Leseprobe
Inhalt:
I Pro Ana und Pro Mia – Anorexia nervosa und Bulimia nervosa als „Lifestyle”?
II Zu den Begriffen und Klassifikation der Anorexia nervosa und Bulimia nervosa nach dem ICD X (Hauptteil)
2.1. Der Begriff der Anorexia nervosa und ihre Klassifikation nach dem ICD X amBeispiel von Pro Ana
2.2. Der Begriff der Bulimia nervosa und die Klassifikation nach dem ICD X am Beispiel von Pro Mia
III Mögliche Ursachen für die Entstehung der Anorexia nervosa und Bulimia nervosa
3.1 Das Körpererleben der Anorexia nervosa
3.2 Das Körpererleben der Bulimia nervosa
IV Die Suchtdynamik der Anorexia nervosa und Bulimia nervosa
4.1 Die Suchtdynamik der Anorexia nervosa
4.2 Die Suchtdynamik der Bulimia nervosa
V Wie kann man gegen Pro-Ana- und Pro-Mia-Seiten vorgehen?
VI Quellenverzeichnis
I Pro Ana und Pro Mia – Anorexia nervosa und Bulimia nervosa als „Lifestyle”?
Vor einiger Zeit sind erstmals in Amerika, später auch in anderen Ländern, wie bei uns in Deutschland, im Internet Portale und Websites aufgetreten, die Essstörungen, wie die Bulimia nervosa und die Anorexia nervosa verherrlichen und diese schweren psychischen Störungen als „Lifestyle“ propagieren. Junge Frauen mit einer psychisch bedingten Essstörung feuern sich dort gegenseitig zum Abnehmen an. Besonders der kachektische Körper wird angestrebt und als Idealzustand bezeichnet. Dabei werden feste Regeln auf den Seiten veröffentlicht, wie die Anhängerinnen dieses sog. „Lifestyles“ zu leben haben. Sie bezeichnen sich selbst als Ana´s bzw. im Fall der Bulimie als Mia´s. Die Mitgliedsregeln sind sehr streng. Die potenzielle Teilnehmerin muss vermitteln, dass sie ernsthaft bereit ist sich ins extremste Untergewicht zu hungern. Wer sich 14 Tage lang unentschuldigt nicht meldet muss das Portal verlassen und verliert somit seine (wahrscheinlich) einzigsten sozialen Kontakte. (vgl. Focus online, „Hungern bis zum Ende“) Die Internetseiten sind dabei oft ähnlich aufgebaut. Man findet Links, die sich mit Kalorienzahlen von Lebensmitteln beschäftigen, Listen über „erlaubte“ Nahrungsmittel, Aufzählungen über Tätigkeiten und der dabei festgestellte Kalorienverbrauch, Fotomontagen bei denen schlanke Prominenten noch dünner gemacht wurden, sowie Fotos über die Ana´s und Mia´s selbst. Letztere haben den Zweck, die dünnste und somit in ihren Augen schönste Teilnehmerin zu ermitteln, wobei regelrecht Wettbewerbe veranstaltet. Gerade dort liegt die Gefahr, denn die Anorektikerinnen hungern sich förmlich zu Tode. Den letzten Link in dem man sich dann befindet, ist der über die verstorbenen Anorektikerinnen.(ebd.) Als Antwort auf diesen „Trend“ wurden Foren, die die Themen Pro Ana und Pro Mia idealisieren per Gesetz verboten, dennoch tauchen immer wieder Seiten dieses Inhaltes im Netz auf, da sich die Pro Ana´s und Pro Mia´s immer wieder neu organisieren und andere Server und Homepage-Anbieter nutzen. 2001 erwirkte die Anorektikerin-Vereinigung beispielweise, dass in Amerika 115 Pro-Ana-Internetseiten geschlossen werden mussten. 2006 verbannt Ebay alles Artikel zum Thema Pro Ana aus seinem Sortiment und in Frankreich wurde ein Gesetz zum Schutz von Models vor Untergewicht erlassen. (vgl. Focus online, Gesetz zum Schutz der Hungerhaken)
Bei der Frage, warum sich Essgestörte in diesen Portalen aufhalten und sich freiwillig zu Tode hungern, werde ich zunächst das Thema Anorexia nervosa und Bulimia nervosa beleuchten. Ich werde die Begriffe und die Klassifikation der beiden Essstörungen nach dem ICD X betrachten, mögliche Ursachen zur Entstehung von Essstörungen betrachten, mich mit der Körperwahrnehmung der Betroffenen beschäftigen und versuchen die suchtdynamischen Elemente der Essstörungen darzustellen. Dabei werde ich immer wieder Bezug auf die Denkweisen der Pro Ana´s und Pro Mia´s nehmen.
II Zu den Begriffen und Klassifikation der Anorexia nervosa und Bulimia nervosa nach dem ICD X (Hauptteil)
Die Anorexia nervosa und Bulimia nervosa sind allgemein den Essstörungen zuzuordnen.
Diese beiden Störungen treten häufig bei Mädchen zur Zeit der Pubertät auf. Sie können auch mit Depressionen einhergehen. Den Essstörungen werden im Allgemeinen risikoerhöhende Bedingungen zugesprochen. Diese sind: das Geschlecht des Betroffenen, die pubertätsbedingten Entwicklungen und Veränderungen, ein geringes Selbstwertgefühl und eine allgemein sehr kritische bis verzerrte negative Selbst- und Körperwahrnehmung. (vgl. Petermann, Niebank, Scheithauer, S. 451) Ich beschäftige hier ausschließlich mit den Begriffen der Anorexia nevosa und dem der Bulimia nervosa da diese mit den Pro Ana´s und Pro Mia´s in direkten Zusammenhang stehen. Die Esssucht (Adipositas), welche ebenfalls zu den Essstörungen zählt, werde ich nicht weiter betrachten.
2.1. Der Begriff der Anorexia nervosa und ihre Klassifikation nach dem ICD X am Beispiel von Pro Ana
Die Anorexia nervosa oder auch Magersucht genannt, zeichnet sich durch die absichtliche Nahrungsverweigerung aus. Wobei Anorexie wörtlich Appetitlosigkeit und fehlendes Verlangen bedeutet und aus der griechisch-neulateinischen Sprache übernommen wurde. Dennoch sind Appetit und Hunger dennoch vorhanden, werden aber bewusst verneint, d.h. es handelt sich um eine willentliche Nahrungsverweigerung. Die Betroffenen reduzieren die Nahrungszufuhr auf ein Minimum, dennoch beschäftigen sie sich ständig mit Nahrung z.B. mit der Zubereitung. Die Kontrolle der eigenen Nahrungszufuhr erzeugt beim Betroffenen Gefühle von Stolz. Unabhängigkeit und Einzigartigkeit mit dem Ziel immer dünner zu werden ohne, dass ein Ende in Sicht ist. (vgl. Buchholz, S. 7ff) Die Betroffenen versuchen sich mittels der Internetportale von der Nahrungszufuhr abzulenken. Sie geben sich gegenseitig Tipps, wie sie den Tagesablauf ohne Essen besser bewältigen können. Einige dieser Tipps befassen sich mit der Anpassung an das Schönheitsideal des kachketischen Körpers. Sie halten sich beispielsweise an sich die Haare schön herzurichten, sich zu schminken und schöne Sachen anzuprobieren. Verbunden ist die Anprobe der Sachen jedoch mit dem Fakt, dass absichtlich kleinere Kleidergrößen gekauft werden mit dem Ziel soweit abzunehmen bis man in die Sachen hineinpasst. Weiterhin halten sich die Anorektikerinnen sich gegenseitig an sich neue Sachen zu kaufen in die sie noch nicht hineinpassen um eine Motivation für ein neues Ziel eines noch niedrigeren Gewichtes zu haben. Verbunden ist dies mit einer panischen Angst vor einer Gewichtszunahme. Die Anorektikerinnen versuchen die Gefahr einer Gewichtszunahme auf den Websites mittels Tipps wie: „ Denke so oft wie möglich dran wie fett du bist...hetz dich praktisch gegen dich selber auf...so wirst du automatisch nicht mehr so gerne essen...“ (Zitat pro-ana-pro-ich.chaps.de) oder „Lerne den Hunger zu lieben. Genieße ihn. Er zeigt dir, dass du auf dem richtigen Weg zu deiner Traumfigur bist.“(ebd.) Daher wird das Gewicht mehrmals täglich kontrolliert. Auch Körperpartien werden nachgemessen oder im Spiegel betrachtet, wie Bauch, Beine, Po, Oberschenkel etc. Das Hauptmotiv der Betroffenen besteht also dementsprechend in der Gewichtreduktion. Die Anorektikerin fühlt sich auch mit offensichtlichem Untergewicht noch zu dick. Dieses versucht sie auch mit zusätzlichem Erbrechen kleinster Essensmengen, der Einnahme von Medikamenten, wie Abführmitteln und übermäßiger Bewegung noch weiter nach unten zu drücken. Es können jedoch ähnlich, wie bei der Bulimia nervosa Anfälle von Heißhunger auftreten. Daher halten sich die jungen Frauen und Mädchen auf den Websites gegenseitig an durchzuhalten. Sie nehmen sogar paarweise ab in dem sie sich sogenannte Twins suchen, also Abnehmpartnerinnen, die sie bei Problemen und bei Ängsten die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren kontaktieren. Kleinste Mengen aufgenommener Nahrung werden erbrochen und mittels Abführmitteln abgeführt, wobei festzuhalten ist, dass ein abgemagerter Körper oberstes Ziel ist. (vgl. Buchholz, S. 7ff) Auffallend ist, dass von der Anorexia nervosa vorwiegend junge Frauen und Mädchen betroffen sind. Daher gilt sie auch als frauenspezifische Störung. Weiterhin handelt es sich vorrangig um Frauen aus der Mittel- und Oberschicht aus städtischer Umgebung, die betroffen sind.
Dabei kann man in Bezug auf die Symptomatik auf subjektiver Ebene Gefühle innerer Leere, fehlender Autonomie, Ich-Schwäche, sexuelles Desinteresse, Hilflosigkeit, sowie Angst und Vermeidung der eigenen Weiblichkeit und deren körperlichen Ausprägungen benennen.(vgl. Karren, S.12ff)
Im ICD X sind die genauen Diagnosekriterien festgelegt auf: 1. die Weigerung das Minimum des für das jeweilige Alter und Körpergröße normale Körpergewicht zuhalten, wobei der Gewichtsverlust zu einem dauerhaften Untergewicht von unter 85 % des Normalgewichts führt. Weiter aufgeführt werden ausgeprägte Ängste vor der Gewichtszunahme trotz des bestehenden Untergewichts. Außerdem wird eine Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur und des Körpergewichts, sowie ein übertriebener Einfluss des Körpergewichts oder der Figur auf die Selbstbewertung bzw. das Leugnen des Schweregrades des Untergewichts benannt. Das Ausbleiben von mindestens drei aufeinanderfolgenden Monatsblutungen, auch als Amenorrhoe benannt, ist ebenfalls ein Diagnosekriterium für Anorexia nervosa. In den diagnostischen Leitlinien des ICD X steht weiterhin, dass das tatsächliche Körpergewicht mindestens 15 % unter dem zu erwartenden Körpergewicht liegt. Der Gewichtsverlust wird selbst herbeigeführt durch Vermeidung von hochkalorischen Nahrungsmitteln, selbst induziertes Erbrechen, selbstinduziertes Abführen, übertriebene körperliche Aktivitäten, sowie der Gebrauch von Appetitzüglern oder Diurektika. Dabei müssen laut ICD X nicht unbedingt alle Symptome zutreffen. Weiterhin liegt bei den Betroffenen eine Körperschemastörung in Form einer psychischen Störung vor, d.h. die übermäßige Angst dick zu werden und das Festlegen einer sehr niedrigen Gewichtsschwelle. Zusätzlich eine Amenorrhoe bei Frauen und der Potenz- und Libidoverlust bei Männern. Tritt die Erkrankung vor der Pubertät auf geht sie mit verzögerten und gehemmten Entwicklungsschritten einher. Auch wenn im ICD X der Libidoverlust von betroffenen Männern angesprochen ist, sind vorwiegend Frauen betroffen. Helga Buchholz gibt den Prozentsatz der Anorektikerinnen zwischen 90 und 95 % an.(vgl. Buchholz, S. 9 ff)
2.2. Der Begriff der Bulimia nervosa und die Klassifikation nach dem ICD X am Beispiel von Pro Mia
Der Begriff der Bulimia nervosa beschreibt nur einen Aspekt des Krankheitsbildes, den unkontrollierten Heißhunger (Bous = Stier, limos = Hunger). (vgl. Buchholz, S. 7) Damit sind die immer wiederkehrenden Essanfälle gemeint, denen nicht widerstanden werden können. Diese Essanfälle finden heimlich statt, da es sich meist um ein Verschlingen von sog. „verbotenen“ hochkalorischen Lebensmitteln handelt, dabei werden die Essanfälle teilweise in den Tagesablauf mit eingeplant. Sie werden, aber auch durch Ängste oder Gefühle der inneren Leere ausgelöst. Beendet wird der Essanfall in den meisten Fällen durch selbst herbeigeführtes Erbrechen. Einige lösen ihn durch bloße Gedanken aus, andere benutzen Werkzeuge, wie Kleiderbügel, Kochlöffel, Gabeln etc. (vgl. Buchholz S.15ff) Auf den Pro Mia Portalen sind daher Tipps zu finden, wie man am leichtesten ein selbstinduziertes Erbrechen herbeiführen kann. Bei der sog. „Kohlensäure-Methode“ trinken die Bulimikerinnen einen Liter Mineralwasser nach dem Essanfall. Das soll den ersten Brechreiz auslösen. Dabei wird u.a. davor gewarnt nicht mehr als 4 Liter Wasser auf einmal zu trinken, da dies zum Tode führen kann, aber auch, dass man vor dem Brechen gut Luft holen sollte, da er sehr lange dauern könnte und man sonst Gefahr läuft sich zu verschlucken und dann zu ersticken. Bei der sogenannten „Kaffee-Methode“ wird geraten eine Tasse Kaffee zu trinken, die man vorher mit einem Esslöffel Salz versetzt hat um den Brechanfall auszulösen. Bei der Bauch-Press-Methode“ wird der Brechanfall, wie der Name schon sagt, durch einen kurzen aber heftigen Druck auf die untere Bauchregion ausgelöst. Außerdem werden auf den Websites u.a. beschrieben, dass Gegenstände eingeführt werden sollen, was natürlich die Verletzungsgefahr erheblich erhöht, da die Gegenstände in die Speiseröhre eingeführt werden. Beispielsweise fand ich den Tipp einen mittelgroßen Knoten in eine Plastiktüte zu machen, diesen anschließend zu schlucken um ihn dann wieder herauszuziehen. (vgl. http://the-beautiful-life-of-mia.chapso/kotztipps-s328171.html)Das dort die Erstickungsgefahr sehr groß ist, ist selbstverständlich. Die Einnahme von Abführmittel erfolgt manchmal zusätzlich, jedoch eher selten. Dabei wird der Beginn des Essens als lustvoll empfunden. Gefühle wie Wut, Ängste, Scham treten erst dann ein, wenn sich der Druck im Magen erhöht. Dann stellt sich Unbehagen ein und der Moment, dass das Essen ohne jeglichen Genuss einfach nur noch verschlungen wird und jede Kontrolle verloren geht. Eine strenge Fastenzeit, übertriebene sportliche Aktivitäten oder strenge Diäten stellen sich zwischen den Essanfällen ein. Dabei werden aber nur „erlaubte“ Nahrungsmittel, wie Salat, Gemüse und Obst gegessen, wobei die Gedanken der Betroffenen ständig ums Essen kreisen. Dabei gibt es das sog. „Sündigen“ nicht, denn die Betroffenen haben die ständige Angst – zurecht – die Kontrolle zu verlieren und einen erneuten Ess-Brech-Anfall zu erleiden. In diesem Punkt wird die Suchtdynamik der Bulimia nervosa deutlich. Dazu aber später mehr. Nun erst einmal zu den diagnostischen Kriterien der Bulimia nervosa nach dem ICD X. Danach ist eine Essattacke durch das Verzehren erheblich großen Nahrungsmenge in einem bestimmten Zeitraum, wozu andere Menschen nicht in der Lage wären. Einher geht die Essattacke mit dem Gefühl die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren, wie z.B. das Gefühl nicht mit dem Essen aufhören zu können oder nicht die Kontrolle über die Art und Menge der Nahrungsmittel zu haben. Weiterhin ist die unangemessene Anwendung von der Gewichtszunahme entgegensteuernden Mitteln, wie beispielsweise selbstinduziertes Erbrechen, Diät halten, übermäßige körperliche Bewegung sowie das Benutzen von Klistieren und Abführmitteln zu benennen. Der Zeitraum für die Fressattacken und das Kompensationsverhalten sollte laut ICD X drei Monate mindesten zweimal pro Woche vorkommen. Für das Selbstwertgefühl haben Figur und Gewicht eine übermäßige Auswirkung. In den diagnostischen Leitlinien des ICD X steht, dass die Betroffenen eine übertriebene Beschäftigung, sowie eine übertriebene Gier nach Nahrungsmitteln aufweisen, dass die Patienten immer wieder Essattacken erleiden bei denen in kürzester Zeit extreme Mengen an Nahrung verschlungen werden. Dabei versucht die Patientin anschließend den dickmachenden Effekt der Nahrung durch entgegensteuernde Verhaltensweisen, wie selbstinduziertes Erbrechen, Abführmittel etc. zu kompensieren. Psychopathologische Auffälligkeiten finden sich in der übermäßigen Angst dick zu werden mit einer extrem niedrigen Gewichtsgrenze. In der Vorgeschichte findet sich meist eine Episode von mehreren Monaten einer Anorexia nervosa. (vgl. Buchholz S. 12ff)
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