Sekundäre Traumatisierungen durch den Zweiten Weltkrieg. Eine Auseinandersetzung mit Sabine Bodes "Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation"


Hausarbeit, 2017

25 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Wer oder was sind „Kriegsenkel“?

2. Transgenerationale Weitergabe
2.1 Wege der Traumaweitergabe
2.1.1 Mechanismen und Folgen sekundärer Traumatisierung
2.2 Wege und Inhalte transgenerationaler Weitergabe von traumatischen Weltkriegserfahrungen

3. Kritik an Bodes „Kriegsenkel“

4. Fazit

5. Literatur

„Jeder Mensch hat wohl in sich eine mehr oder weniger vor sich selbst verborgene Kammer,

in der sich die Requisiten seines Kindheitsdramas befinden.

Die einzigen Menschen, die mit Sicherheit Zutritt zu dieser Kammer bekommen werden,

sind seine Kinder.

Mit den eigenen Kindern kommt neues Leben in die Kammer,

das Drama erfährt seine Fortsetzung."

Alice Miller[1]

Einleitung

„Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation“[2] wurde von Sabine Bode verfasst und 2009 im Klett-Cotta-Verlag in Stuttgart im Bereich Psychologie/Lebenshilfe/Gesellschaft[3] erstveröffentlicht. Inzwischen ist die 21. Druckauflage der broschierten Ausgabe erschienen.[4] Wie auch ihre anderen Sachbücher (?) wurde dieser Titel in mehrere Sprachen übersetzt und avancierte innerhalb kürzester Zeit zu einem Spiegel-Bestseller.[5] Bode gilt als „renommierte Expertin“[6] auf dem Gebiet seelischer Folgen und Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges. Sie hat einen Platz im Diskurs.

In „Kriegsenkel“[7] richtet Bode ihr Interesse auf Angehörige der 1960er Jahrgänge, die sowohl Friedens-/Nachkriegskinder als auch Kinder der Kinder des Zweiten Weltkrieges, genannt: „Kriegskinder“, sind.[8] In diesem Buch geht sie der Frage nach, wie diese „Baby-Boomer“[9] damit umgegangen sind, mit Eltern aufgewachsen zu sein, denen der kaum bewusste Krieg „immer noch in den Knochen steckte“[10]. Dafür kombiniert sie nach eigenen Angaben verschriftlichte Interviews und auch leicht redigierte und gekürzte schriftliche Selbstauskünfte mit Befunden aus der Trauma- und Bindungsforschung.

In ihrem Buch lässt sie achtzehn ausgewählte Personen zu Wort kommen, die sich aufgemacht haben, Spuren des Zweiten Weltkrieges in ihrer Familiengeschichte sowie in ihrem eigenen Verhalten zu ergründen. Bei dieser Auswahl aus sechs Jahre währenden Gesprächen, handelt es sich um Geschichten, die sich gegenseitig ergänzen und kommentieren. Die Erfahrungen, die Bode schildert, sind komplex und vielfältig.[11]

Laut Bode haben ‚Kriegsenkel‘ aber auch einiges gemeinsam: Sie hätten einen deutlich geringeren Bezug zur Vergangenheit als ihre Eltern; Sie kannten Fakten über die NS-Zeit, mit der sie sich in Bildungsinstitutionen immer wieder kognitiv auseinandergesetzt hätten;[12] Ihr Blick sei geschult, die Opfer der Weltgeschichte wahrzunehmen. Jedoch sähen sie ihre Eltern, genauso wenig wie diese sich selbst, nicht als Opfer, sodass es für sie nur schwer vorstellbar sei, dass die deutsche Geschichte in ihr eigenes ‚Friedenskinder-Leben‘ hineinwirke.[13] Aufgewachsen seien sie in den besten aller Zeiten in ‚normalen‘ Familienverhältnissen. Dennoch seien Ängste, Blockaden und Verunsicherungen generationsspezifische Lebensthemen.[14] Die Mehrheit von ihnen habe Probleme mit ihren Eltern, den ‚Kriegskindern‘.[15]

Bode ‚diagnostiziert‘ bei ihren Gesprächspartner*innen „Sekundäre Traumatisierungen“.[16]: Ihrer Meinung nach ziehe der Zweite Weltkrieg auch heute noch seine Kreise, weil die ‚Kriegsenkel‘, die das vermeintliche Glück hatten, spät geboren worden zu sein, Schuld(en) und persönlicher Lasten von ihren Eltern geerbt hätten.[17]

Bode erklärt diese Vererbung folgendermaßen: Mit der Geburt der eigenen Kinder seien bei den ‚Kriegskindern‘ unverarbeitete Erlebnisse angetriggert worden. Durch Kriegs- und Fluchterfahrungen in ihrem eigenen Lebensgefühl und in ihrer Identität zutiefst verunsichert, seien sie nicht in der Lage gewesen, ihren Kindern Orientierung, Halt und Vertrauen ins Leben zu gegeben. Weil sie auf diese Weise unsicher gebundene Menschen großgezogen haben, hätten sie ihren Kindern schuldlos geschadet.[18]

Mithilfe dieser Arbeit möchte ich verstehen, wie es möglich ist, dass der Zweite Weltkrieg Personen belastet und einschränkt, die diesen gar nicht erlebt haben (vgl. 2.2)!?

Bode ist nicht ‚vom Fach‘, sondern Journalistin und Buchautorin. Deshalb frage ich mich, ob es diese ungebrochene ‚traumatische Linie‘ von der ‚Generation der Kriegskinder‘ (vgl. Exkurs) zu der der ‚Enkel‘ (vgl. 1.), die sie da so selbstverständlich für wahr verkauft, wirklich gibt (vgl. 2.) und was, von wem, an wen, wie weitergegeben wird (vgl. 2.1) oder ob es sich hierbei um unbewiesene Behauptungen handelt, die sich aufgrund ihrer entlastenden Funktion einfach gut vermarkten lassen (vgl. 3.).

1. Wer oder was sind „Kriegsenkel“?

Der Begriff „Kriegsenkel“ ist ein problematischer familial bestimmter Generationenbegriff mit einer historischen und einer subjektiven Dimension,[19] welcher vom Begriff „Kriegskinder“ (vgl. Exkurs) abgeleitet wurde. In Abhängigkeit davon, wie stark sie ihre eigene Lebensgeschichte von elterlichen Erfahrungen beeinflusst sehen, nennen sich einige der Kinder dieser ‚Kriegskinder‘, Vertreter*innen der Jahrgänge ab 1960, „Kriegsenkel“. Annahmen zur transgenerationalen Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten sind also bereits Bestandteil dieser Selbstbezeichnung;[20] ‚Kriegsenkel‘ „repräsentieren [einer formalen Bestimmung zufolge] die dritte (jetzt indirekt) kriegsbetroffene Generation“[21].

Exkurs: „Kriegskinder“

Die Begriffsklärung in 1. zeigt, dass es nicht möglich ist, ‚Kriegsenkel‘ ohne ihre Eltern, die ‚Kriegskinder‘, zu denken. Deswegen ist es, gerade dann, wenn man über transgenerative Traumaweitergabe sprechen will, notwendig, „über einige Kenntnisse der Verbreitung und Qualität traumatischer Erfahrungen der ersten Generation [zu] verfügen“[22], „um zu verstehen, welche traumatischen Ereignisse welches Traumaerleben zur Folge haben, wie dies nachwirkt und wie dies in die Erlebenswelten der nächsten Generation hinübergreifen kann.“[23]

Die Schwierigkeit besteht jedoch zum einen darin, dass ‚Kriegskinder‘ keine homogene Gruppe sind und zum anderen darin, dass „Kriegstraumata“ ein Sammelbegriff für unterschiedlichste Traumatisierungsarten ist, die transgenerational (anders) vermittelt werden[24] und nur mithilfe des kleinsten gemeinsamen Nenners „Krieg“ zusammenfasst worden sind. Der Umstand, dass sich verhältnismäßig viele Fallstudien über ‚Kriegsenkel‘ finden, die als Nachkommen von 14 Millionen ‚Deutschen‘, die der Zweite Weltkrieg heimatlos machte,[25] an Spätfolgen leiden,[26] darf nicht fälschlicherweise den Eindruck erwecken, als sei Vertreibung/Flucht ein Synonym für die kriegsbedingte Traumatisierung der Elterngeneration.

Seit 2005 ist „Kriegskinder“ eine Generationenbezeichnung für Menschen, die zwischen 1930 und 1945 geboren und als deutsche Kinder vom Zweiten Weltkrieg als kollektiver Katastrophe getroffen wurden.[27]

‚Kriegskinder‘ sind keine homogene Gruppe, sondern Mädchen und Jungen unterschiedlichen Alters vom Land oder aus Städten mit „extrem unterschiedlichen Erfahrungslagerungen in Zeiten verdichteter Geschichtsprozesse“[28], die sich nachträglich als Erfahrungsgeneration formiert haben, in der sie „ihre wie auch immer konkret ausgefallenen Erlebnisse im Rahmen eines generationalen Narrativs [reformulieren]“[29].

In ihrem Buch „Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“[30] plädiert Bode dafür, bei den ehemaligen ‚Kriegskindern‘ wegen ihrer unterschiedlichen Erlebnisse aufgrund ihres unterschiedlichen Alters, „von der Flakhelfergeneration bis zu jenen Kindern, die auf der Flucht geboren wurden“[31], ganz deutlich zwischen jedem einzelnen der fünfzehn Jahrgänge zu differenzieren.[32] In seiner Kritik am Generationsbegriff findet sich bei Welzer eine Passage, welche diese Forderung stützt:

[…] denn auch wenn es nach dem Lebensalter nur um zwei oder drei Jahre Unterschied geht, ist die Erfahrung eines jungen Angehörigen der Luftwaffe gewiss eine völlig andere als die des Flakhelfers, und die wiederum völlig anders als die des Hitlerjungen oder Luftschutzhelfers; die nur wenig jüngeren, die den Bombenkrieg passiv erleben mussten, haben wiederum eine gänzlich andere Sozialisationserfahrung von Gewalt, die rein erleidend ist und keine aktive Handlungs- und Bewältigungserfahrungen enthält.[33]

Radebold nennt acht mögliche zeitgeschichtliche Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs und der direkten Nachkriegszeit: Bombardement, Evakuierungen/Kinderlandverschickungen, Flucht, Vertreibung, Hunger, aktive/passive Gewalterfahrungen, ‚ferne‘ Väter, Tod von Familienangehörigen.[34] Manche ‚Kriegskinder‘ waren von diesen gar nicht, andere aber über einen langen Zeitraum von bis zu vieren kumulierend betroffen, was zu unterschiedlichen Erstmanifestationen und Verlaufsmustern der Folgen führte.[35] Dementsprechend werden drei Betroffenheits-Typen unterschieden:

durch den Krieg und seine Folgen kaum beeinträchtigt aufgewachsene Kinder mit anwesendem Vater (stabile familiale, soziale, materielle und wohnliche Verhältnisse; geschätzt 35-40%); Kinder mit zeitweiliger väterlicher Abwesenheit und zeitweilig eingeschränkten Lebensbedingungen bei vorübergehenden belastenden bis beschädigenden Erfahrungen (geschätzt 30-35%); Kinder mit langanhaltender und andauernder väterlicher Abwesenheit bei in der Regel gleichzeitig dauerhaft eingeschränkten Lebensumständen bei mehrfachen und langanhaltenden beschädigenden bis traumatisierenden zeitgeschichtlichen Erfahrungen (geschätzt 30-35%) […].[36]

Über die von ihnen gemachten Kindheits- und Jugenderfahrungen konnten die meisten ‚Kriegskinder‘ auch und gerade als Eltern nicht sprechen. Gleichzeitig waren sie für die, im Vergleich zu ihren, kleineren Probleme ihrer Kinder wenig ansprechbar.[37]

2. Transgenerationale Weitergabe

Heute wird unter „transgenerationale Weitergabe“ verstanden, dass die Elterngeneration an die Generation der Kinder und Enkel ihre Vorstellungen, Verhaltensweisen, Scham- und Schuldgefühle, aber auch ihre Geheimnisse und unverarbeiteten Traumata [ Hervorhebung durch SLK ] weitergibt. Transgenerationale [oder transgenerative] Übertragung von frühen kindlichen Traumata und deren Weitergabe bis ins dritte und vierte Glied sowie mehrgenerationale Weitergabe [oder auch transgenerative Übertragung/Weitergabe/Transmission] sind unterschiedliche Begriffe, die benutzt werden, um das Phänomen zu beschreiben, dass nicht bewältigte Belastungen und Traumata [ Hervorhebung durch SLK ] der Vorgeneration sich implizit ins Leben der nachfolgenden Generation einbrennen.[38]

Fragen zur transgenerationalen Weitergabe von Traumata werden als ein Aspekt von Belastungen, Kränkungen und Störungen, die Eltern an ihre Kinder weitergeben können,[39] transdisziplinär erforscht.

2.1 Wege der Traumaweitergabe

Man unterscheidet zwei Wege der Traumaweitergabe von einer Generation an die nächste, die nie offen und erklärtermaßen stattfinden:

Bei der „primären Traumatisierung“ erleben Kinder die elterlichen Traumatisierungen unmittelbar selbst. Eltern geben ihre eigenen erlittenen Traumata offen und direkt an ihre Kinder weiter, indem sie das, was ihnen selbst als Kindern wiederfahren ist, 1:1 bei ihren eigenen Kindern wiederholen.[40]

Davon zu unterscheiden ist eine indirekte beziehungsweise mittelbare Traumaweitergabe, die als „sekundäre Traumatisierung“ (vgl. Einleitung) bezeichnet wird,[41] denn Traumata können auch weitergegeben werden, ohne dass Eltern ihre Erfahrungen an ihren Kindern ausagieren[42] und zwar „allein aufgrund der engen familiären Beziehungen und dem Zusammenleben mit traumatisierten Eltern(-teilen) bzw. anderen Familienangehörigen.“[43]

Dieser Begriff wurde zunächst nur in Bezug auf Kinder migrantischer Eltern verwendet, die keine unmittelbaren Kriegserfahrungen machen oder beobachten mussten und Symptome sowie Verhaltensweisen zeigten, die denen einer Traumafolgestörung in vielen Bereichen glichen. Inzwischen werden auch Kinder als sekundär traumatisiert bezeichnet, deren Eltern „in ihrer eigenen Kindheit Gewalt, Misshandlung, Vernachlässigung, Missbrauch oder existenzielle Trennungen und Verluste erlitten haben.“[44]

Sekundäre Traumata sind Beziehungstraumata und zeichnen sich dadurch aus, dass das Traumaerleben auf kein Traumaereignis zurückgeführt werden kann, das selbst erlebt oder beobachtet wurde.[45] „Meistens findet die transgenerationale Traumaweitergabe bereits in der frühesten Kindheit statt und wird ohne Bilder und ohne verbalisierte Erinnerungen gespeichert. Dies bedeutet, dass die verinnerlichten Erfahrungen nicht ohne Weiteres erzählt oder verbal reflektiert werden können, sondern dass sie oft in Form von psychosomatischen Störungen ‚erinnert‘ werden.“[46] Angehörige der zweiten Generation leiden genauso häufig, aber nicht so plötzlich (!)[47], unter Kernsymptomen des Posttraumatischen Stresssyndroms wie ihre traumatisierten Eltern. Das Posttraumatische Stresssyndrom beschreibt ein gleichzeitiges Eintreffen mehrerer Symptome:[48] Flashbacks,[49] Erregung,[50] Vermeidungsverhalten,[51] emotionale Abflachung und Ängstlichkeit[52]. Während es der ersten betroffenen Generation möglich ist, ihre Symptome als Folgen ihrer traumatischen Erfahrung zu verstehen, können ihre Kinder diese Verknüpfung häufig nicht herstellen, da sie die Traumata weder selbst erlebt haben noch um das Erleben ihrer Eltern wissen.[53]

2.1.1 Mechanismen und Folgen sekundärer Traumatisierung

„Der Organismus des Kindes steht von Beginn an im kontinuierlichen Kontakt und Austausch mit der Umwelt und in Kontakt zu den Kontaktpersonen, mit denen er sich auseinandersetzen muss.“[54] Deshalb ist es Eltern möglich, die Entwicklung der nächsten Generation sowohl positiv als auch negativ zu ‚dirigieren‘.

„Die Prozesse sowohl des Traumaerlebens als auch der transgenerativen Traumaweitergabe sind trotz unterschiedlicher Traumaereignisse sehr ähnlich.“[55] Die Weitergabe traumatischer Erfahrungen beruht auf einem Zusammenbruch interpersonaler Grenzen.[56] Darüber ist man sich in der Fachliteratur einig. Wie die Traumaweitergabe ‚funktioniert’, wird jedoch nicht nur je nach Fachdisziplin, sondern auch je nach Perspektive unterschiedlich dargestellt. So gibt es sowohl Erklärungen, die pränatal ansetzen, als auch Erklärungen, die postnatal ansetzen, und auch gendersensible Betrachtungsweisen[57], die sich „durch wissenschaftliche Konkurrenz um den einzig richtigen Zugang zum Verständnis von Ursachen psychischer Störungen und Persönlichkeitsveränderungen und deren wirksamsten Behandlungsmethoden nur langsam aufeinander zu [bewegen].“[58]

Die seelische Entwicklung eines Kindes hat einen wesentlichen Einfluss auf sein späteres situationsbezogenes Verhalten.[59] Diese Entwicklung beginnt bereits im Mutterleib.

„Heute wissen wir, dass bei Müttern, die anhaltendem Stresserleben in der Schwangerschaft ausgesetzt waren, sich durch epigenetische Regulationsmechanismen die genetische Veranlagung ihrer Kinder verändert.“[60] Die genetische Ausstattung des sich entwickelnden Kindes wird, durch Signale des mütterlichen Organismus, an ihre Umwelt angepasst, verändert. Dieser Kontrollmechanismus hilft eigentlich, „‚bewährte[…]‘ Bewältigungsstrategien an die nächste Generation weiter zu geben.“[61] „Es wird [aber] immer wahrscheinlicher, dass die oft später auftretenden Traumafolgesymptome in ihrer individuellen Ausprägung das Ergebnis von gestörter epigenetischer Anpassung darstellen.“[62] Wenn die ‚althergebrachten‘ Strategien, die rezente Wirklichkeit der Kinder verfehlen, stehen diese den Problemen in ihrem Hier und Jetzt hilflos gegenüber.[63] Neuste epigenetische Forschungsergebnisse geben nun Hinweise darauf, dass diese dysfunktionalen Strategien bis zu den Kindeskindern weitergegeben werden,[64] wenn die Spuren der Traumatisierung nicht durch positive Umwelteinflüsse oder therapeutische Einflussnahme beseitigt werden.[65] Mansuy konnte in einem Mausmodell bei Jungtieren der Enkelgeneration, deren Mütter niemals gestresst wurden, Stressschäden wie Stoffwechselbeeinträchtigungen und Verhaltensstörungen nachweisen. Diese führte sie auf eine Veränderung kurzer RNA-Moleküle zurück, die von außen auf die Gene einwirken:[66] „Wir haben im Blut, Sperma und Gehirn der Mäuse ein Ungleichgewicht an MicroRNA entdeckt. Das sind kurze Kopien des Erbguts, die in den Zellen die Aktivität der Gene beeinflussen. Wir vermuten die MicroRNA im Sperma als Informationsträger der Vererbung.“[67] Diese Laborstudie gibt Hinweise auf möglicherweise auch beim Menschen zu beachtende epigenetische Mechanismen der transgenerationalen Traumaweitergabe und lässt auf neue diagnostische Instrumente und Behandlungsmöglichkeiten hoffen.

Auch die verhaltenssteuernde Funktion des Gehirns wird in der pränatalen Zeit maßgeblich beeinflusst. Kinder speichern Muster ihrer (Groß-)Eltern als neurologische Anpassungsleitung und starten deshalb immer ‚nur‘ mit einem Abbild der Möglichkeiten in ihre nachgeburtliche Entwicklungszeit. Traumafolgen der Elterngeneration wirken sich in der Schwangerschaft als Disstress negativ auf das sich entwickelnde Gehirn aus. Die einwirkenden Stresshormone können das kindliche Gehirn durch ihren Einfluss auf die Ausgestaltung des limbischen Systems, insbesondere auf die Entwicklung der rechten Hemisphäre, in eine „chronische Notfallsituation“[68] versetzen, wodurch die Fähigkeit zur Selbst- und Affektregulation nachhaltig gemindert wird.[69]

Die ‚Programmierung‘ des Kindes ist mit der Geburt aber noch lange nicht abgeschlossen. Das kindliche Gehirn weist bis zum sechsten Lebensjahr eine Aktivität auf, in der es für von außen kommende Informationen besonders empfänglich ist. In diesem Entwicklungsstadium werden Beobachtungen als eigene Wirklichkeiten im Unterbewusstsein abgespeichert.[70] „Im Prozess der Identifizierung modifiziert das Subjekt auf bewusstem oder unbewusstem Wege seine Motive und Verhaltensmuster ebenso wie seine Selbstrepräsentanzen und erlebt sie als ähnlich oder gleich mit denen des Objekts.“[71]

Die Identifizierung ist nicht nur ein zentraler Mechanismus für die Verknüpfung von Generationen, sondern auch eine zentrale Übertragungsfigur für die Weitergabe von Traumatisierungen. Gerade wenn Eltern ihr Kind als Container brauchen, um ihr narzisstisches Gleichgewicht zu regulieren, identifiziert sich das Kind unbewusst nicht nur mit der Person oder den Eigenschaften von Mutter/Vater, sondern auch mit deren Lebensgeschichte, die weit vor der eigenen Lebenszeit liegt. Das Vermischen von Vergangenheit und Gegenwart sowie die Aneignung von elterlichen Gefühlen und Verhaltensweisen bedingen eine Identitätsverwirrung. Dieses ‚Ineinanderrücken‘ ist als Teleskoping bekannt.[72]

Baer/Frick-Baer sehen die „Resonanz“ als den wichtigsten Faktor, der die Traumaweitergabe ermöglicht und bestimmt, an.[73] Damit beziehen sich auf eine, wenn auch noch nicht hinreichende, neurobiologische Erklärung für die Gemeinsamkeiten zwischen der direkt traumatisierten und der nachfolgenden Generation.[74] Spiegelneuronen ermöglichen es Menschen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, indem diese Nervenzellen „Vorgänge, die wir in unserer Umgebung beobachten, in einer Art neuronaler Simulation nach[spiegeln]“[75].

[...]


[1] Miller, A.: Drama des begabten Kindes. S. 44.

[2] Bode, S.: Kriegsenkel.

[3] Vgl. [Art.] Beschreibung Kriegsenkel.

[4] Vgl. ebd.

[5] Details zum Ranking vgl. [Art.] Platzierung Kriegsenkel. UND [Art.] Autorin Bode.

[6] Ebd.

[7] Bode, S.: Kriegsenkel.

[8] Vgl. ebd. S. 2, 11, 17, 20-21.

[9] Ebd. S. 44.

[10] Ebd. S. 227.

[11] Vgl. ebd. S. 14, 24.

[12] Vgl. ebd. S. 19, 24-25.

[13] Vgl. ebd. S. 2, 20.

[14] Vgl. ebd. S. 13.

[15] Vgl. ebd. S. 18.

[16] Vgl. ebd. S. 22-23.

[17] Vgl. Bode, S.: Kriegskinder. S. 227, 239-260, 293, 295.

[18] Vgl. Bode, S.: Kriegsenkel. S. 22-23.

[19] Zu den drei Möglichkeiten, den Generationenbegriff zu verwenden und der jeweiligen Problematisierung vgl. Völter, B.: Generationenforschung. S. 97-100. UND Baer, U./G. Frick-Baer: Wie Traumata in die nächste Generation wirken. S. 15-16.

Ich verwende im Folgenden willkürlich formal und familial bestimmte Generationenbegriffe und setze sie in einfache Anführungszeichen, da ich die Jahrgänge bzw. die Generationenlagerung nicht eindeutiger benennen kann.

[20] Vgl. Bode, S.: Kriegsenkel. S. 2, 11, 20-21.

[21] Radebold, H. u.a.: Kriegskindheiten – transgenerationale Auswirkungen. S. 8.

[22] Baer, U./G. Frick-Baer: Wie Traumata in die nächste Generation wirken. S. 14.

[23] Ebd.

Das Modell von den gebenden ‚Kriegskindern‘, die ‚etwas‘ an die passiv-empfangenden ‚Kriegsenkel‘ ‚vererben‘, wird seit Ende der 1960er Jahre stark kritisiert (vgl. Zinnecker, J.: „Transgenerationale Weitergabe“ der Weltkriegserfahrung in der Familie. S. 143-147.); Völter vertritt die Position, dass die Suche nach dem weitergegebenen ‚Etwas‘ da Kausalitäten in Lebens- und Sozialisationsgeschichten suggeriert, wo es keine gibt (vgl. Völter, B.: Generationenforschung. S. 104-105.)

[24] Wie verschieden sich unterschiedliche Traumatisierungsarten, die sich aber alle in zwischenmenschlichen Beziehungen ereignet hatten, in der nächsten Generation auswirken, wird in „Vererbte Wunden“ anhand von theoretischen Überlegungen und Falldarstellungen ausdifferenziert dargestellt.

[25] Vgl. Bode, S.: Kriegskinder. S. 21.

[26] z.B. Rauwald, M.: Flüchtlinge und ihre Kinder.; Stein, B. v. d.: „Flüchtlingskinder“ ODER Baer, U./G. Frick-Baer: Wie Traumata in die nächste Generation wirken. S. 42-43, 54-58.

[27] Vgl. Radebold, H. u.a.: Kriegskindheiten – transgenerationale Auswirkungen. S. 7.

Dies. weisen darauf hin, dass diese Definition zu kurz greift, weil schon „die Eltern der Kriegskinder des Zweiten Weltkrieges […] ihrerseits Kriegskinder des Ersten Weltkrieges“ (ebd. S. 8) sind. ‚Die Kriegskinder‘ seien somit bereits die „zweite kriegsbetroffene Generation“ (ebd.), bei der „wir deshalb von einem komplexen Gemisch von Faktoren ausgehen [müssen].“ (Ebd.).

[28] Welzer, H.: Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen. S. 89.

[29] Ebd.

[30] Bode, S.: Kriegskinder.

[31] Ebd. S. 14.

[32] Vgl. ebd.

[33] Welzer, H.: Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen. S. 89.

[34] Vgl. Radebold, H.: Kriegsbedingte Kindheiten und Jugendzeit I. S. 47.

[35] Vgl. ebd. S. 45-48. UND Bohleber, W.: Wege und Inhalte transgenerationaler Weitergabe. S. 112-117. Hier wird explizit aufgezeigt, wie (Klein-)Kinder im Krieg traumatisiert wurden.

[36] Radebold, H.: Kriegsbedingte Kindheiten und Jugendzeit I. S. 47. Sabine Bode differenziert mit etwas abweichenden Zahlen gleichermaßen (vgl. Bode, S.: Kriegsenkel. S. 24-25, 27.).

Zu den endgültig abwesenden Vätern zählen die, die a) zwischen der Zeugung und dem dritten Geburtstag des Kindes, b) zwischen dem vierten und zehnten Lebensjahr und c) nach dem zehnten Lebensjahr verstarben oder vermisst wurden. Deren Kinder verfügen abhängig von ihrem Alter über unterschiedliche Erinnerungsqualitäten an sie (vgl. Radebold, H..: Kriegsbedingte Kindheiten und Jugendzeit II. S. 176-177.). Zu den zeitweise abwesenden Vätern zählen die, die nach unterschiedlich langer Zeit als Invaliden, verändert oder anders als erinnert zu ihren Familien zurückkehrten. Ihnen misslang häufig der soziale Aufstieg und trenne sich später oft auch von ihren Partnerinnen, wodurch die Kinder ihre Väter erneut verloren. (vgl. ebd. S. 177.).Als durch sozialen Aufstieg äußerliche Sicherheit gebend und zugleich innerlich abgekapselt und dadurch dauerhaft psychisch abwesend wird eine fünfte Vätergruppe charakterisiert (vgl. ebd. S. 177-178.). In einer sechsten Gruppe werden diejenigen Väter zusammengefasst, die während des Krieges zwar körperlich dauerhaft bei ihren Familien, aber innerlich nicht erreichbar waren (vgl. ebd. S. 178-179.).

Zu den Auswirkungen der ausdifferenzierten Abwesenheit von Vätern auf Entwicklung und Identitätsbildung (v.a. von Söhnen) vgl. den gesamten Artikel.

[37] Vgl. Radebold, H.: Kriegsbedingte Kindheiten und Jugendzeit I. S. 53.

[38] Unfried, N.: (Neuro-)Biologische Hintergründe der Traumatisierung. S. 50.

[39] Vgl. Baer, U./G. Frick-Baer: Wie Traumata in die nächste Generation wirken. S. 18.

[40] Vgl. Sänger, R./M. Udolf: Transgenerationale Traumaweitergabe im Kinder- und Jugendhilfesystem. S. 141. UND Barwinski, R.: Ich-Spaltung bei der transgenerationalen Übertragung von Traumata. S. 111-112.

[41] Die sekundäre Traumatisierung ist von der sogenannten stellvertretenden Traumatisierung als Entgleisung der professionellen Nähe-/Distanzregulierung in der pädagogischen und therapeutischen Arbeit zu unterscheiden (vgl. Rössel-Čunovic̒, M.: „Care for Caregivers“. S. 176-179.).

[42] Vgl. Barwinski, R.: Ich-Spaltung bei der transgenerationalen Übertragung von Traumata. S. 112.; Sänger, R./M. Udolf: Transgenerationale Traumaweitergabe im Kinder- und Jugendhilfesystem. S. 141.

[43] Ebd. S. 140.

[44] Ebd.

[45] Vgl. Barwinski, R.: Ich-Spaltung bei der transgenerationalen Übertragung von Traumata. S. 109. UND Baer, U./G. Frick-Baer: Wie Traumata in die nächste Generation wirken. S. 38, 99.

[46] Sänger, R./M. Udolf: Transgenerationale Traumaweitergabe im Kinder- und Jugendhilfesystem. S. 141.

[47] Vgl. Rössel-Čunovic̒, M.: „Care for Caregivers“. S. 177.

[48] Vgl. Baer, U./G. Frick-Baer: Wie Traumata in die nächste Generation wirken. S. 24-25.

[49] Vgl. ebd. S. 25-28.

[50] Vgl. ebd. S. 28-30.

[51] Vgl. ebd. S. 30-33.

[52] Vgl. ebd. S. 34-36.

[53] Vgl. ebd. S. 38. UND Sänger, R./M. Udolf: Transgenerationale Traumaweitergabe im Kinder- und Jugendhilfesystem. S. 140-141.

[54] Unfried, N.: Frühe Traumatisierung. S. 32.

[55] Baer, U./G. Frick-Baer: Wie Traumata in die nächste Generation wirken. S. 13.

[56] Vgl. Rauwald, M./R. M. Erhardt: Therapeutische Herausforderungen bei der Behandlung von transgenerational vermittelten Traumata. S. 57.; Bohleber, W.: Wege und Inhalte transgenerationaler Weitergabe. S. 110-112.; Rauwald, M./I. Quindeau: Mechanismen der transgenerationalen Weitergabe elterlicher Traumatisierungen. S. 66-71.

[57] Vgl. z.B. Roberts, U.: Starke Mütter – ferne Väter. UND Radebold, H.: Kriegsbedingte Kindheiten und Jugendzeit II.

[58] Besser, L. U.: Wenn die Vergangenheit Gegenwart und Zukunft bestimmt. S. 40.

[59] Vgl. Unfried, N.: Frühe Traumatisierung. S. 32.

[60] Ebd. S. 31.

[61] Unfried, N.: (Neuro-)Biologische Hintergründe der Traumatisierung. S. 51.

[62] Ebd. S. 52.

[63] Vgl. ebd. S. 51-53.

[64] Vgl. Reinberger, S.: Angst im Genom.; [Art.] Spuren im Erbgut.; [Art.] Keine Laune des Schicksals.; [Art.] Wie traumatische Erlebnisse vererbt werden.

[65] Vgl. Unfried, N.: (Neuro-)Biologische Hintergründe der Traumatisierung. S. 52.; Reinberger, S.: Angst im Genom.

[66] Vgl. ebd.; [Art.] Spuren im Erbgut.; [Art.] Wie traumatische Erlebnisse vererbt werden.; [Art.] Keine Laune des Schicksals.

[67] Ebd.

[68] Unfried, N.: Frühe Traumatisierung. S. 34.

[69] Vgl. ebd. S. 31, 33, 34-35.

[70] Vgl. ebd. S. 35-36.

[71] Bohleber, W.: Wege und Inhalte transgenerationaler Weitergabe. S. 111.

[72] Vgl. ebd. S. 111-112.; Rauwald, M./I. Quindeau: Mechanismen der transgenerationalen Weitergabe elterlicher Traumatisierungen. S. 69-71.

[73] Vgl. Baer, U./G. Frick-Baer: Kriegserbe in der Seele. S. 183-184.

[74] Vgl. Baer, U./G. Frick-Baer: Wie Traumata in die nächste Generation wirken. S. 36-37.

[75] Breuer, H.: Zellen, die Gedanken lesen. S. 70.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Sekundäre Traumatisierungen durch den Zweiten Weltkrieg. Eine Auseinandersetzung mit Sabine Bodes "Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation"
Hochschule
Universität Hildesheim (Stiftung)  (Allgemeine Erziehungswissenschaft)
Veranstaltung
Seminar: Trauma, Traumatisierung und Traumapädagogik
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
25
Katalognummer
V438849
ISBN (eBook)
9783668791084
ISBN (Buch)
9783668791091
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bode, Kriegsenkel, Transgenerationale Traumaweitergabe
Arbeit zitieren
Dr. Sonja Lukas-Klein (Autor:in), 2017, Sekundäre Traumatisierungen durch den Zweiten Weltkrieg. Eine Auseinandersetzung mit Sabine Bodes "Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/438849

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