Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Forschungsstand
1.2 Forschungsfrage
2. Analyse des DEFA-Fernsehfilms Ich, Thomas Müntzer, Sichel Gottes
2.1 Historisch-politischer Kontext
2.1.1 Das Konzept der frühbürgerlichen Revolution in den 1970er Jahren
2.1.2 Das Luther-Jubiläum 1983 im Zeichen von Erbe und Tradition
2.1.3 Das Müntzer-Jubiläum 1989 im Zeichen der friedlichen Revolution
2.2 Produktionsbedingungen
2.3 Inhaltsangabe und Szenenanalyse
2.3.1 Inhaltsangabe
2.3.2 Anfangsszene [00:00:00-00:01:40]
2.3.3 Disputation zwischen Müntzer und Spalatin [00:48:39-00:52:29]
2.3.4 Fürstenpredigt [01:48:20-01:54:16]
2.4 Rezeption
3. Fazit
Anhang: Sequenzprotokoll
Quellen- und Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Es gab eine Zeit, wo Deutschland Charaktere hervorbrachte, die sich den besten Leuten der Revolution anderer Länder an die Seite stellen können, wo das deutsche Volk eine Ausdauer und Energie entwickelte, die bei einer zentralisierten Nation die großartigsten Resultate erzeugt hätte, wo deutsche Bauern und Plebejer mit Ideen und Plänen schwanger gingen, vor denen ihre Nachkommen oft genug zurückschauern.[1]
Einen solchen Charakter sah Friedrich Engels in Martin Luthers reformatorischem Gegenspieler Thomas Müntzer, der aufgrund seiner Teilnahme an den mitteldeutschen Aufständen im Rahmen des Deutschen Bauernkrieges am 30. Mai 1525 vor den Toren der Stadt Mühlhausen hingerichtet worden war. Engels’ 1850 veröffentlichtes Werk über den Deutschen Bauernkrieg stand für das wieder erwachte Interesse an Müntzer, das im Zuge der Französischen Revolution, des Vormärzes und der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhundert eingesetzt hatte. Zu diesem trug zunächst der Göttinger Historiker Georg Satorius mit seinem Werk Geschichte der lutherschen Reformation und des deutschen Krieges bei, indem er die bereits von Martin Luther und Philipp Melanchthon betriebene Dämonisierung Müntzers relativierte und ihn stattdessen, unter den Eindrücken der Französischen Revolution, als revolutionären Agitator darstellte: „[K]ühn, berechnend, kalt, voller Ehrgeiz, Machtwillen und Herrschsucht, der die Menschen mit betrügerischen Mitteln an sich zu ketten sucht.“[2] Die Vordenker des Vormärz, wie der schwäbische Theologe und Historiker Wilhelm Zimmermann, erkannten in Müntzers Theologie eine Alternative im Strom der reformatorischen Bewegung, die ihren eigenen Ideen von einer liberalen und demokratischen Erneuerung gesellschaftlicher Verhältnisse glich.[3] ;[4]
Engels knüpfte in seiner Darstellung des Bauernkrieges an Zimmermanns Allgemeine Geschichte des deutschen Bauernkriegs [5] an. Das Werk entstand während der Märzrevolution 1848/49, die mit dem Sieg der Restauration über die liberal-demokratischen Kräfte endete. Angesichts dieser Niederlage wollte Engels an die revolutionären Traditionen der deutschen Geschichte erinnern.
Seine Darstellung des Bauernkrieges stellt eine Art Analogieschluss zwischen 1525 und 1848 her. Engels teilt die Gesellschaft der Reformationsära in soziale Gruppen ein. Die ‚bürgerliche Reform’ wird von Martin Luther repräsentiert, während Müntzer und die Bauern im Verständnis von Engels ‚plebejische Revolutionäre’ sind. Das Scheitern der Bauern lastet Engels den gemäßigten Kräften um Luther an, die sich von der von ihnen in Gang gesetzten Revolution überrollt gesehen hätten. Ihr Pakt mit der Obrigkeit habe daher, ebenso wie das Bündnis der Liberalen mit den reaktionären preußischen und habsburgischen Königshäusern gegen die Arbeiterklasse während der Märzrevolution, zur Niederlage der revolutionären Partei geführt.[6]
In der Theologie Thomas Müntzers sieht Engels ein frühkommunistisches Programm, das dieser im Stile eines ‚Revolutionspropheten’ verbreitetet habe. Die Ziele des Reformators seien nicht religiös, sondern politisch motiviert gewesen:
Unter Reich Gottes verstand Müntzer nichts anderes als einen Gesellschaftszustand, in dem keine Klassenunterschiede, kein Privateigentum und keine den Gesellschaftsmitgliedern gegenüber selbstständige, fremde Staatsgewalt mehr besteht.[7]
Diese säkularisierte Darstellung Müntzers als Repräsentant und Anführer einer „revolutionären, plebejischen Bauernpartei’ wurde von zahlreichen sozialistischen Autoren des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts übernommen.[8] In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildete sie schließlich das Fundament der Müntzer-Rezeption in der DDR, die in dieser Arbeit analysiert werden soll.
1.1 Forschungsstand
Die zentrale Rolle des Thomas Müntzer in der Geschichtspolitik[9] und Erinnerungskultur[10] der DDR ist im Rahmen der seit den 1990er Jahren reüssierenden Gedächtnisgeschichte in mehreren Studien aufgearbeitet worden. Die Politikwissenschaftler Herfried Münkler[11] und Raina Zimmering[12] haben in ihren in den Jahren 1996 und 2000 erschienen Forschungsarbeiten den Mythenbegriff in die rezeptionsgeschichtliche Forschung zu Thomas Müntzer eingeführt. Münkler und Zimmering definieren politische Mythen als Narrationen, also Geschichten, die von den Ursprüngen, dem Sinn und der geschichtlichen Mission politischer Gemeinschaften handeln, um Orientierungen und Handlungsoptionen zu ermöglichen. Politische Mythen sind also Medien politischer Legitimation und Integration für Gruppen von Menschen, seien es Parteien, Nationen oder Staaten.[13]
Münkler und Zimmering vertreten die These, dass die SED-Führung versuchte, das Gedenken an Thomas Müntzer und den deutschen Bauernkrieg als Ersatz für die fehlende Gründungserzählung der DDR im kulturellen Gedächtnis[14] des Landes zu etablieren. Die DDR sollte mithilfe eines neuen Geschichtsbildes nicht als Resultat sowjetischer Okkupation, sondern als zwangsläufiges Ergebnis historischer Prozesse in der deutschen Geschichte dargestellt werden. Diese neue Lesart der Nationalgeschichte knüpfte an Friedrich Engels Interpretation des Bauernkrieges an, in der ein Zugehörigkeitsbezug zur revolutionären Müntzer-Partei hergestellt wird, deren egalitäre und demokratische Ziele in der DDR zu ihrer Vollendung gekommen wären. Das Selbstverständnis der DDR als revolutionäre Gesellschaft sollte so historisch legitimiert werden.[15]
Da Thomas Müntzer zu Beginn der 1950er Jahre in der DDR kaum bekannt war, bedurfte es zur Prägung dieses ‚Müntzer-Mythos’ einer umfangreichen geschichtspolitischen Kampagne der SED, zu der zahllose Wissenschaftler, Intellektuelle und Künstler ihren Beitrag leisteten.[16] Laurenz Müller[17] und Alexander Fleischauer[18] arbeiten diese Vermittlungsleistungen der DDR-Funktionseliten in ihren Studien auf. Während Müller ausschließlich die Rolle der DDR-Geschichtswissenschaft innerhalb der SED-Geschichtspolitik beleutet, analysiert Fleischauer anhand der Planungen verschiedener Reformationsjubiläen in der DDR, wie sich das Müntzerbild im Spannungsfeld von Geschichtswissenschaft und Erinnerungspolitik veränderte.[19] Durch diesen analytischen Rahmen gelingt es Fleischauer detailliert die Diskussionen um Müntzer nachzuzeichnen, die „in Wissenschaft, Literatur, politischer Führung auf höchster Ebene und nicht zuletzt auch im Gespräch der Kirchen mit staatlichen Instanzen und den Repräsentanten der historischen Wissenschaften geführt wurden“[20].
Die von Fleischauer skizzierten Veränderungen des Müntzerbildes vollziehen sich in drei Rezeptions-Phasen, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen:
1. Phase (1949–1960): Nachdem die sogenannte Misere-Theorie, die besagt, dass die deutsche Geschichte seit dem 16. Jahrhundert in fataler Weise auf die Diktatur und die Verbrechen des Nationalsozialismus zugestreuert sei, im Jahre 1951 als „reaktionäre und antinationale Konzeption“[21] verworfen wurde, rückte die SED fortan die progressiven Traditionen der deutschen Geschichte in den Blickpunkt. Zur Förderung des nationalen Kulturerbes sollten, so die Forderung der ZK-Entschließung vom Oktober 1951, jene Deutsche besonders gewürdigt werden, die eine fortschritliche Rolle in der Geschichte gespielt hätten. Thomas Müntzer stand in der folgenden Auflistung an erster Stelle.[22] Er sollte als neue Identifikationsfigur dargestellt werden, deren Forderungen nach einer egalitären und demokratischen Gesellschaft in der DDR realisiert worden seien. Die Herorisierung Müntzers ging mit einer weitgehenden Abwertung Martin Luthers einher, dessen Bündnis mit den Fürsten während des Bauernkrieges – noch in der Tradition der Misere-Theorie – als Ausdruck einer langen Tradition des Verrates und der politischen Reaktion in der deutschen Geschichte angesehen wurde.[23]
Die Umsetzung der weiteren Forderung der SED, dass Persönlichkeiten wie Luther und Müntzer in eine in sich geschlossene, den Leitgedanken des historischen Materialismus[24] entsprechende, Geschichtskonzeption integriert werden sollten, bezeichnet Fleischauer für die Frühphase der Müntzer-Rezeption in der DDR dagegen als gescheitert.[25]
2. Phase (1960–1980): Die Ausarbeitung einer solchen Geschichtskonzeption glückte Max Steinmetz 1960 mit seinem Konzept der frühbürgerlichen Revolution. Die zunächst dominanten nationalistisch-materialistischen Interpretation dieser marxistischen Meistererzählung entstand im Rahmen der sogenannten Zwei-Linie-Theorie. Dieser Theorie zufolge, sind in der deutschen Geschichte eine progressive und eine reaktionäre Linie zu erkennen. Während die progressive Linie in der DDR ihren Höhepunkt erreicht habe, sei die reaktionäre Linie in der Bundesrepublik aufgegangen.[26] Teil der progressiven Linie waren, laut Steinmetz, die reformatorische Bewegung bis zum Wormser Reichstag von 1521 und der deutsche Bauernkrieg. Luther und der Reformation kommt die Funktiom eines Wegbereiters zu, der die von Müntzer und den Bauern durchgeführte frühbürgerliche Revolution lancierte. Luther, so die Deutung von Steinmetz, habe sich in einer Krisenphase, die von ökonomischen Umbrüchen und einer immer stärkeren territorialen Zersplitterung Deutschlands geprägt gewesen sei, an die Spitze einer breiten antirömischen Bewegung gestellt, die die Einheit der deutschen Nation zum Ziel gehabt habe:
Durch Luther wurde aus den zerstreuten und zersplitterten Kämpfen der Vorbereitungsperiode eine Bewegung nationalen Ausmaßes, eine gesamtnationale, reformatorische Bewegung […] von nie da gewesener Durchschlagskraft. Ohne diese lutherische Bewegung von 1517 bis 1521 hätte es keine Müntzerpartei und keine Volksreformation gegeben.[27]
Thomas Müntzer spielt in dieser Narration die Rolle eines „Repräsentanten der ersten proletarischen Elemente in der zerfallenden Feudalordnung“[28], der die Forderungen nach einem einheitlichen Nationalstaat bis zu seiner revolutionären Konsequenz verfolgt habe. Luther repräsentiert nach Steinmetz durch sein Bündnis mit der fürstlichen Obrigkeit nach dem Wormser Reichstag von 1521 jedoch ebenso die reaktionäre Linie deutscher Geschichte. Seine Haltung während des Bauernkrieges, als er die Fürsten dazu aufgefordert hatte mit dem Schwert gegen die Aufständischen vorzugehen, bezeichnet Steinmetz gar als „erbärmlich“.[29]
Im Rahmen der welthistorisch-dialektischen Interpretation der frühbürgerlichen Revolution, die ab den späten 1960er Jahren vertreten wurde, wird die von Luther angestoßene Bewegung dann in einen größeren, europäischen Zusammenhang gestellt. Sie steht nun am Beginn einer Fülle bürgerlicher Revolution, die die Ablösungen des Feudalismus durch den Kapitalismus eingeläutet habe. Diese Entwicklung wird jedoch als Revolution gegen die Produktionsverhältnisse des Spätfeudalismus gedeutet, in der der Theologie Luthers keine eigenständige Wirkung zukommt.[30]
Das von Max Steinmetz begründete Theorem der frühbürgerlichen Revolution wurde 1967 im Rahmen des 450-jährigen Reformationsjubiläums weiten Kreisen der Bevölkerung zugänglich gemacht und erlangte in den 1970er Jahren eine nahezu kanonische Bedeutung für das marxistische Geschichtsverständnis der DDR.[31]
3. Phase (1980–1989): Die langsame Erosion der materialistischen Interpretation der frühbürgerlichen Revolution setzte um das Jahr 1980 ein.[32] Auslöser dieser Entwicklung war ein Wandel im Geschichtsverständnis der DDR. Statt wie bisher im Rahmen der Zwei-Linien-Theorie üblich, sollten die nationalen Traditionen nicht mehr nur aus dem progressive Strang der deutschen Geschichte, sondern auch aus den nur bedingt fortschrittlichen Elementen des historischen Erbes bezogen werden. Die SED erhoffte sich durch diesen Richtungswechsel die historische Legitimationsbasis der DDR verbreitern und die Identifikation der Bürger mit dem Staat, die in den späten 1970er Jahren durch die politische und wirtschaftliche Stagnation in der DDR einen vorläufigen Tiefpunkt erreicht hatte, erhöhen zu können.[33]
Im Rahmen der in den Jahren 1976 bis 1980 geführten Diskussion über ein neues Geschichtsverständnis wurde der Anspruch der DDR auf die gesamte deutsche Geschichte deutlich. Ausdruck fand dieser Anspruch in der Formel von ‚Erbe und Tradition’, die Horst Bartel vom ZfG bei der AdW wie folgt definierte:
Der Begriff Erbe umfasst […] alles in der Geschichte Existierende, die gesamte Geschichte in ihrer Widersprüchlichkeit. Diesem Erbe haben wir uns zu stellen, wir können es nicht ungeschehen machen, sondern haben es im kritischen Sinne zu bewältigen. […] Demgegenüber gehören zur historischen Tradition oder zum Traditionsbild der DDR nur diejenigen historischen Entwicklungslinien, Erscheinungen und Tatsachen, auf denen die Deutsche Demokratische Republik beruht, deren Verkörperung sie darstellt, die sie bewahrt und fortführt. Tradition und Traditionsbild umfassen also nur einen Teil der Geschichte, nur einen Teil des gesamten Erbes.[34]
Auf Grundlage dieses Verständnisses von Erbe und Tradition setzte ein Wandel der DDR-Geschichtswissenschaft hin zu einer personenzentrierten Geschichtsschreibung ein. Statt der materiellen Strukturen, Klassenkämpfe und gesellschaftlichen Antagonismen, die stets im Mittelpunkt marxistischer Historiographie gestanden hatten, wurden nun die Taten der ‚großen Männer’ der deutschen Geschichte beleuchtet. Die einzelnen Personen, die nun zur Traditionskonstruktion herangezogen wurden, ließen sich immer schlechter unter dem Dach der marxistischen Metaideologie zu einem sinnvollen Gesamtbild zusammenführen, weshalb das bisher an scharfen Konturen orientierte DDR-Geschichtsbild zunehmend an Profil verlor.[35]
Martin Luther erfuhr im Rahmen dieses neuen Paradigmas im Zuge seines 500. Geburtstages im Jahr 1983 eine enorme Aufwertung. Im Gegensatz zum 450-jährigen Reformations-Jubiläum 1967, als Luther noch als Wegbereiter Müntzers gefeiert worden war, wurde seiner Theologie nun eine eigenständige, welthistorische Wirkung zugesprochen, die ihn, wie Fleischauer schreibt, „endgültig aus dem Korsett der Wegbereiterrolle befreite“[36] und zur Schlüsselfigur der frühbürgerlichen Revolution werden ließ.[37] Die Betonung der Weltwirkung der lutherschen Reformation habe Müntzer, der ausschließlich in Mitteldeutschland gewirkt hatte, endgültig zum ‚Komparsen’ Luthers werden lassen. Der einflussreiche Historiker Adolf Laube forderte daher die frühbürgerliche Revolution, auch hinsichtlich des Müntzer-Jubiläums 1989, wieder als Ereignis der deutschen Geschichte in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen und die Wirkung auf den europäischen Revolutionszyklus weitgehend auszuklammern.[38] Hierbei sollte nach dem Willen Laubes vor allem die theologische Dimension der frühbürgerlichen Revolution weiter aufgearbeitet werden.
Die stärkere Auseinandersetzung mit den theologischen Positionen Müntzers im Vorfeld des Jubiläums von 1989 führte schließlich zu einem Bruch führender DDR-Historiker mit dem bisherigen Müntzerbild der marxistischen Geschichtswissenschaft. Im Rahmen der internationalen Konferenz Thomas Müntzer – Geschichte und Wirkung vom 29. August bis zum 1. September 1989 in Halle demontierte Adolf Laube das Bild Müntzers als Frühkommunisten, indem er einräumte, dass „die Forderung nach Gütergemeinschaft […] einfach nicht in Müntzers Theologie [passt].“[39] Vielmehr wären Müntzers Vorstellungen vom Reich Gottes ausschließlich als ein Element seiner apokalyptischen Theologie zu verstehen. Noch weiter ging Gerhard Brendler, der das gesamte, auf Engels basierende, Müntzerbild infrage stellte:
Damals war wohl noch keine einzige Müntzerschrift editiert, jedenfalls kaum etwas bekannt, und nun sind die Kenntnislücken, die Irrtümer und wohl auch die blanke Phantasie von Wilhelm Zimmermann, ausgestattet mit der Autorität von Engels, in das offizielle Geschichtsbild der DDR eingegangen. Da müssen wir wieder heraus. Das ist das ganze Problem.[40]
Die neuen Ergebnisse der Forschung wurden im Rahmen der Feierlichkeiten zum Müntzer-Jubiläum dagegen komplett ignoriert. Stattdessen griffen die Redner in den Wirren des Wendejahres 1989 auf das traditionelle, in den 1950er Jahren entstandene, Bild des Sozialrevolutionärs Thomas Müntzer zurück, um den kollabierenden Staat zu stabilisieren. So betonte der Chefideologe der SED Kurt Hager bei seiner Rede zur Eröffnung des Panoramamuseums Frühbürgerliche Revolution in Bad Frankenhausen am 14. September 1989, dass die Forderung Müntzers Die Gewalt soll gegeben werden dem gemeinen Volke „seit nunmehr vier Jahrzehnten in der DDR erfüllt [sei]“.[41] Anschließend stellte Hager eine Verknüpfung der aktuellen politischen Situation mit dem Geschichtsbild der SED her, indem er die ‚führenden Kräfte der BRD’ mit den Feinden der Bauern von 1525 verglich und die Eröffnungsfeier damit zu einer Kampfveranstaltung für den kriselnden Staat umfunktionierte.[42]
Angesichts der skizzierten Entwicklungen stellt Alexander Fleischauer am Ende seiner Darstellung des Müntzerjubiläums resümierend fest:
Trotz der zentralen Steuerung der Geschichtsinterpretation und -propaganda in der DDR wurde 1989 kein einheitliches Müntzerbild vertreten, hier gab es offensichtlich Spielräume. Die Spannbreite dieser Spielräume war […] erheblich.[43]
1.2 Forschungsfrage
Das Ziel in dieser Arbeit ist es, anknüpfend an die These Fleischauers, einen genauen Blick auf das diffuse Müntzerbild in den letzten Jahren der DDR zu werfen. Hierfür soll anhand einer Analyse des Fernsehfilms Ich, Thomas Müntzer, Sichel Gottes aus dem Jahr 1989 die Frage beantwortet werden, inwiefern das Medium Film, das in der DDR seit der Staatsgründung als äußerst relevantes Hilfsmittel für die Vermittlung eines neuen Geschichtsverständnisses angesehen wurde, den veränderten Stand der Müntzerforschung abbildet oder – wie in zahlreichen anderen Müntzerdarstellungen aus dem Jubiläumsjahr 1989 geschehen – ignoriert. Außerdem wird, ausgehend von der Prämisse, dass fiktionale Geschichtsdarstellungen mit Authentizitätsanspruch mehr über die Geschichte ihrer Produktion als über ihren historischen Gegenstand aussagen[44], nach den gesellschaftlichen Normen, Werten und Haltungen gefragt, die der, in Zeiten gesellschaftlicher und politischer Instabilität entstandene, Fernsehfilm transportiert.
Die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen wird dadurch erschwert, dass in der Geschichtswissenschaft zwar seit dem Cultural Turn der 1990er Jahre ein grundsätzlicher Konsens über die herausragende Bedeutung von Spielfilmen bei der Prägung des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft besteht, aber über die tatsächliche Vorgehensweise, wie dieses Medium analysiert werden sollte, herrscht, laut Günter Riederer, nach wie vor große Unsicherheit.[45] Dieses Problem im Umgang mit Filmquellen muss durch die Entwicklung einer eigenen, der Zielsetzung der Untersuchung adäquaten, Methodik gelöst werden. Diese methodischen Vorüberlegungen werden daher der in Kapitel 2 folgenden Filmanalyse vorangestellt.
2. Analyse des DEFA-Fernsehfilms Ich, Thomas Müntzer, Sichel Gottes
In seiner Analyse des schwierigen Verhältnisses der Geschichtswissenschaft zu Spielfilmen kritisiert Günter Riederer im Jahr 2003 die Tendenz der historiographischen Filmanalyse, sich vor allem mit den Bereichen Produktion, Inhalt und Rezeption zu beschäftigen und dabei filmästhetische Fragen vollkommen zu vernachlässigen.[46] Dieses Vorgehen orientiert sich an dem, bereits in den 1970er Jahren von Friedrich P. Kahlenberg entwickelten ‚3-Stufen-Modell’, das die drei von Riederer genannten Bereiche wie folgt miteinander zu verbinden sucht:
In einem ersten Schritt sollte sich historische Filmanalyse der Frage nach dem Entstehungszusammenhang von Filmen widmen. Darunter fallen die Untersuchung der Provenienz sowie die Kenntnis der Aufnahmevoraussetzungen und der Aufnahmesituation. Daran schließt sich die Untersuchung und die Frag nach formaler und inhaltlicher Gestaltung eines Films an. Abgeschlossen wird dieses Verfahren durch die Analyse der Wirkung und Rezeption eines Films.[47]
Durch die Orientierung an Kahlenbergs ‚3-Stufen-Modell’ bestehe jedoch, laut Riederer, die Gefahr, eine ‚Filmgeschichte ohne Film’ zu schreiben. Um den Film nicht aus den Augen zu verlieren, habe sich der Historiker, auf die Filmbilder selbst einzulassen, deren Wirkung „vor allem im Gefühlsmäßigen [und] im Unbewussten“[48] liegen würden. Da sich die Analyse der visuellen Ausdruckskraft des Mediums Film jedoch nicht in das Raster der klassischen historischen Quellenkritik einfügen lasse, müsse auf Methoden aus den Nachbardisziplinen Medien- und Filmwissenschaft zurückgegriffen werden.[49]
Der für diese Arbeit entwickelte methodische Ansatz, der sich an einer von Helmut Korte entwickelten Systematik orientiert[50], versucht die Kritik Riederers zu berücksichtigen, indem sowohl die Bereiche Produktion, Inhalt und Rezeption als auch die Filmbilder selbst in die Untersuchung einbezogen werden, um so eine ganzheitliche Analyse zu erzielen. Hierzu wird zunächst, auf Grundlage der Forschungsarbeiten von Alexander Fleischauer und Laurenz Müller, die Bedeutung und Entwicklung des Konzeptes der frühbürgerlichen Revolution für das Geschichts- und Traditionsverständnis der DDR dargestellt. Der bereits in der Einleitung skizzierte Wandel des Konzepts im Zeichen von Erbe und Tradition wird anhand verschiedener wissenschaftlicher Publikationen ebenso beschrieben wie die gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der friedlichen Revolution des Jahres 1989. Die Illustration dieser Veränderungen bildet die Grundlage für die Deutung des Bedeutungspotenzials des Spielfilms Ich, Thomas Müntzer, Sichel Gottes.
In einem zweiten Schritt werden die Produktionsbedingungen des Films untersucht. Diese konnten anhand der im DRA einsehbaren Filmunterlagen rekonstruiert werden. Die erschlossenen Quellen gaben sowohl Aufschluss über die ökonomischen und fernseh-politischen Aspekte des Films, als auch über die Einflussnahme der Fachberater auf die Produktion. Da nach dem Studium der Quellen noch einige Fragen zu den Produktionsbedingungen offen waren, wurden des Weiteren Interviews mit dem Hauptdarsteller Veit Schubert und mit der Produktionsdramaturgin Rosemarie Wintgen geführt.
Anschließend erfolgt eine immanente Bestandsaufnahme des Films selbst. Zu diesem Zweck wird zunächst der Handlungsverlauf beschrieben, ehe sowohl die zentralen Monologe und Dialoge als auch die audio-visuelle Gestaltung des Films durch Kamera, Musik und Montage anhand dreier Schlüsselszenen analysiert werden. Bei dieser Auswahl handelte es sich um die folgenden drei Szenen: Zunächst wird die Anfangsszene des Filmes analysiert, die sich durch ihre Inszenierung deutlich von der Anfangsszene der Verfilmung des Jahres 1956 unterscheidet. Im Anschluss soll die Disputation zwischen Thomas Müntzer und Georg Spalatin, dem Beichtvater Friedrich des Weisen und Vertrauten Luthers, betrachtet werden. Durch die Inszenierung dieser Disputation durch Regisseur Kurt Veth werden die Zuschauer in die Lage versetzt, die theologischen Differenzen zwischen Luther und Müntzer, die in den 1980er Jahren auch im Mittelpunkt der Forschung zur frühbürgerlichen Revolution gestanden hatten, besser nachvollziehen zu können. Abschließend wird die sogenannte Fürstenpredigt Müntzers vor Herzog Johann untersucht. In dieser fordert Müntzer den Herzog ein letztes Mal auf, sein Schwert gegen die Ungerechten, die die Wiederherstellung einer göttlichen Ordnung verhindern, zu erheben. Versäume er es aber, die Peiniger des Volkes zu strafen, ermahnt ihn Müntzer, werde ihm sein Schwert genommen und dem Volk gegeben werde. Müntzers dargebrachtes Obrigkeitsverständnis, wonach einer Obrigkeit, die ihren Aufgaben nicht nachkommt, ihr Schwert zu nehmen sei, barg aufgrund der politischen Instabilität der DDR des Wendejahres 1989 augenscheinlich eine hohe Brisanz, auf die in der Untersuchung der Predigt Müntzers eingegangen wird.
Im letzten Teil der Analyse wird die Aufnahme des Films durch die DDR-Fernsehzuschauer dargestellt. Da der DFF keine Befragung der Fernsehzuschauer zum Film Ich, Thomas Müntzer, Sichel Gottes durchgeführt hat, geben lediglich die Einschaltquote und die Kritiken in den DDR-Tageszeitungen Aufschluss darüber, wie der Film vom Publikum beurteilt wurde und welche Wirkung er erzielte.
2.1 Historisch-politischer Kontext
Einführend sollen die Veränderungen in der Konzeption der frühbürgerlichen Revolution nachgezeichnet werden, die durch das neue Geschichtsverständnis im Zeichen von Erbe und Tradition um das Jahr 1980 einsetzten und das Müntzerbild der marxistischen DDR-Geschichtswissenschaft nachdrücklich veränderten.
2.1.1 Das Konzept der frühbürgerlichen Revolution in den 1970er Jahren
Anlässlich des 450-jährigen Jubiläums des Bauernkrieges im Jahr 1975 wurden die neuen Forschungsergebnisse zur frühbürgerlichen Revolution im Rahmen der Reihe ‚Illustrierte Geschichte’ des Dietz-Verlages veröffentlicht. Das reich bebilderte Werk stellte ein einmaliges Prestigeprojekt dar, in welchem die Historiker Max Steinmetz, Adolf Laube und Günter Vogler die DDR-Sicht auf den Bauernkrieg präsentierten.[51] Die Nachwuchswissenschaftler Vogler (1933) und Laube (1934) konnten sich durch ihre Weiterentwicklung der Thesen von Max Steinmetz neben diesem im Forschungsfeld der frühbürgerlichen Revolution etablieren.[52]
Die strukturelle Germanozentriertheit der Steinmetz’schen Konzeption der frühbürgerlichen Revolution war seit den späten 1960er Jahren von mehreren Historikern kritisiert worden.[53] Günter Vogler bemühte sich daher 1969 darum die Ereignisse des frühen 16. Jahrhunderts aus internationaler Perspektive zu analysieren. Vogler vertritt die These, dass die frühbürgerliche Revolution im Deutschen Reich die erste Revolution einer Fülle frühbürgerlicher Revolutionen auf dem europäischen Kontinent darstelle. Während die Revolutionen in den Niederlanden (1648), England (1688) und Frankreich (1789) sich jedoch bereits gegen einen zentralisierten Staat gerichtet hätten, habe der Angriff im Deutschen Reich zunächst der feudalen Kirche und dann der fürstlichen Obrigkeit gegolten, weshalb die deutsche Revolution im Unterschied zu den nachfolgenden bürgerlichen Revolutionen als frühbürgerlich zu bezeichnen sei.[54] Die gemeinsame Ursache dieser gewaltsamen Erhebungen glaubt Vogler – ebenso wie Steinmetz – im Antagonismus frühkapitalistischer Wirtschaftsstruktur und spätfeudalistischer Gesellschaftsordnung erkannt zu haben. In seiner welthistorisch-dialektischen Interpretation der Ereignisse erscheint die frühbürgerliche Revolution jedoch nicht mehr als Revolution nationaler Stoßrichtung, sondern als internationaler Klassenkampf.[55] Luther als Person und die Reformation als Ereignis erfahren im Rahmen dieser Interpretation eine deutliche Aufwertung. So betont Vogler, dass die Aktivitäten Luthers eine „Verschiebung des politischen Kräfteverhältnisses zugunsten der weltlichen Fürsten und städtischen Oberschicht“[56] nach sich gezogen habe, die den Anfang der Überwindung des Feudalismus durch den Kapitalismus markiert habe. Damit gesteht Vogler nicht mehr nur dem Bauernkrieg, sondern auch der Reformation einen revolutionären Charakter zu.[57]
Obwohl sowohl Steinmetz als auch Vogler die Ursache für den Ausbruch der frühbürgerlichen Revolution in der Entwicklung der materiellen Produktionsverhältnisse während des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus sahen, waren die ökonomisch-gesellschaftlichen Strukturen dieser Epoche bisher kaum aufgearbeitet worden. Diese Lücke versuchte Adolf Laube, ein Experte für die spätmittelalterliche Wirtschaftsgeschichte, zu schließen. Laube lieferte empirische Argumente für die Thesen von Vogler und Steinmetz, indem er quellennah nachweisen konnte, dass die Produktionsweisen in den Wirtschaftsbereichen Bergbau und der Manufakturproduktion von Textilien und Eisenwaren zum Ende des 15. Jahrhunderts tatsächlich bereits stark kapitalistisch geprägt waren.[58] Des Weiteren veröffentlichte Laube eine Edition von Flugschriften zur Bauernkriegszeit [59], in der sowohl Quellen zu den städtischen Unruhen von 1518 bis 1523 als auch zum Bauernkrieg von 1525 zu finden sind. Die von Laube zusammengestellte Auswahl der Quellen weist auf einen engen Zusammenhang zwischen der lutherschen Reformation und den politischen Zielsetzungen der Aufständischen in der Stadt und auf dem Land hin. Laube deutet den analysierten Quellenkorpus daher als Indiz für das „Zusammentreffen von antifeudaler Massenbewegung und bürgerlicher Reformationsbewegung“[60] in der frühbürgerlichen Revolution.[61]
Die Bemühungen von Günter Vogler und Adolf Laube, das Konzept der Frühbürgerlichen Revolution in einen europäischen Revolutionszyklus einzuordnen und mit einem empirischen Fundament zu untermauern, führte, nach Meinung Laurenz Müllers, dazu, dass die analytische Kraft der Konzeption gegen Ende der 1970er Jahren ihren Höhepunkt erreichte.[62]
2.1.2 Das Luther-Jubiläum 1983 im Zeichen von Erbe und Tradition
Die bereits in der Einleitung skizzierte langsame Erosion der materialistischen Interpretation der frühbürgerlichen Revolution im Rahmen des neue Paradigmas von Erbe und Tradition kulminierte in den Vorbereitungen für die Feierlichkeiten zum 500. Geburtstag Martin Luthers im Jahr 1983. In der konstituierenden Sitzung des Martin-Luther-Komitees der DDR, das die staatlichen Aktivitäten während des Lutherjahres koordinieren sollte, sprach der Generalsekretär des ZK der SED, Erich Honecker, am 13. Juni 1980 von Martin Luther als einem „der größten Söhne des deutschen Volkes“[63]. Luther habe durch die Einleitung der Reformation, die den Charakter einer bürgerlichen Revolution aufweise, eine herausragende historische Leistung für den gesellschaftlichen Fortschritt und die Weltkultur erbracht.[64] In seiner weiteren Rede beschrieb Honecker den Bauernkrieg als eine von Luther nichtintendierte Folge der Reformation. Luthers bisher stets verurteiltes Bündnis mit den Fürsten wurde durch seinen unermüdlichen Einsatz für die Fortsetzung der Reformation nach der Niederschlagung der Bauernaufstände relativiert. Die Standhaftigkeit, die er hierbei bewiesen habe, sei „in den deutschen Landen Jahrhunderte unvergessen“[65] geblieben. Den Bauernkrieg und die Rolle Thomas Müntzers streifte Honecker in seiner Rede dagegen nur am Rande. Die Aufstände von 1525 wurden auch nicht, wie üblich, als Vorgänger und Erbträger der DDR dargestellt.[66]
Die Rede Honeckers stellte den Ausgangspunkt für die Vereinnahmung Luthers nach dem neuen DDR-Verständnis von Erbe und Tradition dar. Der Wittenberger Reformator, der zu Beginn der DDR noch als ‚Fürstenknecht’ verunglimpft worden war, sollte kraft dieses Verständnisses in neuem Licht erstrahlen.[67] Mit der Eingliederung Luthers in das Traditionsbild der DDR verband die SED zwei politische Hauptziele:
1. Durch die Fortsetzung und Intensivierung der 1978 begonnenen Liberalisierung der Kirchenpolitik sollte eine stärkere Integration der evangelischen Kirchen in die sozialistische Gesellschaft erreicht werden.
2. Durch die Feierlichkeiten zu Ehren Luthers versprach sich die SED internationales Prestige und Anerkennung.[68]
Priorität hatte für die Parteispitze die Aussöhnung mit den evangelischen Kirchen, weshalb diese die Möglichkeit erhielten neben dem staatlichen Luther-Komitee ein eigenes Vorbereitungskomitee für das Lutherjubiläum zu bilden. Durch diese entgegenkommende Politik sollten die Kirchen stärker in die ‚Friedensarbeit der DDR’ einbezogen werden. Diese Friedensarbeit zielte darauf ab, die erneute Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen auf deutsch-deutschem Boden im Zuge des NATO-Doppelbeschlusses zu verhindern. Aufgrund der Gefahr vor einem atomaren Inferno durch einen nuklearen Weltkrieg war auch die DDR von einer europaweiten Friedensbewegung erfasst worden, die sich im SED-Staat hauptsächlich innerhalb der Kirchen formiert hatte.[69] Führende Kirchenvertreter sprachen im Angesicht der nuklearen Bedrohung von einer „deutschen Verantwortungsgemeinschaft“[70]. Die SED-Führung übernahm – in Abgrenzung zu den sowjetischen Plänen – diese pazifistische Position. Sie erhoffte sich durch diese Politik die entstandene Friedensbewegung, die als Keimzelle der Opposition angesehen wurde, in den staatlichen Apparat integrieren zu können. Die Feierlichkeiten zu Luthers 500. Geburtstag und die positive Darstellung des Reformators sollte daher nach dem Willen der SED den Anbruch eines neuen Zusammengehens zwischen Kirche und Staat und das Ende der Konfrontation markieren.[71]
Des Weiteren erwartete das ZK, dass die kirchlichen Lutherehrungen „unter beachtenswerter internationaler Beteiligung“[72] stattfinden würden. Die DDR wollte sich im Rahmen der Feierlichkeiten so präsentieren, „dass die internationalen Gäste ein positives Bild von der Deutschen Demokratischen Republik, besonders auch von der geordneten und stabilen Beziehung zwischen Staat und Kirche […] mit nach Hause nehmen“[73]. Hierdurch sollte das Prestige des Staates im Ausland gemehrt und die Beziehungen zu westlichen Staaten verbessert werden.[74]
Den führenden Reformationshistorikern der DDR kam die Aufgabe zu, die Parteiinteressen der SED theoretisch zu begründen. Hierzu wurde bereits im November 1977 am ZfG bei der AdW eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Horst Bartel gegründet, deren Aufgabe, neben der Koordination sämtlicher Veranstaltungen und Publikationen im Lutherjahr, darin bestand, Thesen über Martin Luther auszuarbeiten. Die Thesen selbst wurden im Wesentlichen von dem Akademie-Historiker Gerhard Brendler erarbeitet und 1981 zunächst im ideologischen Leitorgan Die Einheit, dem IML und der AfG, und später auch in einem eigenen Jubiläumsheft veröffentlicht. Die Würdigung des vielschichtigen Luthererbes steht im Zentrum der Thesen. Zunächst wird betont, dass Luther durch die Reformation eine große, klassen- und schichtenübergreifende nationale Bewegung zum Leben erweckt habe. Seiner Theologie wird in diesem Prozess eine größere Bedeutung beigemessen als dies bei früheren Konzeptionen der Fall gewesen war. So ist die Rede davon, dass Luther „die theologische Grundlage für die Herausbildung einer reformatorischen Ideologie, die unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen revolutionäre Wirkung erlangten“, geschaffen habe (These 2).[75] Statt der materiellen Produktionsverhältnisse der Epoche erscheint damit die Theologie als eigentlicher Auslöser der frühbürgerlichen Revolution.[76]
[...]
[1] Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg, in: MEW, Bde. 7, Berlin (Ost), 1960, S. 329.
[2] Zitiert nach: Günter Vogler: Thesen für die Podiumsdiskussion Kultur, S. 5.
[3] Hans-Jürgen Goertz: Das Bild Thomas Müntzers in Ost und West, Hannover 1988, S. 13f.
[4] Die ausführlichste Darstellung der Müntzer-Rezeption des 16-19. Jahrhunderts erfolgte durch den DDR-Historiker Max Steinmetz. Vgl. Max Steinmetz: Das Müntzerbild, Berlin (Ost) 1971.
[5] Zimmermann, Wilhelm: Allgemeine Geschichte des großen Bauernkrieges. Nach handschriftlichen und gedruckten Quellen, Bde. 1-3, Stuttgart 1841-1843.
[6] Vgl. Vogler: Thesen, S. 5.
[7] Engels: Bauernkrieg, S. 354.
[8] Hier sind vor allem August Bebel, Karl Kautsky, Ernst Mehring und der Sowjet-Historiker Moisei Smirin zu nennen.
[9] Geschichtspolitik bezeichnet den Umgang politischer Instanzen und Akteure mit primär nationalen Jahres- und Gedenktagen, historischen Orten und Persönlichkeiten, Höhen bzw. Tiefen der eigenen Nationalgeschichte, Geschichtsmuseen und -ausstellungen, Denkmalen, Gedenkstätten und Memorialkomplexen. Zitiert nach: Stefan Troebst: Geschichtspolitik, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 4.8.2014.
[10] „Erinnerungskultur ist ein lockerer Sammelbegriff für die Gesamtheit des nicht spezifischen wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit – mit verschiedensten Mitteln und für die verschiedensten Zwecke.“ Zitiert nach: Hans Günther Hockerts: Zugänge zur Zeitgeschichte, in: Konrad Jarausch, Martin Sabrow (Hrsg.): Verletztes Gedächtnis, Frankfurt am Main, New York 2002, S. 41.
[11] Vgl. Herfried Münkler: Das kollektive Gedächtnis der DDR, in: Dieter Vorsteher (Hrsg.): Parteiauftrag: Ein neues Deutschland, München/Berlin 1996, S. 123-156. Vgl. Herfried Münkler, Raina Zimmering: Politische Mythen der DDR, in: Humboldt-Spektrum 3 (1996), S. 36-42.
[12] Vgl. Raina Zimmering: Mythen in der Politik der DDR, Opladen 2000.
[13] Münkler, Zimmering: Politische Mythen, S. 36.
[14] „Das kulturelle Gedächtnis umfasst jene überlieferte Mythen, Symbole und Riten, etwa in Texten, Bildern und Feiern, die für eine Gemeinschaft sinnstiftend und heilig sind. Nach Jan Assmann handelt es sich um einen Komplex von Verpflichtungen höchster Verbindlichkeit, die auf keinen Fall in Vergessenheit geraten dürfen.“ Zitiert nach: Johanna Sänger: Martin Luther und Thomas Müntzer in Straßen- und Ehrennamen der DDR, in: Jan Scheunmann (Hrsg.): Reformation und Bauernkrieg, Leipzig 2010, S. 87-100.
[15] Vgl. Zimmering: Mythen in der DDR, S. 173-176.
[16] Vgl. Siegried Bräuer: Informelle Kontakte, in: Jan Scheunemann (Hrsg.): Reformation, S. 115-130.
[17] Laurenz Müller: Diktatur und Revolution. Reformation und Bauernkrieg in der Geschichtsschreibung des „Dritten Reiches“ und der DDR, Stuttgart 2004.
[18] Alexander Fleischauer: Wir Enkel fechten’s besser aus. Thomas Müntzer und die Frühbürgerliche Revolution – Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in der DDR, Münster 2010.
[19] Zur ikonischen Prägung des Müntzer-Bildes siehe auch: Jan Scheunemann: Luther und Müntzer im Museum. Deutsch-deutsche Rezeptionsgeschichte, Leipzig 2015.
[20] Hans-Jürgen Goertz: Müntzer und die Frühbürgerliche Revolution, in: Beiträge 36 (2013), S. 122.
[21] Scheunemann: Museum, S. 320.
[22] Vgl. Fleischauer: Enkel, S. 68f.
[23] Vgl. ebd. S. 135f.
[24] Definition des historischen Materialismus nach Friedrich Engels: „Die materialistische Anschauung der Geschichte geht von dem Satz aus, daß die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; daß in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird. Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen nicht, in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise; sie sind zu suchen nicht in der Philosophie, sondern in der Ökonomie der betreffenden Epoche.“ MEW, Bd. 20, S. 248f.
[25] Vgl. Fleischauer: Enkel, S. 116f.
[26] Vgl. Müller: Diktatur und Revolution, S. 212.
[27] Max Steinmetz: Die historische Bedeutung der Reformation, in: ZfG15 (1967), S. 665.
[28] Ebd.
[29] Ebd.
[30] Vgl. Fleischauer: Enkel, S. 135.
[31] Vgl. ebd. S. 128.
[32] Vgl. ebd. S. 285.
[33] Vgl. Fleischauer: Enkel, S. 218.
[34] Horst Bartel: Erbe und Tradition, in: Helmut Maier, Walter Schmidt (Hrsg.): Die Diskussion der Historiker, Köln 1989, S. 132f.
[35] Vgl. Müller: Diktatur und Revolution, S. 258.
[36] Fleischhauer: Enkel: S. 230.
[37] Vgl. ebd.
[38] Vgl. ebd. S. 231.
[39] Adolf Laube: Thomas Müntzer und die frühbürgerliche Revolution, in: ZfG 38 (1990), S. 138.
[40] Gerhard Brendler: Müntzer im Urteil der Geschichte, in: ZdZ (1990), S. 4.
[41] Zitiert nach: Fleischauer: Enkel, S. 297.
[42] Vgl. ebd. S. 320.
[43] Ebd. S. 322.
[44] Diese These geht auf Siegfried Kracauer zurück. Vgl. Kracauer: Von Caligari zu Hitler, Berlin 1984.
[45] Vgl. Günter Riederer: Film und Geschichtswissenschaft, in: Gerhard Paul (Hrsg.): Visual History, Göttingen 2006, S. 99.
[46] Vgl. Günter Riederer: Vom schwierigen Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Film, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 31 (2003), S. 18.
[47] Zitiert nach: Riederer: Film und Geschichtswissenschaft, S. 100f.
[48] Ebd. S. 101.
[49] Vgl. ebd. S. 102f.
[50] Helmut Korte: Einführung in die Systemische Filmanalyse, Berlin 20104., S. 23f.
[51] Adolf Laube, Max Steinmetz, Günter Vogler: Illustrierte Geschichte der deutschen frühbürgerlichen Revolution, Berlin (Ost) 1974.
[52] Vgl. Müller: Diktatur und Revolution, S. 256.
[53] Vgl. Fleischauer: Enkel, S. 128.
[54] Vgl. Müller: Diktatur und Revolution, S. 238f.
[55] Vgl. ebd. S. 241.
[56] Günter Vogler: Marx, Engels und die Konzeption der frühbürgerlichen Revolution, in: ZfG 17 (1969), S. 711.
[57] Vgl. ebd.
[58] Vgl. Adolf Laube, Max Steinmetz, Günter Vogler: Illustrierte Geschichte der deutschen frühbürgerlichen Revolution, Berlin (Ost) 1974, S. 8-29.
[59] Adolf Laube (Hrsg.): Flugschriften gegen die Reformation, Berlin 1997.
[60] Ebd. S. 11.
[61] Vgl. ebd.
[62] Vgl. Müller: Diktatur und Revolution, S. 256.
[63] Zitiert nach: Ebd. S. 260.
[64] Vgl. ebd.
[65] Zitiert nach: Ebd. S. 261.
[66] Zitiert nach: Ebd.
[67] Vgl. ebd.
[68] Vgl. Fleischauer: Enkel, S. 224.
[69] Vgl. ebd. S. 223.
[70] Zimmering: Mythen, S. 281.
[71] Vgl. ebd.
[72] 2. Beratung der Arbeitsgruppe beim ZK zur Koordinierung und Kontrolle der politischen Aktivitäten zur Martin-Luther-Ehrung. 4.3.1983. Zitiert nach: Fleischauer: Enkel, S. 247f.
[73] Ebd.
[74] Vgl. ebd. S. 224.
[75] Horst Bartel (Hrsg.): Thesen über Luther zum 500. Geburtstag, Berlin (Ost) 1981. Im Folgenden werden keine Seitenzahlen angegeben, sondern immer die entsprechende These in Klammern.
[76] Vgl. Müller: Diktatur und Revolution, S. 262.