Auswirkungen europäischer Externalisierungspolitik auf Subsahara-Migrant/-innen in Marokko


Masterarbeit, 2017

66 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Forschungsfrage
1.2 Aufbau der Arbeit

2. Kontext der Forschung
2.1 Begriffsdefinition und Relevanz der Arbeit
2.2 Stand der Forschung
2.3 Afrikanische Migration im Spiegel europäischer Grenzpolitiken
2.4 Von Emigrations- zu Integrationsland? Geopolitischer und historischer Kontext Marokkos

3. Durchführung der Forschung
3.1 Selbstpositionierung
3.2 Auswahl, Anwendung und kritische Reflexion der Forschungsmethoden
3.3 Social-Media-Recherche
3.4 Die Migrantinnen und Migranten

4. Der Weg beginnt
4.1 Aller à l´adventure: Das Selbstverständnis der „Abenteurer“
4.2 Strukturelle Ursachen für Migration und Flucht
4.3 Tanger, Tor nach Europa: Sehnsuchtsort von Einheimischen und Fremden

5. Zwischen Razzia und Regularisierung: Alltag politischer Härte und flexibler Grenzen für Subsahara-Migrant_innen in Marokko
5.1 Marokkos neue Immigrationspolitik: Vom Transit- zum Zielland?
5.2 Marokko neue Immigrationspolitik aus Sicht der Subsahara-Migrant_innen
5.3 Taktiken und Schleusernetzwerke

6. (Über)Leben in Marokko: Lohnarbeit und transnationale Netzwerke
6.1 „Wer Arbeit sucht, der findet!“
6.2 „Tourner la Médina“: Arbeitsverbot und heimliches Arbeiten
6.3 „Sogar die Mülleimer leeren sie selbst“
6.4 Transnationale Beziehungen und Netzwerke

7. Komplizierte Koexistenz: Beziehungen zur marokkanischen Mehrheitsbevölkerung
7.1 „Ebola“ und „Azzi“: Der alltägliche Rassismus
7.2 Good Muslims like you: „Salem aleikum“ und andere Strategien des täglichen Überlebens

8. Grenzregime und Gewalt
8.1 Der Dschungel: Das Epizentrum der Krise
8.2 Aus den Augen, aus dem Sinn? Die Konstruktion Marokkos als Grenzzone

9. Forschungserkenntnisse

10. Fazit

11. Verwendete Literatur

Interviewleitfaden

Danksagung

Die Idee zu dieser Forschung entstand durch frühere Aufenthalte in Marokko, während derer ich immer wieder mit dem Schicksal der Subsahara-Migrant_innen konfrontiert wurde.

Bedanken möchte ich mich bei Gerd für seine Unterstützung bei den Vorbereitungen meiner Forschung. Bei Miriam, mit der ich schwierige Phasen während meiner Forschung teilte und bei der ich mich immer verstanden fühlte, ohne viel zu reden. Bei Julia und Diana, für das viele Korrekturlesen, die inspirierenden Diskussionen und den fachlichen Input.

Besonderen Dank gilt meiner Mutter und meinen Geschwistern, deren Rückhalt mir die Kraft gab, an meinen Zielen festzuhalten, sowie meinen Freundinnen Heike, Franzi und Monique.

Danke an Michael H., der immer an mich glaubte.

Danke an Alassane, Kebe, Lamine, Père Estephan, Ami, Modou, Ismo und alle anderen Menschen in Marokko, die mir einen Einblick in ihr Leben gewährten und nie müde wurden, all meine Fragen zu beantworten. Ohne sie hätte ich diese Forschung nicht durchführen können, und ihre Freundschaft ist bis heute eines der wertvollsten Dinge, die ich davon mitgenommen habe.

Danke an Oumar, der mein Leben jeden Tag aufs Neue bereichert.

Gewidmet ist diese Arbeit Ajul, der die Überfahrt mit der Hoffnung, am anderen Ufer eine bessere Zukunft zu finden, mit dem Leben bezahlen musste, und den ich nie vergessen werde.

Berlin, 18.01.2017

1. Einleitung

„Kein Ende des Umherirrens ist abzusehen“

Ludwig Marcuse

Der wirtschaftliche Aufschwung nach Ende des Zweiten Weltkrieges führte in Europa zu einem großen Bedarf an ausländischen Arbeiterinnen1, die nicht nur aus Südeuropa, sondern auch aus den ehemaligen Kolonien in millionenfacher Zahl angeworben wurden. Mit Beginn der Ölkrise in den 70er Jahren und den schweren Rezessionen, die diese in den Industriestaaten verursachte, beschlossen viele europäische Regierungen einen „Anwerbestopp“. Die folgenden jahrzehntelangen Anti-Einwanderungs-Diskurse fielen in den europäischen Nationalstaaten auf fruchtbaren Boden. Migrationspolitiken dienen dabei als Projektionsflächen und Austragungsorte „massiver gesellschaftlicher Konflikte“ (Buckel 2013: 53). Dies steht durchaus in einem Widerspruch zu Anwerbungskampagnen und -politiken, da ausländische Arbeitskräfte in der Wirtschaft dringend benötigt werden (Castles 2005: 13). Mit dem Schengener Abkommen in den 90er Jahren fand eine Abschaffung der Grenzkontrollen innerhalb der Europäischen Union statt, was mit einer zunehmenden Abschottung nach „außen“ einherging. Die außereuropäischen Grenzen wurden zunehmend militarisiert, um mithilfe hochtechnologischer Mittel eine unerwünschte und irreguläre Immigration zu verhindern. Immer mehr setzte sich dabei die Politik durch, Flüchtlinge und Migrant_innen so nah wie möglich an ihren Herkunftsländern (und außerhalb des Territoriums der EU) aufzuhalten (Hess/Kasparek/Schwertl/Sontowski 2015: 1).

Diese Externalisierung europäischer Migrationspolitik wurde in jüngster Zeit massiv verstärkt. Große mediale Präsenz erhielt das Kooperationsabkommen mit der Türkei im Spätsommer 2015. Weniger beachtet wurden die Meilensteine europäischer Externalisierungspolitik, wie die Konferenz in Rabat im Jahr 2006, die als Folge der Einreiseversuche subsaharischer Migrant_innen in die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko initiiert wurde. Ziel des Treffens war die engere Zusammenarbeit von Herkunfts- Transit- und Zielländern, um irreguläre Migration zu verhindern und Rückführung von bereits eingereisten Migrant_innen durchzusetzen. Zudem wurde die Abwehr von Migrant_innen und Flüchtlingen erstmals an Entwicklungshilfegelder gekoppelt (Dünnwald 2015: 3). Kooperationen mit einigen, als „Transitländer“ bekannte Staaten sollten folgen, und so schloss die Europäische Union (nach ersten Abkommen mit Tunesien, Kap Verde, Moldau, Georgien und Armenien) im Juni 2013 schließlich auch mit Marokko ein „Abkommen zur Steuerung von Migration und Mobilität“ (Rat der Europäischen Union 2013: online). Konkret stellt das Abkommen Visaerleichterungen für die marokkanische Bevölkerung in Aussicht. Im Gegenzug soll die marokkanische Regierung die irreguläre Migration von Subsahara-Migrant_innen nach Europa verhindern.

Die Externalisierung der europäischen Außengrenzen transformiert die Beziehungen Europas zum globalen Süden und „hinterlässt tiefe Spuren im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Leben“ (Dünnwald 2015: 2). In Nordafrika führt dies zu einem neuen Phänomen: Das Emigrations- und Transitland Marokko wird selbst zum Gastland. Eine Tatsache, die von Europa gewünscht, von der marokkanischen Bevölkerung sowie von subsaharischen Migrant_innen, die es als Drehscheibe nach Europa nutzen, jedoch lange Zeit geleugnet wurde (Alaoui 2009: 3).

In der vorliegenden Masterarbeit geht es um die Auswirkungen dieser Externalisierungspolitik auf Subsahara-Migrant_innen in Marokko, sowie um deren Alltagswelt an den Rändern des europäischen Grenzregimes. Für den Großteil der Subsahara-Migrant_innen auf dem Weg nach Europa wird Marokko zur vorläufigen Endstation. Sie verbringen dort im Durchschnitt fünf bis sieben Jahre und müssen - da die marokkanische Regierung nicht zwischen Wirtschafts- und Kriegsflüchtling unterscheidet, und für beide Kategorien keinerlei Hilfe oder Unterstützung vorhanden ist - ihr Leben in der Irregularität organisieren (2009: 4). Irregularität ist nicht als zufällige Kategorie zu verstehen, sondern wird geschaffen durch Barrieren, Repressionen und Grenzkontrollen. Innerhalb dieser strukturellen Zwänge schaffen sich Migrant_innen wiederum neue Handlungsspielräume, Strategien und Taktiken des In-der-Welt-Seins. Während meiner viermonatigen Feldforschung in Marokko begleitete ich den Alltag der dort lebenden Subsahara-Migrant_innen. Dabei erweiterte sich meine Forschung um einen neuen Aspekt: Die massive Ausübung von Gewalt, die von Transitstaaten gegen irreguläre Migrant_innen angewandt wird, um sie am Weiterkommen nach Europa zu hindern.

1.1 Forschungsfrage

Mein Forschungsinteresse liegt auf den ökonomischen, sozialen und politischen Auswirkungen der europäischen Externalisierungspolitik auf die Alltagswelt von Subsahara-Migrant_innen in Marokko.

Daher stellte ich folgende Forschungsfragen:

- Wie organisieren Subsahara-Migrant_innen Arbeit und Leben in der Irregularität in Marokko? Fällt es ihnen leichter, Arbeit zu finden in einem Land, in dem 50% der Bevölkerung im informellen Sektor arbeiten?
- Wie gestalten sich ihre Beziehungen zur marokkanischen Bevölkerung, mit der sie möglicherweise um Einreisemöglichkeiten nach Europa in Konkurrenz stehen?
-Anti-Immigrationspolitiken führten in den letzten zwei Jahrzehnten zu verstärkter Überwachung und physischer Gewalt gegen Immigrant_innen. Was bedeutet das für den Kontext Marokko und wie manifestiert sich diese Gewalt im nordafrikanisch- europäischen Grenzland?

Einige meiner Informant_innen blicken zurück auf eine langjährige Migrationsgeschichte innerhalb Afrikas, was mich die Definition von Marokko als Transitland überdenken ließ. Transitland beinhaltet laut dem Migrationsforscher Düvell (2006: 50) die normative Vorstellung von Migration als linearem Prozess mit einem zwangsläufigen Zielort. Migration sollte jedoch als fortlaufender, zirkulärer Prozess betrachtet werden. Dieser zirkuläre Prozess ist abhängig von den zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen. Nur ein Teil der Migrierenden kommt tatsächlich in Europa an, sie verbringen stattdessen viele Jahre in Marokko, einige gehen zurück in ihr Herkunftsland, auch wenn dies meist nicht freiwillig geschieht. Daher untersuchte ich im Laufe meiner Forschung den Teil des Migrationsprozess genauer, der in den meisten migrationstheoretischen Erklärungsansätzen, wenn überhaupt, nur verkürzt betrachtet wird (Diederich 2009: 122). Der Fokus wird stets auf die Migrationsursachen und die Integration im Zielland gelegt. In meiner Forschung betrachte ich hingegen das „Stehenbleiben“, die Blockaden, und das (Über-)Leben im „Zwischenland“.

Das Mittelmeer möchte ich dabei nicht nur als Ort der Grenzregime, sondern in Anlehnung an Appadurai (1996) als „seascape“ (Friese 2014: 111) betrachten, das trennt, aber auch vielfältige Verbindungen schafft. Dessen Überquerung per Schiff oder Boot symbolisiert die Reise zu einem anderen Ufer des Lebens, fernab von Armut, Perspektivlosigkeit und fortwährender Entrechtung. Viele meiner Informant_innen wussten von Rassismus und Ausgrenzung in Europa. Angesichts der fehlenden wirtschaftlichen Perspektiven, der Überfälle und Gewalt, der sie in Marokko ausgesetzt sind, betonten sie jedoch immer wieder, dass innerhalb Europas wenigstens Menschenrechte respektiert werden: „Au moins, en Europe, il y a le respect des droits de l´homme“ (Interview Mamadou, 18.05.2015). Ein Leben in der Irregularität in Europa schreckte sie keineswegs von ihrem Migrationsprojekt ab. Der marokkanische Menschenrechtsaktivist und politische Dissident Aboubakr Khamlachi drückt dies, im Hinblick auf marokkanische irreguläre Immigrant_innen, so aus: „You´re considered more illegal in your own country than in any other. You have no work, no healthcare, no welfare. At least over there you have some protection - all you have to do is work and you´re saved (Briscoe 2004: online).”

1.2 Aufbau der Arbeit

Im zweiten Kapitel beginne ich mit einer Kontextualisierung meiner Forschung und werde die von mir verwendeten Begrifflichkeiten sowie die Relevanz meiner ethnographischen Studie erläutern. Anschließend gehe ich auf den aktuellen Stand der Forschung in der Sozial- und Kulturanthropologie ein und gebe einen historischen Überblick über die europäische Externalisierungspolitik in Afrika, sowie über den geopolitischen und historischen Kontext des Emigrations- und Transitlandes Marokko. Im dritten Kapitel werde ich, beginnend mit einer Reflexion meiner eigenen Rolle als ethnologisch Forschende, die Durchführung meiner Forschung und die von mir verwendeten Forschungsmethoden darlegen. Abschließend stelle ich die Subsahara-Migrantinnen und Migranten vor, deren Leben ich während meiner Forschung für eine kurze Zeit begleiten durfte. In Kapitel vier analysiere ich soziokulturelle und ökonomische Gründe, die zu einer Migrationsentscheidung führen. Exemplarisch gehe ich auf die gesellschaftliche Situation in zwei Herkunftsländern in Subsahara-Afrika ein, aus denen der Großteil meiner Informant_innen stammt. Abschließend beschreibe ich die Lebensbedingungen von Subsahara-Migrant_innen in der Hafen- und Grenzstadt Tanger, die als Dreh- und Angelkreuz nach Europa gilt und in der ich den Großteil meiner Forschung durchführte. Kapitel Fünf analysiert die neue Immigrationspolitik Marokkos, die im Zuge des Mobilitätsabkommens eingeführt wurde, aus Perspektive der Subsahara-Migrant_innen. Anschließend erläutere ich, wie sich politische Härte und Repressionen, die sie in ihrem täglichen Leben zu spüren bekommen, mit Politiken durchlässiger Grenzen und hoch professionalisierten Schleusernetzwerken verschränken. Im sechsten Kapitel werde ich anhand von Interviewaussagen darlegen, wie klandestine Subsahara-Migrant_innen durch Arbeit und internationale Netzwerke ihr (Über-)Leben in Marokko sichern. Kapitel Sieben analysiert die Beziehungen zur marokkanischen Bevölkerung aus Perspektive der Migrant_innen vor dem Hintergrund der Verstrickung aller Akteure in europäische Migrationsdiskurse. Im achten Kapitel werde ich die Situation in den Wäldern von Gourougou schildern, wo im Wald lebende Migrant_innen versuchen, über die Zäune in die spanische Exklave Melilla zu gelangen. Anhand philosophischer und postkolonialer Theorien analysiere ich die dort immer wieder eskalierende und oft tödliche Gewalt. Abschließend fasse ich die Forschungsergebnisse zusammen und ende mit einem Fazit.

2. Kontext der Forschung

Im folgenden Kapitel definiere ich die von mir verwendeten Begriffe und erläutere die Relevanz der Arbeit. Neben dem aktuellen Stand der Forschung werde ich die afrikanischen Migrationsbewegungen nach Europa in den Blick nehmen, sowie den Paradigmenwechsel der europäischen Migrationspolitik. Dieser fand in den 1990er Jahren statt, und hatte die Externalisierung der europäischen Außengrenzen zur Folge. Abschließend wird die besondere geopolitische und historische Situation Marokkos analysiert.

2.1 Begriffsdefinitionen und Relevanz der Arbeit

Im der vorliegenden Masterarbeit verwende ich häufig die Begriffe Migrant_innen und Geflüchtete, die ich kurz erläutern werde: Laut der Genfer Konvention von 1951 steht der Status des „Flüchtlings“ all jenen zu, die verfolgt werden „wegen ihrer Rasse2, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“, und sich deswegen außerhalb des Landes befinden, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen (UNHCR 1967, zitiert in Holert & Terkessidis 2006: 81).

Diese Definition verursachte jedoch von Beginn an Probleme und unterschlägt die

Komplexität von Migration und Flucht. Das Flüchtlingskommissariat teilt Migration lediglich in „gewaltsam“ und „freiwillig“ (da ökonomisch). Strukturelle Gewalt wie Armut, Ausbeutung oder Perspektivlosigkeit werden dabei nicht anerkannt und führen immer mehr zu einer Kriminalisierung der Migration (2006: 82). Nach europäischem Flüchtlingsrecht kann davon ausgegangen werden, dass meine Informant_innen als sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge klassifiziert werden und somit sehr geringe Chancen auf ein Bleiberecht in Europa haben. Gleichzeitig ist das Stellen eines Asylantrags ihre einzige Möglichkeit, zumindest vorläufig auf europäischem Boden bleiben zu können. Die Beantragung eines Visums in ihrem Heimatland ist für sie, aufgrund ihrer schlechten wirtschaftlichen Lage3, aussichtslos und wird nicht in Erwägung gezogen. Durch die Tatsache, dass es für sie keine legalen Einreisemöglichkeiten gibt, werden sie in die Illegalität gedrängt. Da die Bezeichnung „Illegale“ kriminalisierend ist, verwende ich in der vorliegenden Studie die Bezeichnung „Irreguläre Migrant_innen“ bzw. die Selbstbezeichnung Clandestins (Frz. für „illegal eingereiste/ nicht aufenthaltsberechtigte Personen“).

Als relevant erachte ich die von mir durchgeführte Studie in Marokko in folgender Hinsicht: Im derzeitigen Externalisierungstrend der europäischen Migrationspolitik gilt Marokko als Blaupause, beispielsweise für das Abkommen mit der Türkei, und als Erfolgsbeispiel derer, die irreguläre Migration verhindern wollen. Die Auswirkungen dieser „Steuerung aus der Ferne“ auf die Betroffenen und die sozialen und ökonomischen Folgen sind dabei wenig bekannt. Auch medial ist die Situation im marokkanisch- spanischen Grenzland in Deutschland wenig präsent, da der Fokus auf Lybien bzw. den Ankünften in Italien, insbesondere der Insel Lampedusa, liegt, und seit dem „Sommer der Migration“ (Kasparek & Speer 2015) im Jahr 2015, auch auf der Türkei und Griechenland. Meine Feldforschung könnte zu einem besseren Verständnis der Migrationsbewegungen im Mittelmeerraum beitragen, sowie die Folgen europäischer Externalisierungspolitik für

Flüchtlinge und Migrant_innen darstellen. Außerdem möchte ich dazu beitragen, eine andere Perspektive auf sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge aufzuzeigen und an einem Diskurs für zeitgemäßere Modelle für Migration zu partizipieren. Vor allem in Deutschland ist der Diskurs über Migrant_innen und Geflüchtete oftmals eine „aufgeregte Defensivdiskussion“ (Sacher & Wahnbeck 2015: 7), der die positiven Aspekte von Migration sowie die Perspektive von Migrierenden selbst zu oft vermissen lässt.

2.2 Stand der Forschung

Migrations- und Flüchtlingsforschung ist ein relativ junges Forschungsfeld, das nicht nur die Ethnologie beschäftigt, sondern eine Vielzahl an Wissenschaften unterschiedlichster Fachrichtungen. Der interdisziplinäre Charakter zeigt sich immer wieder an der Zusammenarbeit internationaler Forscherverbünde. Der Ethnologie gelingt es mit ihren spezifischen Fragestellungen und Methoden, Perspektiven auf Sachverhalte und Lebenswelten zu gewinnen, die anderen Disziplinen oft nicht zugänglich sind (Weigelt 2014: 9f.). Meine Forschung verorte ich innerhalb der kritischen Migrations- und Grenzforschung, die interdisziplinär organisiert ist, in transnationalen Netzwerken arbeitet und deren Kennzeichen eine kritische Haltung innerhalb der Migrationsforschung, sowie eine solidarische Haltung zu den Kämpfen der Geflüchteten ist (Glossar Kritische Migrationsforschung 2015: online). Im deutschsprachigen Raum maßgeblich vorangebracht wurde die kritische Migrations- und Grenzregimeforschung durch die Forschungsgruppe Transit Migration und deren ersten Sammelband Turbulente Ränder (2007). Dimensionen und Wirkungen von Migration werden dabei aus transnationaler Perspektive betrachtet, wobei der Blickpunkt nicht mehr auf das zentrale Europa gerichtet ist (Schnurer 2008: online). Grenzen sind demnach Aushandlungsräume, in denen die Konflikte, die sich durch globales ökonomisches Ungleichgewicht und Migration ergeben, ausgetragen werden. Sabine Hess, Ethnologin und Gründungsmitglied von Transit Migration, beschreibt Grenzregime als „soziale Räume“, die von Konflikten, Spannungen und Aushandlungen zwischen multiplen Akteur_innen um gesellschaftliche Teilhabe und Rechte geprägt sind und „durch ständige performative Akte (wieder)hergestellt, repariert, herausgefordert, verschoben, umgedeutet oder neu eingeschrieben werden“ (Hess 2014: 15f).

Eine umfangreiche ethnologische Studie zum marokkanischen „Grenzland“ wurde von der Ethnologin Kristin Kastner veröffentlicht, die in ihrer im Jahr 2014 erschienen Dissertation „Zwischen Suffering und Styling: Die lange Reise nigerianischer Migrantinnen nach Europa“ zu den Grenzerfahrungen nigerianischer Migrantinnen in Marokko und Spanien forschte. Obwohl sich auch die Nigerianerinnen in Marokko in einer ökonomisch und sozial äußerst schwierigen Lage befanden, schafften es alle ihre Informantinnen noch während ihrer Forschungszeit, das spanische Festland zu erreichen. Da die Reise der Frauen durch internationale Prostitutionsnetzwerke finanziert und organisiert wurde, blieb ihnen eine jahrelange Odyssee in Marokko erspart. Nach ihrer Ankunft in Europa mussten sie jedoch auf dem Straßenstrich arbeiten, um die Kosten für den irregulären Grenzübergang zurückzuzahlen. Kastner verdeutlicht in ihrer Dissertation Gewalt und Leid, das den Migrantinnen in Marokko widerfährt, und eine Auswirkung ihrer irregulären und marginalisierten Status ist. Ebenso analysiert sie die individuelle Handlungsmacht der Frauen und beschreibt aus körperethnologischer Perspektive, wie diese ihren Körper nutzen, der die entscheidende Ressource ihres Migrationsprojektes ist.

Die Ethnologin Oum-Hani Alaoui begleitete für ihre 2009 erschienene Dissertation „Migratory Trajectories: Moroccan Borderlands and Translocal Imagineries“ sowohl Marokkaner_innen, als auch Subsahara-Migrant_innen in Marokko, die sich auf eine klandestine Einreise nach Europa vorbereiteten. Alaoui analysiert irreguläre Migration als globales, stark zunehmendes Phänomen, das gekennzeichnet ist durch Barrieren und Repressionen, und eine neue Forschungsperspektive erfordert: „The study of irregular migration becomes the study of non-movement, of transience and stasis“ (Alaoui 2008: 4). Als direkte Auswirkungen der europäischen Externalisierungspolitik sieht Alaoui in Marokko eine Zunahme irregulärer Migrant_innen, die auf dem Arbeitsmarkt aufgrund ihres rechtlosen Status ausgebeutet werden. Zurückgeworfen auf das nackte Leben (Agamben 1998) und kategorisiert als „illegaler Migrant“, ist das Individuum gezwungen, sich mit seinem Körper das Recht auf Mobilität zu erkämpfen. Dies führt, so Alaoui, zu einer zweiten dramatischen Auswirkung der Militarisierung und Externalisierung der europäischen Außengrenzen: Immer mehr Menschen verlieren ihr Leben im Mittelmeer oder im marokkanischen „Grenzland“.

Nach Marc Augé sind ethnologisch Forschende zum „methodologischen Schielen verdammt“ (1994: 138), da der Ort, an dem die Beobachtung stattfindet, genauso in den Blick genommen werden muss wie der größere Raum mit all seinen Einflüssen, in den der Forschungsort eingebettet ist. Wie Alaoui verorte ich meine Forschung im „Zwischenland“, wo es weder um den Aufbruch in die Migration noch um das Ankommen im Zielland geht, sondern um Nicht-Bewegung, Blockaden, Stopps und ein vorläufiges „Scheitern“ des Migrationsprojekts. Ich hoffe, in einer Art „Localizing the global“ die Zusammenhänge zwischen dem Grenzraum und den politischen Einflüssen des „größeren Raumes“ (vgl. Kastner 2011: 30) aufzeigen zu können.

2.3 Afrikanische Migration im Spiegel europäischer Externalisierungspolitik

Das EU-Grenzregime bringt Diskurse über Immigration hervor, über EuropäerInnen und andere, über die Grenze Europas und ihren Schutz. So wird die Vorstellung von einem territorial-einheitlichen, klar abgegrenzten Europa konstruiert. Die Grenzen Europas sind damit zugleich Baustein und immer wieder reproduziertes Ergebnis des europäischen Territorialdispositivs (Krause 2009: 342). Der Versuch selektiver Kontrolle, militärischer Aufrüstung und Abschottung kennzeichnen die europäische Grenzpolitik in Afrika zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Kontrolle verlagert sich dabei zunehmend auf die ehemaligen nordafrikanischen Kolonien, die sowohl als Herkunfts-, als auch Transitländer gelten. So finden seit 1990 regelmäßig Verhandlungen und Rückführungsabkommen mit der EU statt, die die Anrainerstaaten gegen Austausch von Geld und Privilegien zur Militarisierung und Schließung ihrer Grenzen bringen sollen. Diese neue Politik des „Migrationsmanagements“ zielt auf die „umfassende zwischenstaatliche Steuerung von Migration mit Hilfe zahlreicher internationaler Akteure und Verträge“ ab (Dünnwald 2015: 1). Der „migration routes“ - Ansatz bindet afrikanische Staaten mit in die Kontrolle ein und stellt einen Versuch der Konditionierung dar, da die Erreichung der Ziele an Entwicklungshilfe und Handelsabkommen gekoppelt werden (Hess 2013: 262). Zudem versprechen die mit Tunesien und Marokko abgeschlossenen Mobilitätsabkommen - im Gegenzug für effektive Verhinderung irregulärer Migration - Visaerleichterungen für privilegierte Gruppen (Studierende, Geschäftsleute) der nordafrikanischen Bevölkerungen (vgl. Rat der Europäischen Union 2013: online). Die EU knüpft dabei an ambivalente Einstellungen der nordafrikanischen Staaten hinsichtlich Migration aus Subsahara-Afrika an: Einerseits hat die Migration zwischen diesen Regionen lange Tradition und ist ein wichtiger ökonomischer Faktor. Zudem pflegen die Länder enge Handelsbeziehungen. Andererseits übernehmen nordafrikanische Staaten zunehmend die europäische Abwehrhaltung hinsichtlich Migration. Wie in allen Gesellschaften, die an der Versklavung schwarzer Menschen beteiligt waren, existieren rassistische Spannungen in Marokko. Diese bleiben weiterhin virulent und werden durch die Kriminalisierung von Subsahara-Migrant_innen massiv verstärkt. In das Migrationsmanagement mit eingebunden werden jedoch nicht nur nordafrikanische Staaten, sondern auch Staaten in Subsahara-Afrika. In Mauretanien hatte diese „Steuerung aus der Ferne“ den ersten Einsatz der im Jahr 2004 gegründeten europäischen Grenzschutzagentur Frontex zur Folge (Rodier 2015: 108). Um zu verhindern, dass sich weiterhin Boote von den Küsten Mauretaniens in Richtung Kanarische Inseln aufmachen, patrouillierten ein Helikopter, ein Flugzeug und vier Frontex-Boote an den dortigen Küsten4. Zusätzlich wurden staatliche Repressionen gegen Immigrant_innen in Mauretanien erlassen, ein Internierungslager für „Illegale“ wurde in Betrieb genommen. Es gelang, die Migrationsroute auf die Kanarischen Inseln zu schließen. Die Nebeneffekte dieses „Erfolges“: Besonders westafrikanische Migrant_innen wurden seit 2005 kollektiv der „illegalen Migration“ beschuldigt, verfolgt, verloren Anstellung und Wohnung und wurden des Landes verwiesen (Dünnwald 2015: 3). Dies wiederum führte zu dem derzeitigen Anstieg der westafrikanischen Migration nach Marokko5. Migrant_innen lassen sich durch Grenzschließungen nicht von ihrem Migrationsprojekt abbringen. Sie weichen stattdessen auf immer neue Routen aus, woraufhin die Europäische Union im Anschluss wieder versucht, die „Löcher im Zaun“ zu schließen. Erstaunlich ist dabei die unverhältnismäßig hohe Aufmerksamkeit, die die zahlenmäßig relativ geringen Migrant_innen aus Subsahara-Afrika, sowohl politisch als auch medial, in den Ländern Europas erhalten. Von den ungefähr 120.000 Subsahara- Migrant_innen, die sich jährlich auf den Weg in die Maghreb-Staaten machen, erreichen nur einige zehntausend tatsächlich Europa. Andere bleiben, oft freiwillig, in den letzten Jahren jedoch immer mehr erzwungen, in den nordafrikanischen Staaten (vgl. de Haas

2007)6. Je demokratischer ein afrikanischer Staat ist, desto weniger ist er in der Regel bereit, sich in das europäische „Grenzkontrollmanagement“ einbinden zu lassen. Besonders gut wusste der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi mit den Ängsten Europas zu spielen. Im Jahr 2009 schloss er mit dem damaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi ein sehr lukratives „Freundschafts-, Partnerschafts- und Kooperationsabkommen“. Im Gegenzug für Infrastrukturprojekte in Höhe von fünf Milliarden Dollar verpflichtete sich die libysche Regierung, den „Kampf“ gegen irreguläre Migration aufzunehmen und ein Grenzkontrollsystem mit Hilfe italienischer Firmen in Libyen zu errichten. Gaddafi bediente sich dabei der Populismen, die das von der Migrationsfrage besessene Europa selbst schuf. So verkündete der selbsternannte „König der Könige Afrikas“ (Rodier 2015: 100): „Vielleicht wird Europa morgen nicht mehr europäisch sein. […] Wir wissen nicht, wie die Reaktion der weißen christlichen Europäer angesichts dieses Zustroms von ausgehungerten ungebildeten Afrikanern ausfallen wird“ (Depesche der französischen Nachrichtenagentur AFP, 2. September 2010, zitiert in Rodier 2015: 100). Dabei war zur damaligen Zeit der Großteil der in Libyen befindlichen Migrant_innen aus Subsahara-Afrika zum Arbeiten im Land und hatte nicht die Absicht, die riskante Bootsfahrt nach Europa auf sich zu nehmen. Dies änderte sich erst mit dem Staatszerfall und der unsicheren Lage in Libyen, sowie mit dem Verlagern der Migrationsrouten aufgrund der Grenzschließungen in Mauretanien, Marokko, und schließlich auch der türkisch-griechischen Grenze. Die einseitige Berichterstattung nährt weiter den Mythos der „afrikanischen Invasion“ und rechtfertigt Maßnahmen, die nicht nur mit hohen politischen und finanziellen Kosten, sondern auch mit Einschränkungen der Lebensqualität der einheimischen Bevölkerung verbunden sind. Beispielhaft dafür sind die stundenlangen Grenzkontrollen und ein zunehmendes „Einmauern“ in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko, die bereits heute zu den am besten befestigten Städten der Welt gehören (Lochbihler 2015: 9).

2.4 Vom Emigrations- zum Integrationsland? Geopolitischer und historischer Kontext Marokko

Nachdem Spanien dem Abkommen von Schengen im Jahre 1991 beitrat, übernahm es auch die Visumspflicht der EU. Vorher war zumindest die marokkanische Einwanderung unproblematisch und saisonal bedingt, da vor allem in Andalusiens Landwirtschaftsindustrie ein großer Bedarf an Arbeitskräften bestand. Die fast unüberwindbaren Hürden beim Erhalt eines Visums und der gleichzeitige große Bedarf an billigen Arbeitskräften zwangen ab dieser Zeit Menschen verstärkt zur sogenannten illegalen Migration. Der marokkanische Migrationsforscher Mohamed Khachani bezeichnet dies als „Handel mit Illusionen“ (Khachani 2003, zitiert in Holert & Terkessidis 2006: 39). Damit gemeint ist der auffordernde Charakter des europäischen Arbeitsmarktes, der nach billigen und flexiblen Arbeitskräften verlangt, neben dem Aspekt der Abwehr und Unerwünschtheit von Immigrant_innen. Diese „Einwanderung ohne Einwanderungspolitik“ führt zu immer größerer informeller und somit irregulärer Mobilität (2006: 46). Marokko gilt seit Jahrzehnten als Emigrationsland, etwa 2,5 Millionen Menschen marokkanischer Herkunft leben in der EU. Im Schnitt hat jeder zweite Haushalt ein Familienmitglied in Europa. Die immense Bedeutung der marokkanischen Emigration wird an der Höhe der Rücküberweisungen deutlich: Marokko liegt auf Platz fünf der weltweiten Empfängerländer mit offiziellen jährlichen Rücküberweisungen in Höhe von 4,2 Milliarden USD (vgl. Heck 2008: 6). Nach einem Assoziationsabkommen im Jahre 2000 und im Zuge der verstärkten Abschottungspolitik Europas verpflichtete sich Marokko, die marokkanischen Staatsbürger_innen, die ohne Visum Spanien auf Booten erreichen, umgehend wieder zurückzunehmen. Sie werden oftmals noch am gleichen Tag mit großen Passagierschiffen zurück nach Marokko gebracht (Heck 2008: 5ff). Dies, so bestätigte mir ein Informant aus dem Senegal, schüre zusätzlich den Neid und den Rassismus der marokkanischen Bevölkerung gegenüber den Subsahara-Migrant_innen, da diese, einmal in Europa, nicht zurückreisen müssen und einen Antrag auf Asyl stellen können. Die etablierte Praxis der Deportationen von afrikanischen Migrant_innen in Europa blendete er dabei, wie die meisten meiner Informant_innen, völlig aus oder war sich sicher, dass ihm das nicht passieren könne. Die verstärkten Kontrollen in Mauretanien ab dem Jahre 2005, sowie die damit einhergehende Kriminalisierung und Verfolgung von Migrant_innen aus Subsahara-Afrika führten dazu, dass sich viele dort nicht mehr sicher fühlten. Die Migrationsrouten verlagerten sich nach Marokko. In den Städten im Zentrum des Landes finden zwar einige Arbeit und lassen sich für längere Zeit nieder. Staatliche Repressionen sind jedoch an den Grenzorten im Norden des Landes, die nur durch die Meeresenge von Gibraltar vom spanischen Festland getrennt sind, an der Tagesordnung. In meinen Gesprächen mit marokkanischen Polizisten und einem Vertreter einer marokkanischen NGO stellten sich diese am Ende meist als Opfer des europäischen Grenzregimes dar, das ihnen die Rolle als „Gendarmes de l´Europe“ zuwies. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Von dem Anstieg der Subsahara-Migration hat Marokko erheblich profitiert, was finanzielle und ökonomische Unterstützung aus Europa betrifft (vgl. El Qadim: 2007). Laut Zahlen von Amnesty International erhielt Marokko zwischen 2003 und 2010 insgesamt 67,6 Millionen an EU-Fördermitteln zur „Bekämpfung illegaler Migration“ (Amnesty International: Online). Außerdem wird durch die Mobilitätsabkommen der Status marokkanischer Emigrant_innen verbessert, was sich wiederum positiv auf die Rücküberweisungen auswirkt, die die Höhe von Entwicklungszahlungen um ein Vielfaches übersteigen. Der Fokus auf die Subsahara- Migrant_innen lenkt zudem von der marokkanischen Emigration ab, die zahlenmäßig, sowohl regulär als auch irregulär, immer noch die höchste Immigration von einem afrikanischen Land nach Europa darstellt (de Haas 2008: 13). In den letzten Jahren wurden die Kontrollen verstärkt und die europäischen Außengrenzen zunehmend militarisiert. Grenzkontrollen und sozialtechnologische EU-Governance werden in die ehemaligen europäischen Kolonien in Nordafrika ausgeweitet und verbinden ökonomische Interessen, Symbolpolitiken und die Produktion von Wissen (Friese: 199). In Marokko wird dieses Zusammenspiel von Macht und gegensätzlichen Interessen besonders deutlich. Gleichzeitig wurde es im Zuge der Militarisierung der europäischen Außengrenzen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu Europas engstem Verbündeten in der Abwehr illegalisierter Migration. Was dies für mein Forschungsfeld und die Lebens- und Arbeitssituation von Migrant_innen aus Subsahara-Afrika bedeutet, werde ich in den folgenden Kapiteln erläutern.

3. Durchführung der Forschung

Die vorliegende Arbeit basiert auf den Ergebnissen meiner viermonatigen Feldforschung in der Hafen- und Grenzstadt Tanger, sowie einigen kurzen Forschungsaufenthalten in der Hauptstadt Rabat und der Hafenstadt Nador, die unmittelbar an die spanische Exklave Melilla angrenzt. Zwischen Januar und April 2015 interviewte und begleitete ich die dort lebenden Subsahara-Migrant_innen. Das folgende Kapitel beginnt mit einer Selbstpositionierung sowie einer kritischen Reflexion meiner Rolle als Forscherin in diesem sehr konfliktiven Forschungsfeld. Danach werden die Auswahl und Anwendung der von mir verwendeten Forschungsmethoden reflektiert und die Ergebnisse meiner Social-Media-Recherche analysiert. Abschließend stelle ich die Migrantinnen und Migranten vor, die ich in Marokko begleitete.

3.1 Selbstpositionierung

Da vor allem in Tanger sehr oft europäische Hilfsorganisationen vor Ort sind, dachte die Community zu Beginn, ich wäre von der Caritas, von Human Rights Watch, oder eine Journalistin. Letzteren wird mit immer größerer Skepsis begegnet, da viele Migrant_innen in Tanger bereits interviewt wurden. Die europäischen Journalist_innen, so klagten sie, würden ihre „Story“ für viel Geld in Europa verkaufen und sie sehen davon keinen Cent7. Stattdessen wurde ich immer wieder um finanzielle Unterstützung für das Bezahlen von Schleppern gebeten oder dazu aufgefordert, den europäischen Regierungen von den Menschenrechtsverletzungen in Marokko zu berichten. Es fiel mir schwer, die Menschen gleich zu Beginn zu enttäuschen, da ich nicht wollte, dass sie mir deshalb Informationen vermitteln. Gleichzeitig belastete mich meine eigene Machtlosigkeit angesichts der marginalisierten Situation meiner Informant_innen. Dies spürte ich vor allem während der groß angelegten Razzia Anfang Februar, als die marokkanische Regierung beschloss, alle Subsahara-Migrant_innen, die sich in selbstgebauten Camps in den Wäldern vor der spanischen Exklave Melilla befanden, zu verhaften8. An diesem Tag klingelte mein Telefon ununterbrochen:

[...]


1 In der vorliegenden Masterarbeit verwende ich das _-Zeichen anstelle des Binnen - I. Die Verwendung entstammt feministischer Diskursen und Theorien und stellt den Versuch dar, sprachliche Geschlechtsmarkierungen zu vermeiden, die ausschließlich männlich oder weiblich sind. Bei Zitaten und Interviewaussagen verzichte ich auf diese Markierung, da ich den Personen keine Position unterstellen möchte, die von diesen inhaltlich nicht geteilt wird (Buckel 2013: 9).

2 Der Begriff „Rasse“ wurde aus der UNHCR-Definition im Wortlaut übernommen, ist jedoch ein historisch extrem belasteter Begriff mit rassistischen Implikationen, da dadurch eine Kategorisierung von Menschen vorgenommen wurde. Trotz vieler internationaler Appelle wird der Begriff immer noch im deutschen Grundgesetz, sowie in internationalen Menschenrechtsschutzdokumenten verwendet (Cremer 2016: online).

3 Antragsteller_innen aus Afrika müssen bei der Beantragung eines Besucher-Visums für Europa die Finanzierung ihrer Reise nachweisen oder die Einladung einer finanzstarken Person aus Europa vorlegen. Zusätzlich muss eine Reisekrankenversicherung mit einer Mindestdeckungssumme von 30.000 € für die gesamte Dauer ihres Aufenthalts vorgelegt werden. Schließlich müssen Antragsteller_innen ihre „Rückkehrbereitschaft“ nachweisen. Ob diese gegeben ist, liegt im Ermessen der deutschen Auslandsvertretung, und stellt häufig das größte Hindernis bei der Visabeantragung dar. Ein Arbeitsvisum ist einzig für Hochqualifizierte aussichtsreich. Für unqualifizierte Beschäftigte bestehen kaum Chancen, da kein Bedarf an ausländischen Arbeitskräften für diese Tätigkeiten besteht (Guillén 2014: online).

4 Die im Jahr 2006 gestartete Operation Hera führte laut Frontex zu einem Rückgang der Ankünfte von Booten auf den Kanaren um 70 % (innerhalb eines Jahres). Im Jahr 2010 galt die Quelle der „illegal“ Ankommenden auf den Kanaren als quasi versiegt. Im Jahr 2008 startete ebenfalls die Operation Minverva, die Grenzübertritte von Marokko und Algerien nach Spanien verhindern sollte. Auch hier gab Frontex einen Rückgang der Grenzübertritte von 23% bekannt. Zur gleichen Zeit verdoppelte sich die Anzahl der Migrant_innen, die Italien von Libyen aus erreichten (Rodier 2015: 109).

5 Die außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin im Europaparlament, Barbara Lochbihler, beziffert die Zahl der irregulären Subsahara-Migrant_innen in Marokko auf etwa 40.000 (Lochbihler 2014: online).

6 Die Zahlen sind inzwischen gestiegen, so betrug im Jahr 2014 die Zahl der Ankommenden aus Eritrea in Italien bereits 34.329, andere wichtige Herkunftsländer waren Mali (9.938), Nigeria (9.000), Gambia (8.707) und Somalia (5.756) (Quelle: http://www.iom.int/news/migrant-arrivals-sea-italy-top-170000-2014). Im Jahr 2015 erreichten etwa 3.845 Personen Spanien auf dem Seeweg. (Quelle https://www.iom.int/news/eu- migrant-refugee-arrivals-land-and-sea-approach-one-million-2015)

7 Beispielhaft sei hier die Geschichte eines gambischen Babys genannt, das große mediale Aufmerksamkeit in Frankreich und Spanien erhielt: Der Säugling kam alleine in der Piroge im spanischen Tarifa an. Seine Eltern schafften es nicht mehr rechtzeitig, in das Boot zu steigen, da sie von marokkanischen Grenzschützern drangsaliert wurden, die u.a. Steine warfen. Sie übergaben das Baby daher in letzter Minute den anderen Mitreisenden auf dem abfahrenden Boot. Das Baby ist bis heute bei einer Pflegefamilie, und trotz der medialen Präsenz erhielten die Eltern kein Visum zur Einreise. Der Vater ist inzwischen nach einer schweren Krankheit in Marokko verstorben. (Quelle: http://telquel.ma/2014/08/13/espagne-bebe-maroc-seul- patera_1413199)

8 Bei den Razzien in den Wäldern um die spanische Exklave Marokko wurden über 1000 Subsahara- Migrant_innen verhaftet. Sie wurden mehrere Tagen inhaftiert und schließlich im Süden des Landes auf freien Fuß gesetzt. (Quelle: https://www.amnesty.de/jahresbericht/2016/marokko-und-westsahara)

[...]

Ende der Leseprobe aus 66 Seiten

Details

Titel
Auswirkungen europäischer Externalisierungspolitik auf Subsahara-Migrant/-innen in Marokko
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Sozial- und Kulturanthropologie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
66
Katalognummer
V436367
ISBN (eBook)
9783668773080
ISBN (Buch)
9783668773097
Dateigröße
978 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Externialisierungspolitik, Subsahara, Migration, Marokko
Arbeit zitieren
Angela Schweizer (Autor:in), 2017, Auswirkungen europäischer Externalisierungspolitik auf Subsahara-Migrant/-innen in Marokko, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/436367

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