Fragestellungen war die Via moderna eingeleitet.

1.7.2 Die Aufwertung der Laien zu relativierenden Größen in der Kirche

Auf dieser Grundlage eröffnete Ockham einen Raum für kritisches Denken und subjekt-orientiertes Handeln innerhalb der Theologie aber auch der Kirche. In seiner Schrift Dialogus etwa nimmt Ockham Bezug auf die geschichtliche Situation der Kirche indem er es wagt – und das war für seine Zeit revolutionär – das Papsttum zu hinterfragen und dadurch zu relativieren! Ockham spielt darin die Frage durch, was es bedeuten würde, wenn der Papst selbst ein Häretiker sei. In diesem Falle sieht Ockham nun jeden einzelnen Christen in der Pflicht, einen ketzerischen Papst zu kritisieren, zurechtzuweisen oder in letzter Instanz sogar zu bekämpfen. Jedem einzelnen kommt dadurch eine tragende Bedeutung auf das Ganze hin zu, d.h. jeder einzelne ist Teil der Kirche und trägt für sie Verantwortung.[2] Ockham begreift das Evangelium als ein „Gesetz der Freiheit“. Der Mensch ist von Gott als ein freies und autonomes Wesen erschaffen und gewollt. Das ist auch die biblische Kernaussage. Jedem einzelnen kommt daher die Aufgabe zu, Verantwortung zu übernehmen und sich sowohl in Kirche als auch in Staat und Gesellschaft zu engagieren und einzusetzen (vgl. Röm 13, 1-7). Ockham hatte bei seinen revolutionären Thesen besonders den Hochmut der Kleriker seiner Zeit vor Augen, welche sich über die Laien erhoben und es nicht zulassen wollten, dass sich Laien überhaupt erst ein Urteil über die Kirche bilden. Diesen starren und mächtigen Klerikalismus des späten Mittelalters aufzubrechen war eine durchaus mutige Angelegenheit, der sich nur ein angesehener und bedeutender Gelehrter wie Ockham stellen konnte.

[...]


[1] Anslem von Canterbury, Monologion. Lateinisch-deutsche Ausgabe von F. S. Schmitt OSB, Stuttgart, 1964, Kapitel 44

[2] Ockham greift in seiner Ekklesiologie hier besonders wieder daa paulinische Bild der Kirche vom Leib auf, der aus vielen Gliedern besteht, die zusammen erst den „einen Leib“ bilden (! Kor 12, 12-31a). Das paulinische Kirchenverständnis wird dadurch wieder hermeneutisch aufgegriffen, was entscheidend ist für den weiteren Verlauf der Kirchengeschichte.

Ende der Leseprobe aus 69 Seiten

Details

Titel
Etappen der Theologiegeschichte. Akteure und Diskurse vom 10. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Hochschule
Universität Salzburg
Veranstaltung
Seminar Ökumenische Gespräche
Note
1,0 (sehr gut)
Autor
Jahr
2018
Seiten
69
Katalognummer
V435395
ISBN (eBook)
9783668770591
ISBN (Buch)
9783668770607
Dateigröße
889 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Theologie, Geschichte, Akteure, Diskurse
Arbeit zitieren
Maximilian Bekmann (Autor:in), 2018, Etappen der Theologiegeschichte. Akteure und Diskurse vom 10. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/435395

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