Physik in der Linguistik. Semiotik akustischer Medien anhand von Ernst Jandls Hörspiel "Fünf Mann Menschen"


Bachelorarbeit, 2017

45 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Textualitätskriterien in Fünf Mann Menschen
2.1. Kohäsion im Diskurs
2.1.1. Kohäsion in akustischen Medien
2.1.2. Kohäsive Aspekte in Fünf Mann Menschen
2.2. Kohärenz im Diskurs
2.2.1. Kohärenz in akustischen Medien
2.2.2. Kohärente Strukturen in Fünf Mann Menschen
2.3. Intentionalität im Diskurs
2.3.1. Intentionalität in Fünf Mann Menschen
2.4. Situationalität im Diskurs
2.4.1. Situationalität in Fünf Mann Menschen
2.4.2. Chancen und Grenzen der Analyse der Situationalität im Hörspiel Fünf Mann Menschen .
2.5. Intertextualität im Diskurs
2.5.1. Intertextualität in Fünf Mann Menschen
2.5.2. Chancen und Grenzen des Nachweises von Intertextualität im Hörspiel Fünf Mann Menschen
2.6. Akzeptabilität im Diskurs
2.6.1. Akzeptabilität in Fünf Mann Menschen
2.6.2. Probandenbefragung bezüglich der Akzeptabilität des Hörspiels Fünf Mann Menschen
2.6.3. Auswertung der Ergebnisse

3. Weitere Beobachtungen

4. Montage und Audiobearbeitung
4.1. Nachweis der Montage
4.2. Schallanalyse

5. Schlussbetrachtung

6. Literatur

Anhang

1. Einleitung

Diese Arbeit thematisiert die Fragestellung, inwieweit sich das Textualitätskonzept von de Beaugrande/Dressler[1] auf das Hörspiel Fünf Mann Menschen anwenden lässt und welchen möglichen Nutzen eine derartige Untersuchung für die Rezeption des Hörspiels haben kann. Diesem Ansatz liegt die paradox anmutende These zugrunde, das Hörspiel Fünf Mann Menschen als einen multikodalen Text untersuchen zu können. Paradox aus dem Grund, da die prototypische Auffassung des Textbegriffs durch ״monologisch geschriebene sprachliche Äußerungen [...]“[2] definiert ist, was offensichtlich nicht in einen Sinnzusammenhang mit den akustisch realisierten Codes des Hörspiels gebracht werden kann. Dem schließt sich die durchaus zur Diskussion stehende Frage an, ob die Kunstform des Hörspiels überhaupt zielführend durch einen textlinguistischen Ansatz beschrieben werden kann. Da gerade die Strömung[3] das ״Neue Hörspiel“ ״[...] den Eigenwert von Ton, Geräusch und Musik [...]“[4] in den Fokus rückt und somit eine gewisse Zielsetzung formuliert, ״[...] ein akustisches und kein literarisches Werk zu produzieren [.. .]“[5], wäre ein Großteil dieser Kunstform ad absurdum geführt, wolle man ihr den Begriff des Textes zuschreiben. Der Mehrwert des Beziehens der Textualitätskriterien auf das Hörspiel Fünf Mann Menschen ist demzufolge nicht das Feststellen einer gewissen Textualität, sondern das strukturierte Analysieren der Funktionalität verschiedener Ausdrucksmittel des Hörspiels unter besonderer Berücksichtigung ihrer Interaktion. Hierzu wurde das Hörspiel Fünf Mann Menschen ausgewählt, da es sich vieler verschiedener Codes bedient (Ton, Geräusch, Musik, Sprache), die innerhalb eines klar strukturierten szenischen Aufbaus gleichwertig[6] miteinander interagieren.

Innerhalb der Semiotik ist eine starke Tendenz zu beobachten, Texte als multikodale Kommunikate[7] aufzufassen und - losgelöst von binären Strukturen - ״[...] alle sinntragenden Elemente zu betrachten und miteinzubeziehen.“[8] Gert Kalow schrieb 1951 : ״Im Hörspiel spricht alles, was existiert, Sprache und Bild fallen zusammen, das Geräusch ist Sprache (akustisch manifestiertes Weltgeschehen), und die Sprache ist Geräusch.“[9] Ein Zitat, das mit dem semiotischen Anspruch harmoniert, alle Codes gleichermaßen zu berücksichtigen und ihnen in jedem Fall den gleichen Stellenwert beizumessen. Dieser Zugang zum Erfassen multikodaler Strukturen soll im folgenden Ansatz verwendet werden, um die Vielzahl der Ausdrucksmittel des Hörspiels Fünf Mann Menschen in ihrer Funktion beschreibbar zu machen. Eine Grundlage für das Herausstellen der Interaktion verschiedener Codes bilden die, von de Beaugrande/Dressler postulierten, Kriterien der Textualität[10].

Der Hauptteil dieser Arbeit ist so strukturiert, dass das jeweilige Textualitätskriterium zunächst erläutert wird, um es anschließend im wissenschaftlichen Diskurs zu betrachten, woraus sich Analysekriterien ergeben, mittels derer bestimmte Szenen des Hörspiels hinsichtlich des jeweiligen Textualitätskriteriums untersucht werden können. Hierbei ist deutlich zu machen, dass in einer vollständigen Analyse jedes Kriterium in jeder Szene untersucht werden müsste. Der folgende Ansatz hingegen stützt sich auf ausgewählte Szenen, um eine mögliche Vorgehensweise an diesen zu exemplifizieren. Sechs der sieben Textualitätskriterien werden auf diese Weise untersucht. Das Kriterium der Informativität kann ״[...] als Grad des Bezugs zum vorherigen Wissen des Rezipienten [... ]“[11] beschrieben werden. Die Subjektivität dieses Kriteriums und die Tatsache, dass es im wissenschaftlichen Diskurs häufig vernachlässigt wurde, begründen, warum es auch in dieser Arbeit nicht weiter berücksichtigt wird. Da auch das Kriterium der Akzeptabilität ein rezipientenbezogenes Kriterium ist, wurde eine Probandenbefragung durchgeführt, um überhaupt Aussagen über dieses Kriterium in Bezug auf das Hörspiel Fünf Mann Menschen treffen zu können.

Hierbei erscheint es grundsätzlich sinnvoll, Tendenzen empirischer Untersuchungen bei der Analyse von rezipientenbezogenen Kriterien zu berücksichtigen. Um anhand des akustischen Materials nachweisen zu können, dass bestimmte Techniken der Audiobearbeitung, die auf die Strömung das ״Neue Hörspiel“ hinweisen, angewendet wurden, war eine Auswertung des akustischen Materials notwendig. Mittels einer Frequenzanalyse bestimmter Sequenzen soll die Technik der Audiomontage sichtbar gemacht werden. Eine Auswertung der Schallanalyse soll die Anwendung weiterer Techniken der Audiobearbeitung belegen. Schließlich ist deutlich zu machen, dass die Untersuchungen der Textualitätskriterien bezogen auf das Hörspiel Fünf Mann Menschen einen experimentellen Charakter haben und somit keinen Anspruch auf einevollständige Analyse erheben.

2. Textualitätskriterien in Fünf Mann Menschen

Da das Hörspiel als akustisches Kommunikat untersucht werden soll, ist zu verdeutlichen, dass die Analyse der jeweiligen Codes auf der Grundlage der akustischen Rezeption basiert. Zwar ist eine Analyse sprachlicher Codes als schriftlich fixierte Elemente denkbar, jedoch würde ein solcher Ansatz keine Informationen zu den prosodischen Eigenschaften dieser Codes erfassen. Verweise auf das Transkript[12] des Hörspiels di enen somit lediglich der einheitlichen Orientierung, um signifikante Stellen innerhalb des Hörspiels lokalisieren zu können.

2.1. Kohäsion im Diskurs

Das erste Kriterium wollen wir KOHÄS1ON nennen. Es betrifft die Art, wie die Komponenten des OBERFLÄCHENTEXTES, d.h. die Worte, wie wir sie tatsächlich hören oder sehen, miteinander verbunden sind. Die Oberflächenkomponenten hängen durch grammatische Formen und Konventionen voneinander ab, so daß also Kohäsion auf < İR. ÌMM. VHS( 'HEN ABHÄNGIGKEITEN beruht.[13]

Gleichwohl eine relative Einigkeit darüber besteht, dass das Textualitätskriterium der Kohäsion kein defmitorisches Merkmal sei, gilt es doch als wichtiges Merkmal multikodaler Texte, da kohäsive Verstöße meist unmittelbar zu Beginn der Rezeption wahrgenommen werden und den ersten Eindruck des zu untersuchenden Gegenstandes generieren.[14] Beaugrande/Dressler stützen sich in ihrer Definition von Kohäsion primär auf den Aspekt der grammatischen Abhängigkeiten, ein Aspekt, der ein wichtiges Feld abdeckt, jedoch im Zuge des erweiterten-Textbegriffs[15] nicht mehr als alleiniges definitorisches Kriterium bestehen kann. Mittlerweile wird Kohäsion als Anzeiger von semantischen Relationen beschrieben.[16] Der Aufgabe des Anzeigens wird im Verlauf der multikodalen Untersuchungen, Erforschungen und Entwicklungen ein neuer Stellenwert zuteil: Die Rolle der Kohäsion im multikodalen Text ist das Bereitstellen von Verknüpfungshinweisen, die medienspezifisch durch verschiedene Codes realisiert werden können. Auf die Frage, welche Zeichen beispielsweise imBild-Textkommunikat hinsichtlich der Kohäsion operationalisiert werden können, muss man nun folgerichtig differenziert antworten und neben Aspekten der syntaktischen Korrektheit auch Indikatoren wie Farbe, Zeichentyp oder Stil, und folglich, bei Codes, die auf akustischen Signalen basieren, zusätzlich noch prosodische Elemente berücksichtigen.[17]

2.1.1. Kohäsion in akustischen Medien

Um Abschnitte oder Szenen des Hörspiels nach kohäsiven Strukturen zu untersuchen, könnte man sowohl mit dem Ansatz Dresslers/Beaugrandes Anknüpfungspunkte finden[18], als auch durch einen semiotisch-offeneren Ansatz, der beispielsweise durch Hartmut Stöckl vertreten wird.[19] Stöckl verweist bereits darauf, dass ״in Gesamttexten kontinuierlich mit Bild, Ton, paraverbalen Zeichen und Aspekten des Mediums, der Materialität und des raumzeitlichen Kontexts kooperiert [...]“[20] wird, was Hinweise darauf gibt, die Verwobenheit der verschiedenen Codes untersuchen zu müssen, um die Funktionalität und die Gänze des Kommunikats - im Hinblick auf das Erfüllen des Textualitätskriteriums der Kohäsion - erfassen zu können. Auf dieser Grundlage basieren viele Forschungsansätze zur prosodischen Kohärenz und Kohäsion, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, sodass die Verknüpfungen verschiedener Codes hervorgehoben werden können, die an einer kohäsiven Gestaltung des Hörspiels maßgeblich beteiligt sind. Logisch-stringent herausgearbeitete Komponenten der prosodischen Kohäsion sind beispielsweise der Satzakzent und die Pausenverteilung. Die Betonung, beziehungsweise die Melodieführung, die mit der Komponente des Satzakzentes einhergeht, ist Gegenstand mannigfaltiger Untersuchungen, doch soll diese im Folgenden lediglich als kohäsionsstiftendes Mittel untersucht werden. Dies geschieht durch das Herausstellen von sich ähnelnden oder gar identischen Melodieverläufen, Intonationssequenzen oder Betonungen. Außerdem zählt der Rhythmus zu den potentiell kohäsionsstiftenden Mitteln dazu.[21] Weitere Kriterien, die zum Zweck des Aufzeigens von Kohäsion in akustischen Kommunikaten berücksichtigt werden sollten, sind Lautstärke (Signalenergie), Sprechtempo (Laut- und Pausendauer) und der Reduktionsgrad, der von Peters durch Untersuchungen spektraler Eigenschaften näher beschrieben werden konnte.[22]

2.1.2. Kohäsive Aspekte in Fünf Mann Menschen

Um die kohäsiven Mittel des Hörspiels zu untersuchen, wird die zweite Szene fokussiert. Dabei ist die Passage des Sprechers in Abgrenzung zur restlichen Szene zu betrachten, da sich diese auf verschiedenen narrativen Ebenen befinden und aufgrund dessen unterschiedliche Analysemerkmale in den Vordergrund gerückt werden. Die Rolle des Sprechers hinsichtlich ihrer kohäsiven Eigenschaften zu untersuchen, bietet sich hierbei an, da man die Vielzahl an kohäsionsstiftenden Mitteln auf anschauliche Weise verwendet findet.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Sprechersequenz, Szene 2 aus Fünf Mann Menschen

Die oben angeführte Abbildung (Abb. 1) zeigt das Frequenzbild der sprachlichen Äußerung des Sprechers: ״Der Vater prüft den langen Bart; die Kinder sind heut‘ gut in Fahrt.“[23]

Zunächst kann man - sich auf Beaugrande/Dressler stützend - feststellen, dass ein korrekter syntaktischer Rahmen zugrunde liegt, was bereits auf einen Kern an Kohäsion verweist. Eine weitere kohäsive Rahmenbedingung ist dadurch gegeben, dass - im Gegensatz zu vielen anderen Stellen im Hörspiel - eine einheitliche Signalstärke vorliegt, was der Abbildung 1 deutlich zu entnehmen ist. Das Herausstellen der Sprecherrolle geschieht außerdem durch ein einheitliches, ruhiges Sprechtempo, das im Kontrast zum Gesamtkommunikat gesehen werden kann, da dieses sonst durch eine starke Variation der Signalstärke und der Artikulationsgeschwindigkeit geprägt ist. Dem schließt sich die stark ähnelnde, gar parallel verlaufende Melodieführung der beiden Konstituenten, ״der Vater prüft den langen Bart“[24] und ״die Kinder sind heut‘ gut in Fahrt“[25], an. Die Abbildung 1 visualisiert diesen Punkt und verweist darauf, wie exakt der nahezu identisch konzipierte Melodieverlauf hergestellt worden ist. Das soll an dieser Stelle noch einmal deutlich gemacht werden: Der maximale Ausschlag eines Frequenzabschnittes wird Amplitude genannt und verweist in diesem Fall auf den Hauptakzent des jeweiligen Wortes. Der erste Teil des Frequenzmusters verweist auf die Äußerung ״der Vater prüft den langen Bart“[26], worauf eine Pause folgt, an der der zweite Sprechakt ״die Kinder sind heut‘ gut in Fahrt“[27] anschließt. Vergleicht man nun das Frequenzbild beider Sprechakte, so zeichnet sich ab, dass jedes Wort nahezu identische Amplituden aufweist. Auch die Minimalauslenkungen, die auf die Pausen zwischen den Wörtern hinweisen, stimmen regelrecht überein. Auf der syntaktischen und prosodischen Ebene erscheint die Passage des Sprechers[28] somit als nahezu mustergültig kohäsiv. Jedoch befinden wir uns hierbei wohlbemerkt an der Textoberfläche und treffen damit noch keine inhaltlichen Aussagen.

Es bietet sich an, Szene 10 hinsichtlich der Kohäsion zu untersuchen, da sich ein Übergang von Kohäsion zu gewissen kohäsiven Brüchen erkennen lässt.

״Bitte setzen Sie sich hin.“[29]

Die sprachliche Äußerung des Richters erfolgt syntaktisch korrekt, die Intonation ist gleichmäßig sanft und die Artikulationsgeschwindigkeit ist vorerst konstant.

״Nun, diese kurze Zeit hätte ich auch Stehen können. Aber wenn Sie durchaus wollen, setze ich mich eben hin.“[30]

Die Äußerungen der fünf Männer sind ebenfalls syntaktisch korrekt konzipiert und weisen außerdem die üblichen kohäsionsstiftenden Merkmale der prosodischen Kohäsion auf.

Bis zum Erheben der Anklage liegt somit ein kohäsiver Rahmen vor, der die Äußerungen aller Sprecher an der Oberfläche verknüpft. Im Verlauf der Urteilsverkündung wird dieser kohäsive Rahmen gekippt, indem die Artikulationsgeschwindigkeit erheblich angehoben wird, sodass bereits ein unnatürlicher Höreindruck entsteht. Dem schließt sich eine überspitzt konfus-gebaute Syntax an (״[...] begangen haben werden könntet, begangen haben werden können hättet, [.. .]“[31] ), was den Grad der Kohäsion zum Ende der Szene schmälert. Schließlich lässt sich eine Verlaufskurve absteigender Kohäsion skizzieren, anhand jener beobachtbar[32] wird, welchen Effekt ein Mangel an Kohäsion auf ein mit akustischen Signalen arbeitendes Kommunikat haben kann.

Anhand der zweiten Szene lassen sich gleich mehrere Verstöße gegen eine kohäsive Kommunikation herausarbeiten. Gegen einen geordneten syntaktischen Rahmen sprechen elliptische Auslassungen (״mir auch einen“[33] ) und ein unabgeschlossener Satz (״Nun seid doch schon -“[34] ). Dem schließen sich Lautmalereien (״bummbummbumm“[35] ) und der, teilweise wahllos anmutende, Gebrauch einzelner Wörter (״Schießen, schießen, [... ]“[36] ) an. Das Herstellen von Kohäsion durch eine geregelte Signalstärke wird in dieser Szene ebenfalls nicht erfüllt, da die häufige Überlagerung der verschiedenen Stimmfrequenzen zu einer diskontinuierlichen Signalfrequenzmodulation führt. Die zweite Szene weist wenige Verknüpfungen an der Oberfläche auf und steht somit im Kontrast zu den kommunikativen Äußerungen des Sprechers, der die Szene einleitet.

Untersucht man das Hörspiel Fünf Mann Menschen hinsichtlich der Kohäsion, kann man also feststellen, dass durchaus mit kohäsiven Mittel gearbeitet wurde und längere, stringent-kohäsive Passagen Vorkommen. Jedoch kann ebenso aufgezeigt werden, dass auch Verstöße gegen kohäsive Grundsätze im Hörspiel realisiert werden. Dass teilweise fehlende Kohäsion nicht unmittelbar mit der Auflösung der kommunikativen Funktion des Kommunikats einhergehen muss, wird dadurch erklärt, dass erst die Interaktion zwischen Kohäsion und anderen Textualitätskriterien eine Kommunikation ermöglicht.[37] Dabei kann die Ausprägung einzelner Textualitätskriterien in den Hintergrund treten, wenn gleichzeitig andere Kriterien dominieren.[38] Viel wichtiger jedoch als die Feststellung, dass Kohäsion vorliegt, ist die Erkenntnis, dass die Interaktion verschiedener Codes zu einer kohäsiven Gestaltung führen kann. Hierbei können beispielsweise prosodische und syntaktische Gegebenheiten im Zusammenspiel einen kohäsiven Rahmen herstellen.

2.2. Kohärenz im Diskurs

Kohärenz betrifft die Funktionen, durch die Komponenten der TEXTWELT, d.h. die Konstellation von Konzepten (Begriffen) und RELATIONEN (Beziehungen), welche dem Oberflächentext zugrundeliegen, für einander gegenseitig zugänglich und relevant sind.[39]

Unstrittig ist, dass Kohärenz ein zentrales[40] Textualitätskriterium darstellt, da der Textcharakter eines Kommunikats durch das Vorhandensein von Kohärenz erhalten bleibt, selbst wenn alle anderen Kriterien nicht erfüllt sind.[41] Beaugrande/Dressler fügen ihrer Definition erläuternd hinzu, dass es sich bei Kohärenz um eine ״Gruppe von Relationen handelt, die unter dem Terminus Kausalität zusammengefasst werden“[42] können, was Sandig später als ״referentielle und semantische Beziehungen zwischen Text-Elementen“[43] beschreibt. Die enge Beziehung von Kohärenz zu den anderen Textualitätskriterien ist teilweise bereits per Definition evident: So beziehen sich Beaugrande/Dressler auf das Textualitätskriterium der Intentionalität, indem sie beschreiben, dass sich dieses Kriterium auf ״die Einstellung des Textproduzenten, der einen kohäsiven und kohärenten Text bilden will, um [...] ein in einem PLAN angegebenes ZIEL zu erreichen“[44] bezieht. Auch das Textualitätskriterium der Akzeptabilität ist unweigerlich an kohärente Strukturen gebunden, da es per Definition ״[...] die Einstellung des Textrezipienten betrifft, einen kohäsiven und kohärenten Text zu erwarten [...]“.[45] Folglich bildet die Kohärenz ein Kriterium, das in Wechselwirkung mit anderen Textualitätskriterien maßgeblich verantwortlich für die kommunikative Funktion eines multikodalen Kommunikats ist.

2.2.1. Kohärenz in akustischen Medien

Um Kohärenzstrukturen eines multikodalen Kommunikats, wie dem Hörspiel, aufzuzeigen, muss zunächst klar sein, was die kleinste Größe ist, von der ausgehend man umfassendere Rückschlüsse auf semantische Zusammenhänge ziehen kann.

Schulte-Sasse geht davon aus, dass Textabschnitten meist ein Sem[46] zugrunde liegt, das insofern eine Kernfunktion[47] innehat, als dass mehrere Worte, in unmittelbarer Umgebung des Sems, das Konzept dieses Sems untermauern. Ein Sem mit eben dieser Kernfunktion nennt er Klassem[48], was gleichbedeutend mit einem dominant gesetzten Sem ist. Das Auftauchen dominant gesetzter Seme in anderen Wörtern des Textes zählt Schulte-Sasse zu einer wichtigen Eigenschaft von kohärenten Texten. Wenn der Charakter eines dominant gesetzten Sems von anderen Wörtern wiederaufgenommen wird, so spricht Schulte-Sasse von dominant-rekurrenten Semen. Das Vorkommen von dominant-rekurrenten Semen definiert Schulte-Sasse als notwendiges Kriterium für das Vorhandensein von Kohärenz in Texten.[49]

Im folgenden Analyseansatz sollen eben jene Kohärenzstrukturen aufgezeigt werden. Wohlwissend, dass der Ansatz Schulte-Sasses zum Herausstellen von Kohärenz in Texten nicht ohne Weiteres auf ein akustisches Kommunikat angewendet werden kann, stellt sich die Frage nach der nötigen Modifikation des Ansatzes hinsichtlich der Berücksichtigung des - akustisch vorliegenden - Gegenstandes, dem Hörspiel Fünf Mann Menschen. Da dieser Analyseansatz auf dem Herausstellen bestimmter Seme basiert und ein Sem als minimale Bedeutungseinheit definiert ist, muss sichergestellt werden, dass alle bedeutungsstiftenden Codes berücksichtigt werden. Auch die Verwendung eines Geräusches im Hörspiel kann bedeutungsstiftend in Erscheinung treten. Dieses Vorgehen wird durch den aktualisierenden Charakter des Geräusches gestützt, was Stöckl als ״[...] Hinweise auf Objekte, Zustände und Handlungen (Geräusch), die durch Kontiguität oder Kausalität motiviert sind“[50] bezeichnet. In einem ähnlichen Kontext lässt sich die Zeichenmodalität Musik untersuchen, die zwar laut Stöckl ״[...] nicht - wie Sprache und Bild - denotieren kann [...]“[51], jedoch als sinnstiftend eingesetzt wird, um mittels Assoziationen auf Ereignisse oder thematische Strukturen zu verweisen.[52] Nun kann man sich Untersuchungen der Musik auf verschiedenen Ebenen nähern: Zum einen bietet die Musik mit ihren eigenen syntaktischen Reglementierungen ein komplexes System aus Pausen und Tönen, die sich beispielsweise zu größeren Einheiten wie Melodien zusammensetzen und durch Rhythmus und Tempo verschieden realisiert - und durch die Analyse der genannten Variablen dechiffriert werden können.[53] Ein anderer Ansatz ist das Untersuchen der unterschiedlichen Gestaltungsformen, die die Musik im Hörspiel einnehmen kann. Lädier bietet als Gestaltungsform unter anderem die Beziehungssetzung der Musik zum Text an, was beispielsweise illustrierenden oder ironisierenden Charakter haben kann.[54] Eine weitere Kategorie Ladlers ist der ״zeitliche Einsatz der Musik“[55], womit die Gliederung des Kommunikats durch Musik gemeint ist. Beispiele dafür sind ״ENTR‘ ACTE“[56] (Zwischenmusik) und einleitende oder beendende Musik.

2.2.2. Kohärente Strukturen in Fünf Mann Menschen

Der folgende Analyseansatz betrachtet Kohärenzstrukturen, die innerhalb des Hörspiels durch eine Verwobenheit bedeutungstragender[57], multimodaler Codes evoziert werden.

Szene 4 ״Kino“[58]: Sprecher: ״Der Junge wird zum Mann. Filme regen an.“

Der Sprecher gibt mit dem Lexem ״Filme“ bereits Aufschluss über das zugrundeliegende dominant-rekurrente Sem, das an dieser Stelle als [filmisch][59] festlegt wird. Die Bestätigung der These, dass [filmisch] in dieser Szene als dominant-rekurrentes Sem funktioniert, erfolgt dadurch, dass andere Lexeme oder Codes herausgestellt werden können, die auf das Sem [filmisch] rekurrieren. Diese, auf das Sem [filmisch] rekurrierenden, Codes finden sich unter anderem in der darauffolgenden Filmmusik und in dem dazugehörigen Filmtext. Vor dem Hintergrund, dass die Szene in einemKinosaal spielt, nimmt die Filmmusik dabei die Rolle der Inzidenzmusik an, da sie untrennbar mit der Handlungs situati on verbunden ist und aus dem Setting der Szene hervorgeht.

[...]


[1] Vgl. Robert de Beaugrande/Wolfgang и. Dressier: Einführung In die Textlinguistik. Berlin: De Gruyter 1981. Im Folgenden zitiert als: Beaugrande. Textualität.
Hierbei handelt es sich um den Ansatz, den Grad der Textualität eines kommunikativen Erzeugnisses über die Kriterien Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Informatlvltät, Sltuatlonalltät, Intertextualltät und Akzeptabilität zu bestimmen.

[2] Markus Nussbaumer: Was Texte sind und wie sie sein sollen. Berlin: De Gruyter 1991. s. 22 f.

[3] Mit dem Begriff Strömung soll auf bestimmte Tendenzen Im Hörspiel hingewiesen werden, deren Kernmerkmale im Folgenden erläutert werden.

[4] Vgl. Johann M. Kamps: Aspektedes Hörspiels. In: Tendenzen derdeutschen Gegenwartsliteratur. Koebner, Thomas (Hrsg.). Stuttgart: Kröner 1984. s. 25.

[5] Ebd. s. 25.

[6] An dieser Stelle sei der Eigenwert von Ton, Geräusch und Musik hervorgehoben. Danlchtmehrnur Sprache, sondern auch andere Codes übersemantische Inhalte verfügen, istdie Intera ktionder verschiedenen Codes ein zentraler Gegenstand der multikodalen Analyse.

[7] Vgl. Kirsten Adamzik: Textlinguistik. Tübingen: De Gruyter 2004. Adamzik schlägt vor, den Begriff ״Kommunikat“ zu verwenden, um zu verdeutlichen, dass die Frage, ob ein Text oder ein Nicht-Text vorliegt, keineswegs trennscharfzu beantworten ist.

[8] Ulla Fix: Text und Textlinguistik. In: Textlinguistik. Janich, Nina (Hrsg. ).Tübingen: Gunter Narr2008.s. 23 f.

[9] Eugen Kurt Fischer: Das Hörspiel. Stuttgart: Alfred Kröner 1964.

[10] Vgl. Beaugrande. Textualität. s. 124 f.

[11] Barbara Sandig: Text als prototypisches Konzept. In: Prototypentheorien in der Linguistik. Mangasser- Wahl, Martina (Hrsg.). Tübingen: Stauffenburg-Verlag 2000.

[12] Ernst Jandl: Hörspiele. In: Gesammelte Werke. Stücke und Prosa. Slblewskl, Klaus (Hrsg.). Frankfurt a.M.: Luchterhand 1990. Bd. 3. s. 24-39.

[13] Beaugrande. Textualität. s. 3 f.

[14] Vgl. Hartmut Stöckl: Werbekommunikation semiotisch. In: Handbuch Werbekommunikation. Janich,

Nina (Hrsg.). Tübingen: Narr Francke Attempto 2012. s. 244 f.

[15] Wenngleich auch heute noch vielerlei Diskussionen und Unklarheiten zum Thema Multikodalität bestehen, herrscht Konsens darüber, dass der Textbegriff nun nicht mehr als rein literarisch, sondern erweitert zu multikodal zu erfassen ist.

[16] Vgl. Michael Halliday/ Ruqaiya Hasan: Cohesion in English. Hoboken: Taylor and Francis 2014.

[17] Vgl. Karl Lädier: Hörspielforschung. Diss. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2001. s. 37.

[18] Natürlich kann man das Hörspiel Fünf Mann Menschen hinreichend aufsyntaktische Korrektheit überprüfen. Dieser Ansatz alleine würdedem aktuellen Forschungsstand der Multikodalität jedoch nicht gerecht werden, da man den akustischen Informationen des Hörspiels somit jegliche Verknüpfungsfunktion absprechen würde.

[19] Vgl. Hartmut Stöckl: Werbekommunikation semiotisch. In: Handbuch Werbekommunikation. Janich,

Nina (Hrsg.). Tübingen: Narr Francke Attempto 2012.

[20] Ebd. s. 243.

[21] Christel Brindöpke: Prosodische Kohäsion. In: Kohärenzprozesse. Rickheit, Gert (Hrsg.). Wiesbaden:

Verlag für Sozialwissenschaften 1991.

[22] Benno Peters: Form und Funktion prosodischer Grenzen im Gespräch. Kiel: SVH-Verlag 2006. Auch Amelie Hauptstock erarbeitet in ihrer Veröffentlichung ״Prosodie in Alltagserzählungen. Zur Konstitution von kohäsiven Einheiten“ einen Ansatz zum Zweck des Herausarbeitens von Kohäsion in akustischen Kommunikaten, indem sie postuliert, dass ״auf prosodischer/phonologischer Ebene lokale und globale Tonhöhenbewegungen, Lautstärke und Geschwindigkeit untersucht werden müssten.

[23] Ernst Jandl/Friederike Mayröcker/Peter Michel Ladiges: Fünf Mann Menschen. Südwestfunk 1968. An dieser Stelle sei deutlich gemacht, dass sich hierbei aufdas akustisch vorliegende Kommunikat bezogen wird. Das akustische Kommunikat soll für diese Untersuchung in klarer Abgrenzung zum Transkript des Hörspiels gesehen werden.

[24] Ebd.

[25] Ebd.

[26] Ebd.

[27] Ebd.

[28] Die Analysearbeit des Auftritts des Sprechers ist nahezu analog zu den nachfolgenden Auftritten. Aus diesem Grund beziehe Ich mich In den folgenden Szenen nur noch auf das szeneninterne Geschehen unter Ausschluss derSprechersequenzen.

[29] Ernst Jandl/ Friederike Mayröcker/ Peter Michel Ladiges: Fünf Mann Menschen. Südwestfunk 1968.

[30] Ebd.

[31] Ebd.

[32] Anhand einertatsächlich erstellten, absteigenden Kurvewärederslnkende Kohäsionsgrad sichtbar, jedoch müsste man, wolle man sich exakter ausd rücken, beschreiben, dass der Effekt hörbar wäre.
Weitere Untersuchungen dazu werden unter dem Punkt der Akzeptabilität angeschnitten.

[33] Ernst Jandl/ Friederike Mayröcker/ Peter Michel Ladiges: Fünf Mann Menschen. Südwestfunk 1968.

[34] Ebd.

[35] Ebd.

[36] Ebd.

[37] Barbara Sandig: T ext als prototyplsches Konzept. In: Prototypentheorien In der Linguistik. Mangasser- Wahl, Martina (Hrsg.). Tübingen: Stauffenburg-Verlag 2000. s. 95 f.

[38] Vgl. Beaugrande. Textualität. s. 4.

[39] Beaugrande. Textualität. s. 5.

[40] Heinz Vater: Einführung in die Textlinguistik. München: Niemeyer 1992. Vater benennt die Kohärenz als ״dominierendes Textualitäts-Kriterium“.

[41] Vgl. Barbara Sandig: T ext als prototypisches Konzept. In: Prototypentheorien inder Linguistik. Mangasser-Wahl, Martina (Hrsg.). Tübingen: Stauffenburg-Verlag 2000. s. 95f.

[42] Beaugrande. Textualität. s. 5.

[43] Barbara Sandig: T ext als prototypisches Konzept. In: Prototypentheorien in der Linguistik. Mangasser- Wahl, Martina (Hrsg.). Tübingen: Stauffenburg-Verlag 2000. s. 95.

[44] Beaugrande. Textualität. s. 8.

[45] Ebd. s. 9.

[46] Das Konzept ״Sem“ bezeichnet hier eine minimale Bedeutungseinheit, die Teil der Metasprache ist.

[47] Seme mit einer Kernfunktion nennt Schulte-Sasse ״kontextuelle Seme“ oder ״Klasserne“.

[48] Die Terminologie erscheint verwirrend, da Klasserne bereits alsdurch den Kontext aktualisierte Seme definiert wurden. An dieser stelle sind damit dominant-gesetzte Seme gemeint.

[49] Vgl. Jochen Schulte-Sasse/ Renate Werner: Einführung in die Literaturwissenschaft. München: w. Fink 2001.

[50] Hartmut Stöckl; Nina-Maria Klug: Handbuch Sprache Im multimodalen Kontext. Berlin: De Gruyter 2016. s.144.

[51] Ebd

[52] Stöckl fügt noch an, dass musikalische Strukturen als assoziative Verweise auf Bewusstseinsinhalte verwendet werden können.

[53] Vgl. Hartmut stöckl; Nina-Maria Klug: Handbuch Sprache im multimodalen Kontext. Berlin: De Gruyter 2016.

[54] Vgl. Karl Lädier: Hörsplelforschung. Dlss. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2001. Genannt seien hiernurzwei Kategorien Ladlers,die inderfolgenden AnalysezumTragen kommen. Lädier postuliert in seiner Dissertation allerdings noch weitere Kategorien, die verschiedene Bezügezwischen der Musik und dem restlichen Hörspiel aufzeigen.

[55] Ebd.

[56] Ebd. s. 39 f.

[57] Da Stöckl der Musik und dem Geräusch kein autonomes semantisches Volumen zuspricht, müsste man hier neben den ״bedeutungstragenden Codes“ noch den Begriff der auf Bedeutung verweisenden Codes anbieten.

[58] Emst Jandl: Hörspiele. In: Gesammelte Werke. Stücke und Prosa. Slblewskl, Klaus (Hrsg.). Frankfurt a.M.: Luchterhand 1990. Bd. 3. s. 26 f.

[59] Die Seme Stehen Im Folgenden In eckigen Klammern, um anzuzeigen, dass es sich hierbei um Begriffe der Meta- und nicht der Objektsprache handelt.

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Physik in der Linguistik. Semiotik akustischer Medien anhand von Ernst Jandls Hörspiel "Fünf Mann Menschen"
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Neuere deutsche Literaturwissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
45
Katalognummer
V439295
ISBN (eBook)
9783668790056
ISBN (Buch)
9783668790063
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Textualitätskriterien, Semiotik, akustische Medien, Ernst Jandl, Fünf Mann Menschen, Physik, Linguistik, Textualität, Morris Gellisch
Arbeit zitieren
Morris Gellisch (Autor:in), 2017, Physik in der Linguistik. Semiotik akustischer Medien anhand von Ernst Jandls Hörspiel "Fünf Mann Menschen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/439295

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