Leseprobe
Inhalt
1. Kurze Zusammenfassung des cuentos ,,Luvina“
1.1 Interpretation des cuentos ,,Luvina” unter inhaltlich-stilistischen Gesichtspunkten
1.2 Reflexionen über Juan Rulfos ,,Luvina“
Literaturverzeichnis
1. Kurze Zusammenfassung des cuentos ,,Luvina“
Der vorliegende cuento mit dem Titel ,,Luvina“ handelt von einem Professor,der einem fremden Mann in einer Taverne von seinem Leben in Luvina erzählt.
Der Akademiker verbrachte mit seiner Familie etwa 15 Jahre seines Lebens an diesem kargen,unwirtlichen,archaischen und friedhofähnlichen Ort,auf der höchsten und steinigsten Anhöhe des Südens gelegen,an dem es der größtenteils aus Senioren bestehenden Bevölkerung an existenziellen Dingen wie Nahrung und Wasser mangelt.
Die Menschen in Luvina kämpfen dabei nicht nur gegen Hunger und Durst,sondern auch gegen eine unbarmherzige Natur und sie können diesen Kampf ums nackte Überleben nur aufgrund ihres Glaubens an Gott,ihres archaischen Totenkults und ihrer atavistischen Verhaltensweisen bestehen.
Einst versuchte der Professor die Menschen in Luvina zum Fortgang zu bewegen,damit sich diese ein fruchtbareres Land suchen würden,doch scheiterte er dabei kläglich an der fatalistischen,auf Tradition und Gewohnheit basierenden Weltanschauung der Bewohner.
Nachdem er Luvina verlassen hat sitzt er nun als gebrochener und desillusionierter Mann in einer Taverne einem Fremden gegenüber,der ebenfalls beabsichtigt nach Luvina aufzubrechen und beginnt mit diesem ein Gespräch.
1.1 Interpretation des cuentos ,,Luvina” unter inhaltlich-stilistischen Gesichtspunkten
Der cuento beginnt abrupt mit einer Charakterisierung der näheren Umgebung Luvinas durch den Professor und führt den Leser unvermittelt und ohne Einleitung in die Erzählhandlung ein.
Dabei wird zuerst die unbelebte Natur in der Umgebung von Luvina (Stein,Erde,Wind,Sonne) und dann erst die belebte Natur (Vegetation) beschrieben.
Obgleich die Anhöhe von Luvina die höchste des Südens ist und dadurch in Bezug auf die Raumopposition ,,oben-unten“ symbolisch aufgewertet wird,erfolgt sogleich eine karge und trostlose Beschreibung derselben.Die Anhöhe ist nämlich steinig und vollgestopft mit grauem Stein,aus dem normalerweise Kalk gewonnen wird.
Die Bewohner nennen den Stein ,,Rohstein“ (piedra cruda) und den Abhang ,,Cuesta de la piedra cruda“.Sonne und Wind haben diesen Stein mit der Zeit zerbröckelt,sodass die Erde dort weiß und schimmernd daliegt,ganz als ob der Morgentau ständig über dieser liegen würde.
“De los cerros altos del sur,el de Luvina es el más alto y más pedregoso.Está plagado de esa piedra gris con la que hacen la cal(...).Allí la llaman piedra cruda,y la loma que sube hacia Luvina la nombran Cuesta de la piedra cruda.El aire y el sol se han encargado de desmenuzarla,de modo que la tierra de por allí es blanca y brillante como si estuviera rociada siempre por el rocío del amanecer [...]“[1]
Das Gelände ist steil und zerklüftet sich nach allen Seiten in tiefe Schluchten,aus denen der Wind tosend hinausweht,so als ob man ihn am Grund der Schlucht durch große Röhren geleitet hätte.
“Y la tierra es empinada.Se desgaja por todos lados en barrancas hondas,de un fondo que se pierde de tan lejano.[...]lo único que vi subir fue el viento,en tremolina,como si allá abajo lo tuvieran encanonado en tubos de carrizo“[2]
Vor dem inneren Auge des Lesers entsteht ein Bild von Luvina als ein trostloser,für Menschen lebensfeindlicher und funktionsloser Ort,an dem nicht mal der Rohstein zu Kalk weiterverarbeitet, also nutzbar gemacht wird.
“[...] esa piedra gris con la que hacen la cal,pero en Luvina no hacen cal con ella ni le sacan ningún provecho.“[3]
Bis zu diesem Zeitpunkt wird lediglich die unbelebte Natur in ihrer Kargheit,Unwirtlichkeit und grausamen Beständigkeit beschrieben (Stein,Wind,Erde,Sonne).Zudem gibt es noch keine Wechselbeziehungen zwischen unbelebter und belebter Natur,sondern nur Interaktionen innerhalb der Erstgenannten (Sonne und Wind zerbröckeln das Gestein).
Im nächsten Abschnitt wird jedoch zum ersten Mal eine Beziehung zwischen unbelebter und belebter Natur hergestellt und sogar -auf metaphorischer Ebene- eine Beziehung zwischen Natur und Mensch.
Der stetige Wind in Luvina lässt noch nicht mal ,,dulcamaras“ (Nachtschattengewächs) wachsen und der ,,chicalote“ (Stachelmohn),der im Schatten zwischen den Steinen wächst,wird sehr schnell welk.Die belebte Natur ist Extrembedingungen ausgesetzt.[4]
Entscheidend ist nun,wie Rulfo hier mittels Pesonifizierung der Natur zum ersten Mal ein untrennbares Band zwischen dieser und dem Menschen herstellt,welches auch im weiteren Verlauf des cuentos nie zerschnitten wird.
Die ,,dulcamaras“ werden als ,,traurige“ Pflänzchen beschrieben,die kaum lebensfähig sind und sich mit ihren ,,Händen“ am Abhang der Berge festkrallen.
“Un viento que no deja crecer ni a las dulcamaras:esas plantitas tristes que apenas se pueden vivir un poco untadas a la tierra, agarradas con todos sus manos al despenadero de los montes.“[5]
Zudem kann man den Stechmohn welken hören,denn beim Welken kratzt er mit seinen dornigen Zweigen die Luft und macht ein Geräusch,als ob man ein Messer über einen Schleifstein halten würde.
,,Entonces uno lo oye rasgunando el aire con sus ramas espinosas, haciendo un ruido como el de un cuchillo sobre una piedra de afilar. “[6]
Die belebte Natur (Vegetation) wird hier entweder mit Hilfe von menschlichen Gefühlen und Körperteilen personifiziert,oder aber mit Geräuschen aus der Menschenwelt assoziiert.
Sind die Menschen in Luvina etwa genauso beschaffen wie das traurige Nachtschattengewächs,das an diesem kargen und unwirtlichen Ort zwar verzweifelt festhält,aber dennoch kaum überleben kann?Genau dieser Eindruck entsteht beim Leser durch Rulfos geschickte,metaphorische Literaturkonzeption auf engstem Raum.
Der Professor erzählt nun dem fremden Mann,dass derWind in Luvina in allen Dingen Wurzeln schlage,so als würde er sie beißen.
“Se planta en Luvina prendiéndose de las cosas comno si las mordiera“
Desweiteren könne man den Wind Tag und Nacht unaufhörlich an den Wänden der Häuser kratzen hören, als ob er Nägel hätte.
“Luego rasca como si tuviera unas: uno lo oye a manana y tarde, hora tras hora, sin descanso [...]“[7]
Diese Personifizierung der Natur ist hier nur als eine Vorstufe zu einer fast schon symbiotischen Beziehung zwischen Mensch und Natur zu verstehen.In Luvina kriecht der Wind nämlich unter die Türen der Häuser,bis man ihn im eigenen Körper spüren kann,wie er dort brodelt und die Gelenke in unseren eigenen Knochen in Bewegung versetzt.
“[...] hasta sentirlo bullir dentro de uno como si se pusiera a remover los goznes de nuestros mismos huesos.“[8]
Zu diesem Zeitpunkt weiß der Leser jedoch noch nicht,dass es sich im vorliegenden cuento um einen Dialog zwischen zwei Männern handelt,der in einer Taverne außerhalb von Luvina stattfindet und somit der erzählte Ort (Luvina) nicht mit dem Erzählort (Tienda) identisch ist.Diese Tatsache wird erst ersichtlich, als der Professor den Fremden das erste Mal direkt anspricht.
“-Ya mirará usted ese viento que sopla sobre Luvina“[9]
Nach seiner sehr bildhaften Beschreibung des heftig wütenden Windes (s.o) verfällt der Professor in ein kurzes Schweigen und blickt das erste Mal nach draussen.Dabei wird der Raum außerhalb der Taverne als recht lebendig beschrieben.Man kann das Geräusch des ansteigenden Flusses hören,das Rumoren des Windes wie er sanft die Blätter der Mandelbäume bewegt und sogar lärmende Kinder, die auf einer kleinen Grünfläche spielen,die vom Licht des Ladens beleuchtet wird.
„Hasta ellos llegaban el sonido del río [...] ; el rumor del aire moviendo suavemente las hojas de los almendros, y los gritos de los ninos jugando en el pequeno espacio iluminado por la luz que salía de la tienda“[10]
Der Erzählort wirkt lebendig und wird zudem von Erwachsenen und Kindern bewohnt.
Es scheint eine Form von (tropischer) Vegetation zu geben und die Blätter der Mandelbäume werden vom Wind nur sanft bewegt,d.h dieser ist nicht so zerstörerisch und bedrohlich wie der Wind in Luvina.Zudem wird eine Grünfläche vom Laden beleuchtet.Man begegnet hier also auch einer Opposition von Licht (Tienda) und Dunkelheit (Luvina; z.B.,,aire negro“) die die verschiedenen Räume auch symbolisch voneinander abgrenzt.
Diese Raumbeschreibung steht im krassen Gegensatz zum unwirtlichen und lebensfeindlichen Luvina,wo der Wind manchmal ganze Dächer von den Häusern reißt und nichts dauerhaft gedeihen lässt.
“Y sobran días en que se lleva el techo de las casas como si se llevara un sombrero de petate [...]“[11]
Die Beschreibung des Ortes Luvina als lebensfeindlicher,vegetationsloser und für den Menschen bedrohlicher Ort erreicht im nächsten direkten Sprechakt des Professors,nachdem Rulfo das unwirtliche Bild von Luvina im Kopf des Lesers bereits von Beginn an systematisch aufgebaut hat, ihren Höhepunkt.
Der Professor behauptet,dass der Fremde in Luvina nie einen blauen Himmel sehen werde und das der Horizont dort farblos erscheine.Dieser sei immer durch einen schmutzigen Fleck getrübt,den man nicht beseitigen könne.Es gäbe nicht einen einzigen Baum,oder gar einen grünen Flecken Natur,auf dem die Augen mal ruhen könnten.
Ganz Luvina sei eingehüllt in aschfarbenen Nebel und der Fremde könne nur jene erstickten Anhöhen sehen,als seien sie tot.Und über allem thront Luvina mit seinem Weiler (Aussiedlungshof) wie eine Totenkrone.
“-Otra cosa, senor.Nunca verá usted un cielo azul en Luvina.Allí todo el horizonte está destenido; nublado siempre por una mancha caliginosa que se borra nunca. [...] ,sin un arból,sin una cosa verde para descansar los ojos;todo envuelto en el calín ceniciento.Usted verá eso: aquellos cerros apagados como si estuvieran muertos y a Luvina en el más alto, coronándolo con su blanco caserío como si fuera una corona de muerto “[12]
Die Beschreibung ist fast schon apokalyptisch.Luvina wird von Dunkelheit,Tristesse und Tod beherrscht,während der Raum um die Taverne lebendig, friedlich und bewohnbar erscheint.
Rulfo inszeniert hier geschickt auf gerademal eineinhalb Seiten Text eine Raumopposition,die so eindringlich und erschütternd ist wie der Gegensatz von Himmel und Hölle.Die Beschaffenheit von Luvina ist wie ein unveränderliches Naturgesetz.
Der Begriff ,,caserío“ hat hier neben der Bedeutung ,,Weiler/Gehöft“ auch noch die Bedeutung ,,Aussiedlungshof“.Hierbei handelt es sich um einen Hof,der von den Bewohnern verlassen worden ist,weil er sie nicht mehr ernähren kann.In Luvina mangelt es an lebensnotwendigen Grundnahrungsmitteln.Diese Interpretation wird sich im Verlauf des cuentos noch bestätigen.
Im Anschluß an die düstere Beschreibung Luvinas durch den Professors folgt nun wieder abrupt ein Perspektivenwechsel auf den Bereich außerhalb der Taverne.Die Rufe der Kinder nähern sich von draussen,bis sie schließlich die Taverne erreichen.Der Professor reagiert prompt darauf,geht an die Tür und ermahnt die Kinder,sie mögen sich von der Taverne entfernen und die Erwachsenen nicht stören.[13]
Der Professor ist durch die bloße Erinnerung an Luvina (Totenkrone) seelisch erschüttert worden und kann in diesem Moment die Lebendigkeit,die durch die lärmenden Kinder transportiert wird, kaum ertragen.Deshalb verweist er sie aus seinem kleinen Refugium,einerseits aus Selbstschutz und andererseits natürlich auch,um den Zuhörer von der Aussichtlosigkeit seiner Reise nach Luvina zu überzeugen.
Scheinbar beiläufig erzählt der Professor dem Zuhörer nun etwas über die Beschaffenheit der Natur in Luvina.Er spricht mehrfach davon,dass es in Luvina nur wenig regne und das etwa zur Mitte des Jahres Stürme aufziehen würden,die die Erde peitschen und zerreißen.
Man könne zudem sehen,wie die Wolken über den Anhöhen taumeln,als wären sie aufgepumpte Blasen die donnern,sobald sie am Kamm der Schluchten zerplatzen.Aber nach zehn bis zwölf Tagen würden die Stürme verschwinden und dann erst nach einem oder nach mehreren Jahren wieder auftauchen[14]
Diese fast schon beiläufig und emotionslos vorgetragene Naturbeschreibung in einfacher Sprache der Landbevölkerung führt dem Leser die Unbarmherzigkeit der Natur und die Bedrohlichkeit des Ortes Luvina für den Menschen nur noch eindringlicher vor Augen.
Rulfo verzichtet hier bewusst auf eine rhetorische oder emotionale Überhöhung und erreicht dadurch,dass die Funktionslosigkeit und Bedrohlichkeit von Luvina nur noch dramatischer zum Ausdruck kommt.Es gehört zu Rulfos literarischem Stil,dass er tragische Ereignisse und Widrigkeiten des Lebens beiläufig und emotionslos in einfacher Sprache eines fiktiven Protagonisten präsentiert und somit das tragische Element noch verstärkt.[15]
Es herrscht Wassermangel und das Land kann nicht urbar gemacht werden,sondern wird von den Stürmen regelrecht zerrissen.Aufgrund der geringen Regenmenge sei der Boden so trocken wie altes Leder,sei von Rissen durchzogen und von harten Erdklumpen bedeckt,die sich beim Gehen an die Füße festnageln würden,so als wären in Luvina sogar der Erde Dornen gewachsen.
“...Sí, llueve poco.Tan poco o casi nada, tanto que la tierra,además de estar reseca y achicada como cuero viejo, se ha llenado de rajaduras [...] [y] terrones endurecidos como piedras filosas, que se clavan en los pies de uno al caminar, como si allí hasta a la tierra le hubieran crecido espinas.[16]
In der Beiläufigkeit der Naturbeschreibung durch den Professor steckt zugleich ihre existenzielle Bedrohung für den Menschen.Die unwirtliche Natur hindert den Menschen daran sich weiterzuentwickeln und im Leben vorwärts zu kommen. (terrones se clavan en los pies)
Die Natur (Wind) bringt zudem Trauer über die Menschen und kehrt zyklisch immer wieder an ihren ,,Geburtsort“ zurück.Sie beeinflusst also nicht nur den Körper, sondern auch die seelische Verfassung der in Luvina lebenden Menschen.Der Leser kann bereits erahnen,dass sie niemals aus dem Teufelskreis der Hoffnungslosigkeit und des Fatalismus werden ausbrechen können.
In dieser zyklischen Beschreibung kommt zudem das indigene Kultursubstrat Lateinamerikas zum Ausdruck,als Gegenmodell zu einer linearen,christlichen Vorstellung von Anfang und Ende.
Hierbei handelt es sich also nicht um surrealistische Phantasien,sondern um eine magische Vorstellungswelt die mit der Volksreligiösität Hand in Hand geht.[17]
Ein weiteres Indiz für das indianische Kultursubstrat entdeckt man im cuento Luvina dort,wo der Satz mit,,Dicen los de Luvina que...“ oder ähnlichen Konstruktionen beginnt.
“Dicen los de Luvina que de aquellas barrancas suben los suenos; pero yo lo único que vi subir fue el viento[...]“[18]
“...Dicen los de allí que cuando llena la luna,ven de bulto la figura del viento [...]; pero yo siempre lo que llegué a ver [...] fue la imagen del desconsuelo.“[19]
[...]
[1] Rulfo, Juan : ,,El llano en lamas“ Ediciones Cátedra S.112 Z.1-8
[2] Ebd. Z.12-16
[3] Ebd. Z. 2-4
[4] Vgl. Ebd. Z.17
[5] Ebd. Z. 17-20
[6] Ebd. Z. 22-24
[7] Ebd. S.113 Z.32-33
[8] Ebd. Z.35-37
[9] Ebd. Z.26
[10] Ebd. Z.40 – 44
[11] Ebd Z.29 - 31
[12] Ebd.Z. 50-56
[13] Vgl. Ebd. Z.58-61
[14] Vgl. Ebd. Z.63-72
[15] Eitel,Wolfgang: Lateinamerikanische Literatur der Gegenwart. S.369
[16] Ebd. Z.73-78
[17] Janik,Dieter: Magische Wirklichkeitsauffasung im hispano-amerikanischen Raum. S.57ff.
[18] Rulfo, Juan : ,,El llano en lamas“ Ediciones Cátedra S.112 Z.14-15
[19] Ebd.S.114 Z.92-95